15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Bemerkungen

Wahlarithmetik

Franz Walter ist Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen und als solcher ein bekannter Parteienforscher. Seiner Analyse der NRW-Wahlen ist ein Fokus zu verdanken, unter dem Wahlergebnisse leider nur selten betrachtet und bewertet werden: Die Relation der Stimmen pro Partei zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten, von denen in NRW ja nicht einmal 60 Prozent an die Urnen gegangen sind. Welche Partei wie viel Vertrauen des gesamten Wahlvolkes besitzt und dank wessen Votum sie die jeweiligen Landeskinder repräsentiert und regiert, macht aber halt wirklich nur dieser erweiterte Blick sichtbar. Und, so rechnet also Franz Walter vor, hat Hannelore Krafts SPD letztlich ganze 25 Prozent der möglichen Stimmen jener 13,2 Millionen erhalten, die NRW-CDU gar lediglich 15,5 Prozent.
Sieht man von ihrer Mitschuld an Politikverdruss und Wahlmüdigkeit der Stimmbürger ab, ist den Parteien nun freilich nicht vorzuwerfen, dass sie auf die relativen Mehrheiten zurückgreifen, wie sich diese aus den jeweiligen Wahlergebnissen ergeben. Welch hohles Geschwätz allerdings die immer gleichen Posaunenrufe der Sieger vom „klaren Mandat für einen Regierungsauftrag“ darstellen, gehört aber mindestens ebenso angemerkt. Den realen Bedarf des NRW-Wahlvolkes an der triumphierenden 8,5-Prozent-FDP auf alle Wahlberechtigten herunter zu rechnen, mag ein jeder gern selbst tun …

HWK

Es war einmal ein Sport …

„Der Schiedsrichter hat das Spiel, wie er sich geäußert hat, wieder angepfiffen und dann korrekt abgepfiffen. Es ging beim Platzsturm nicht um Gewalt, sondern um Freude. Das ist natürlich keine Entschuldigung. Das Wort Gewalt will ich aber in diesem Zusammenhang nicht angewendet haben.“ Chapeau, Wolf Werner, Manager von Fortuna Düsseldorf, dem wir diese treffliche Analyse der Düsseldorfer Vorgänge verdanken, bei denen es der Sage nach um Fußball gegangen sein soll.
Es ist genau diese Denkweise, die aus der einstigen Sportart Fußball das gemacht hat, was wir nun Jahr für Jahr erleben: Tumbes Gejohle (im harmlosesten Falle) von Figuren, die unter dem Deckmantel einer „Fußballbegeisterung“ viel mehr auf Randale, Körperverletzung und Zerstörung denn auf Sport setzen, von den eilfertigen Medien aber noch immer liebevoll „Fans“ genannt werden, die doch halt nur ihren Klubs beistehen und „feiern“, sprich saufen und animalisch oder quasifaschistisch, was so ziemlich dasselbe ist, grölen. Dass heute die Mehrzahl der Fußballspiele – bis in die unteren Klassen hinab – von einem in der Regel üppigen Polizeiaufgebot begleitet werden muss, um leidlich gefahrlos für Leib und Gut über die Bühne zu gehen, gilt mittlerweile schon als normal und nicht mehr der Rede wert. Das Wort Gewalt, – gewiss, lieber Herr Werner –, ist laut Ihnen aber fehl am Platze. Alles nur Glückseligkeit, Fröhlichkeit und sportliche Leidenschaft; ei freilich, man darf halt nur keine altmodischen Vorstellungen von diesen Begriffen haben. Auch Ihr Trainer, Norbert Meier, wusste nur von glänzenden Augen derer zu berichten, die das Spielfeld stürmten und schon begannen, den Rasen zu zerlegen.
Kabarettist Georg Schramm hat es sinngemäß mal so auf den Punkt gebracht: Die Ergebnisse der Fußballspiele interessieren mich nicht mehr, nur, ob es Tote gegeben hat. Sie, verehrter Manager, und Ihre Kollegen interessiert letztlich nur eines: Wie sich mit der Fußballindustrie so viel Geld wie möglich machen lässt. Und solange Sie dafür auch all die zahlenden Idioten brauchen, die vor allem das mediale Umfeld des Fußballs, nicht zuletzt eigener Quoten und Umsätze wegen, heranzieht, werden Sie einen Teufel tun und Konsequenzen außer solchen ziehen, die dann wieder der Steuerzahler zu berappen hat. Fortunas Sportdirektor Klaus Allofs, wusste ja auch gleich, was zu tun ist. „Gott sei Dank ist es gut ausgegangen. Da müssen künftig noch neue Sicherheitskonzepte überlegt werden.“
Neue Sicherheitskonzepte also, statt dem endlos und immer mehr Wasser heranschleppenden Zauberbesen das Handwerk zu legen. Vielleicht sollte man in jedem Stadion einen Altar einrichten, um den zitierten Gott um das Ausbleiben von Toten anzubeten. Am besten mit Menschenopfern.

Helge Jürgs

Jüdische Orte in Thessaloniki

„Als im Jahre 1912 Thessaloniki an den griechischen Staat angeschlossen wurde, bildeten die Juden die bevölkerungsstärkste Gemeinschaft der Stadt, die über ein für die damalige Zeit beneidenswertes wirtschaftliches, kulturelles und soziales Niveau verfügte. Mit anderen Worten: das geistige Fundament der Stadt wurde in entscheidender Weise durch ihre Präsenz geprägt.“ (Anastassis Vistonitis, Die Sonnenblumen der Juden, Köln 2006). Auch das heutige Stadtbild schmücken nicht allein historische Bauwerke wie zum Beispiel der Weiße Turm, der Triumphbogen des Galerius, Kirchen aus byzantinischer sowie umfunktionierte Moscheen und Bäder aus türkischer Zeit. Welche repräsentativen Zeugnisse jüdischer Architektur zur Stadt am Thermaїschen Golf prägend dazugehören, wird jetzt von zwei bestens ausgewiesenen Expertinnen (Rena Molho, Professorin für Geschichte der jüdischen Griechen an der Pantios-Universität Athen, und Vilma Hastaoglou-Martinidis, Professorin für Architekturgeschichte an der Aristoteles Universität Thessaloniki) vor Augen gestellt. In komprimierter Darstellung bieten sie einen geschichtlichen Überblick, Biografien herausragender Persönlichkeiten und – im Hauptteil des Büchleins – die Beschreibung markanter Kult-, Wirkungs- und Wohnstätten der jüdischen Gemeinde. Im abgedruckten Stadtplan ist mit Nummern markiert, wo sich die abgebildeten Bauwerke auffinden lassen. Das drängt die „makabre Wissenschaft der Nummern“, von der Primo Levi in Ist das ein Mensch? spricht, zwar nicht in den Hintergrund. Wer in Auschwitz eine 116.000er oder 117.000er Nummer trug, war – woran Levi erinnert – ein Saloniki-Grieche. Aber diese Publikation zeigt eindrucksvoll, dass „die Gemeinde der Stadt wieder Großes schafft“, wie David Saltiel, der Präsident der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki, in seinem Vorwort feststellen kann.

Horst Möller

Rena Molho und Vilma Hastaoglou-Martinidis: Jüdische Orte in Thessaloniki. Ein historischer Rundgang (mit Stadtplan). Lycabettus Press – Romiosini Verlag, Köln und Athen  2011, 88 S., 15,80 Euro

Im Fall von Wende anders’rum:
„Wer zuviel spart, den bestraft das Leben“

Das von der Volkskammer der DDR beschlossene Ausgabenpaket für das Jahr 2012 ist überall in unserem Land auf begeisterte Zustimmung gestoßen. Werktätige in den alten wie neuen DDR-Bezirken begrüßen vor allem die Unnachgiebigkeit, mit der sich die Parlamentarier angeblichen „Sparzwängen“ widersetzt und neuerlich unbeirrt am bewährten Kurs zum stetig wachsenden Wohlsein des Volkes festgehalten haben.
Spontane Volksfeste überall – Wie schon in den Vorjahren haben auch heuer wieder Millionen Menschen mit ausgelassener Freude den neuen Haushaltsplan unseres Staates gefeiert, nachdem Volkskammerpräsident Egon Krenz mit den scherzhaften Worten „O’zapft wird“ das einstimmig angenommene Ausgabenpaket symbolisch der von ihm geführten Regierung anvertraut hatte. Bis weit nach Mitternacht lagen sich von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen einander unbekannte Menschen jubelnd und weinend in den Armen. Aus öffentlichen Verkehrsmitteln wie privaten PKW wurden DDR- und SED-Fahnen geschwenkt und Finger zum Victory-Zeichen gespreizt; manch Flasche Pfefferminzlikör und Aubi machte – freilich maßvoll – die Runde. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, erklang es aus tausenden Kehlen und in allen Dialekten unseres Landes.In ersten Stellungnahmen betonen Arbeitskollektive, Hausgemeinschaften und sozialistische Einzelmenschen vor allem ihre Genugtuung darüber, dass jenen so genannten Wissenschaftlern und selbsternannten Experten im kapitalistischen Ausland eine neuerliche Abfuhr erteilt wurde, die unentwegt einer rigiden Sparpolitik das Wort reden, mit der im Herrschaftsbereich des Kapitals das ohnehin kümmerliche Lebensniveau des werktätigen Volkes systematisch weiter abgesenkt wird. „Wer zu viel spart, den bestraft das Leben“, wird in den Telegrammen an das ZK der SED und seinen Generalsekretär, Egon Krenz denn auch immer wieder betont. Und FDJler aus den neuen DDR-Bezirken bringen ihre Überzeugung auf einen herzerfrischend jugendlichen Nenner: „Das ist voll coole Arbeiterpolitik!“
„Jetzt geht’s lohos“ – lautet denn auch der viel skandierte Schlachtruf, mit dem die Arbeitskollektive zwischen Aachen und Frankfurt/Oder, die ihr betriebliches Plansylvester in der Regel schon vor einigen Monaten feiern konnten, sowohl ans Ausgeben der Haushaltsmilliarden als auch an die Erwirtschaftung neuer Mittel gehen. Die zahlreichen neuen Wettbewerbsinitiativen eint ein Grundgedanke: „Höher unsere Ein- und Ausgaben – jetzt erst recht!“

Heinz W. Konrad

Reflexionen

Der Mensch ist vielerlei. Aber vernünftig ist er nicht.

In der Wahl seiner Feinde kann man gar nicht vorsichtig genug sein

Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.

Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht

Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.

Mensch: ein vernunftbegabtes Wesen, das immer dann die Ruhe verliert, wenn von ihm verlangt wird, dass es nach Vernunftgesetzen handeln soll.

Die Erfahrung hat keinerlei ethischen Wert. Sie ist nur ein Name, den die Menschen ihren Irrtümern verleihen.

Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengungen, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.

Nur Persönlichkeiten bewegen die Welt, niemals Prinzipien.

Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur meine Erfahrungen, was allerdings ungefähr auf dasselbe hinauskommt.

Vergib stets deinen Feinden. Nichts ärgert sie so.

Viele Menschen sind zu gut erzogen, um mit vollem Mund zu sprechen, aber sie haben keine Bedenken, es mit leerem Kopf zu tun

Der Wert eines Gedankens hängt nicht von der Integrität dessen ab, der ihn ausdrückt

Es gibt keine Sünde außer der Dummheit.

Wir leben in einem Zeitalter der Überarbeitung und der Unterbildung, in einem Zeitalter, in dem die Menschen so fleißig sind, dass sie verdummen.

Man kann alles begründen – selbst die Wahrheit.

Ich bin nicht mehr jung genug, um alles zu wissen.

Oscar Wilde