14. Jahrgang | Sonderausgabe | 21. Mai 2012

Barbarische Blockade

von Alfons Markuske

Unter den von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen zahllosen barbarischen Verbrechen ragen gleichwohl einige besonders hervor. Dazu zählt – neben der industriellen Vernichtung der europäischen Juden, der systematischen Ermordung von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener und anderen Gräueltaten – auch die Blockade von Leningrad. Sie dauerte fast 900 Tage – vom September 1941 bis zum Januar 1944 – und war von Hitler mit dem ausdrücklichen Ziel angeordnet worden, die Stadt vor ihrer Eroberung auszuhungern und die „Wiege der russischen Revolution“ danach dem Erdboden gleichzumachen. Obwohl die Angaben der in dieser Zeit zu Tode gekommenen Zivilisten zwischen 650.000 und 800.000 schwanken, liegt selbst die niedrigere Ziffer um ein Mehrfaches über den Opferzahlen von Hiroshima und Nagasaki zusammen genommen. Die meisten Opfer in Leningrad gab es binnen weniger Monate – zwischen Dezember 1941 und Juni 1942 –, nämlich fast eine halbe Million, und die allermeisten davon verhungerten. Insgesamt verlor die Stadt während der Blockade zwischen einem Viertel und einem Drittel ihrer Vorkriegsbevölkerung. Und während entsprechend interessierte Kreise in Deutschland bis in die Gegenwart hinein immer wieder versuchen, die Wehrmacht als „ehrenhaft im Felde“ gegenüber den Verbrechen der SS darzustellen, müssen diese Weißwäscher im Falle Leningrads auf das Vergessen der Menschen setzen, denn die Blockade in ihrer Umsetzung war praktisch allein ein Werk der Wehrmacht und ihrer Führung.
Die Tragödie Leningrads ist vom Spiegel einmal „der andere Holocaust“ genannt worden. Ihr Ausmaß, an dem auch die damalige sowjetische Führung eine Teilschuld trug, ist bereits während des Krieges und solange Stalin lebte verschleiert und auch danach nie, nicht zu sowjetischen Zeiten und nicht bis heute, in angemessener Weise öffentlich thematisiert und gewürdigt worden. Selbst Alexanders Tschakowskis beeindruckendes dreibändiges Epos „Die Blockade“, erschienen ab 1969, fokussiert auf den Heroismus der Verteidiger und der Bevölkerung, blendet jedoch die Alltäglichkeit des Hungertodes und die daraus zwangsläufig folgende Entmenschlichung des Alltagslebens weitgehend sowie die zum Teil katastrophalen Fehler der politischen und militärischen Führung in Moskau und vor Ort vor dem und während des Geschehens vollständig aus.
Eine erste umfassende, auf überwiegend erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglichen gewordenen Quellen fußende Darstellung vorgelegt zu haben, ist das Verdienst der britischen Journalistin und Expertin für osteuropäische Geschichte, Anna Reid.
Zum verbrecherischen deutschen Agieren arbeitet die Autorin heraus: „In den drei […] Wintern verfolgte die Wehrmacht eine klassische Belagerungsstrategie, indem sie Bewegungen von Menschen und Gütern in die Stadt und aus ihr heraus so gut wie möglich verhinderte und Luft- und Bodenbombardements einsetzte, um Lebensmittelvorräte, Versorgungsunternehmen, Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Wohngebäude zu demolieren. (‚Besonders kommt es darauf an’, hieß es in einer Führeranweisung kurz vor den ersten Luftangriffen, ‚die Wasserwerke zu zerstören.’) Die Hungersnot war keinesfalls ein unerwartetes […] Nebenprodukt dieser Strategie, sondern ihr Hauptbestandteil, der in Planungsdokumenten immer wieder gebilligt und von der Militäraufklärung mit großem Interesse verfolgt wurde.“
Zur sowjetischen Teilverantwortung für die Höhe der Opferzahlen macht Reid deutlich, dass es ihr nicht um eine antikommunistisch-propagandistische, sondern um eine auf belegbaren Fakten fußende Bewertung geht. Sie schreibt: „In diesem Buch soll nicht der Standpunkt vertreten werden, dass Stalin im selben Maße wie Hitler die Schuld an der Hungersnot getragen habe. Allerdings ist auch festzustellen, dass die Zahl der zivilen und militärischen Todesopfer unter einer anderen Regierung viel niedriger hätte ausfallen können.“
Die letztere These ist durch die Geschichte und auch in Reids Buch vielfach belegt. Stalins Ausrottung fast des gesamten oberen und mittleren Führungskaders der Roten Armee in der zweiten Hälfte der 30er Jahre trug in erheblichem Maße dazu bei, dass das Land zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls im Juni 1941 nur sehr unzureichend auf einen Krieg vorbereitet war, und Stalins Unglaube an einen Angriff schon 1941 verhinderte eine Intensivierung der Verteidigungsvorkehrungen zusätzlich. Hinzu kamen unzureichende und zum Teil falsche Evakuierungsmaßnahmen. Reid urteilt: „Die überschüssige Bevölkerung nicht aus Leningrad hinauszuschaffen, bevor sich der Belagerungsring schloss, war einer der schlimmsten Fehler des Sowjetregimes in Kriegszeiten.“ Nur knapp 640.000 Menschen waren bis 29. August 1941, als der letzte Zug die Stadt verließ, evakuiert worden. Reid verweist zum Vergleich auf die 660.000 Bewohner Londons, die man allein in den ersten 14 Tagen nach der britischen Kriegserklärung vom September 1939 ausgesiedelt hatte. In Leningrad befanden sich, als der Ring sich schloss, noch über 2,5 Millionen Zivilisten. Katastrophal war auch, dass viele Tausend Kinder zuvor in Gebiete des deutschen Vormarsches „in Sicherheit“ gebracht worden waren.
Die Versorgungslage in der Stadt, die rasch unter allgemeinem Mangel und völlig unzureichender Versorgung von außen litt, wurde überdies durch eklatante administrative Mängel verschärft: „Am offenkundigsten war das Versäumnis der Behörden, die Lebensmittellager über die Stadt zu verteilen und dadurch das Risiko von Luftangriffen zu verringern.“ Ein vernichtender Angriff vom 8. September auf ein zentrales Großlager „gilt immer noch als Auslöser des schnellen Abgleitens in die Hungersnot“. Eine Versorgungsluftbrücke ist übrigens während der gesamten Blockade „anscheinend nie in Erwägung gezogen worden“.
Am erschütternsten ist Reids Darstellung dort, wo sie die Tragödie anhand konkreter Schicksale der Bevölkerung – überwiegend gestützt auf persönliche Tagebücher – lebendig werden lässt.  Die Autorin fasst zusammen: „Vielleicht noch trauriger als der körperliche Zusammenbruch war die Art, wie der Hunger Persönlichkeiten und Beziehungen zerstörte. Zunehmend von dem Gedanken an Lebensmittel beherrscht, verloren Individuen allmählich das Interesse an der Umwelt und, im Extremfall, an allem außer dem Bemühen, etwas Essbares zu finden. […] Genauso verkümmerten die Emotionen innerhalb von Familien. Der Tod der geliebten Ehemänner oder Eltern weckte bloß noch die Erleichterung über eine zusätzliche Lebensmittelkarte und dazu die Sorge, wie man sich der Leiche entledigen sollte.“
Weitgehend ausgeklammert aus der unzureichenden offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung zur Leningrader Blockade blieb auch das Kapitel Kriminalität, dessen sich Reid ebenfalls annimmt. Sie macht dabei keinen Bogen um dessen schlimmsten Aspekt, Kannibalismus. Das, wie sie schreibt, „berüchtigste Verbrechen der Belagerungszeit – und das bezeichnendste für die Verzweiflung der Leningrader“.
Die Hauptgedenkstätte für die Blockade Leningrads ist heute der Piskarjowskoje-Friedhof im Nordosten der Stadt. „Wie alle derartigen Stätten“, so hält die Autorin fest, wird auch dieser „Friedhof den Ansprüchen nicht gerecht. Statuen, Landschaftsgärtnerei, Dichtung – nichts davon kann das ausdrücken, was über die Tragödie der Leningrader Dimension gesagt und empfunden werden sollte.“

P.S. (nicht zum Buch, aber als Statement des Rezensenten): Wer heute unter Ausblendung der Tragödie von Leningrad und all der anderen von Deutschen und ihren Verbündeten in der Sowjetunion und an deren Bevölkerung begangenen Verbrechen etwa das Thema „Beutekunst in russischen Depots“ immer noch mit Rückgabeforderungen verbindet, statt zu sagen: „Wir können nichts von dem, was unsere Väter und Großväter verbrochen haben, ungeschehen machen, aber als kleine Geste der Wiedergutmachung, wie unzureichend sie auch sei, verzichten wir auf alle bisher nicht restituierten Kunstwerke.“ – dem fehlt das, was man Mitgefühl, historisches Verantwortungsbewusstsein und menschlichen Anstand nennt.

Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941-1944, Bloomsbury Verlag, Berlin 2011, 587 Seiten, 34,- Euro