14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Eine Theatersommerreise – Wien, Worms, Weimar

von Reinhard Wengierek

Wien: Die Festwochen

Hier gibt es noch, was wir in Berlin einst hatten: Die alle zwei Wochen neu an die Anschlagsäulen geklebte Tabelle mit dem Spielplan der Wiener Theater; daneben wuchtige Plakate für Premieren. Auf Goldpapier wirbt der Musikverein, obgleich die Konzerte ausverkauft sind; so nämlich sind sie nicht nur präsent im überraschend blassen Wiener Feuilleton (das aus Deutschland steht hier entsprechend hoch im Kurs). Und dann die spektakulär formatierte Ausstellungsreklame: Gegenwärtig beherrscht Quadratmeter groß eine Urgöttin des Hofburgtheaters die gleißend aufpolierte, nachts märchenhaft illuminierte alte Kaiserstadt: Charlotte Wolter, tief dekolletiert und üppig kostümiert anno 1875; die Monumentalvergrößerung eines prunkvollen Gemäldes.
Es ist von Johann Ferdinand Apolinaris Makart, dem Sohn eines Lakaien von Schloss Mirabell, der rasend aufstieg zum stilbildenden, Epoche machenden Malerfürsten. Seinerzeit eine Weltberühmtheit, ein genialer Fantast und märchenhafter Meister früher Eventkultur. Ein exzentrischer Modezar, Salonlöwe und skandalumwitterter Superstar (kesse Models) mit perfekter Selbstinszenierung und Vermarktung. Ein wie am Fließband produzierender Gesamtkunstwerker – von der Galakleidung bis zur kompletten Raumausstattung. Anselm Feuerbach lästerte neidisch über den Kollegen als „diarrhoeartigen Produzenten in asiatischer Trödelbude“; hatte ihm doch der Kaiser eine üppige Fünfraumwohnung spendiert nebst Luxusatelier – die angesagteste Location für rauschhafte VIP-Partys.
Jetzt endlich spendiert Wien seiner von der Moderne in blöder Missachtung versenkte Berühmtheit gleich zwei tolle Ausstellungen. Sagenhafter Bombast und perfekte Finesse von früher faszinieren wieder – erst recht im Kontrast zum anämischen Avantgarde-Gerümpel heutzutage.
Solch verwegen Altes begeistert letztlich mehr als das mit weitaus weniger verwegen Neuem gespickte Großspektakel Wiener Festwochen. Eine Nachkriegsgründung, um der traditionsreichen Hochkulturmetropole frischen Glanz zu geben. Anfangs protzte man mit Goldkehlen der Oper, mittlerweile dominiert – als Reflex gegen das geschmäht Repräsentative – das Schauspiel in seinen vermeintlich neutönerischen Ausformungen. Man kann es so sagen: Was in Berlin schon bis zum Überdruss feilgeboten wird im „HAU“, in den Sophiensälen, in den Ballhäusern Naunynstraße und Ost, den Studios von Gorki, Deutschem Theater, Schaubühne, das kreist im alljährlichen Festwochen-Wien. Kuratoren durchschweifen emsig (Riesen-Reiseetat) die deutschsprachige Szene sowie die des gern östlichen Europas und ordern offensichtlich frei von Geldsorgen rasend zeitgenössische, interkulturelle Projekte.
Den Festivaldirektor, einer der weltweit wohl höchstdotierten Posten im Kulturbetrieb, auf dem seit 15 Jahren der Regisseur Luc Bondy thront, interessiert allerdings sein Luxusladen eher wenig. Er lässt die Mitarbeiter ackern, das Konto ticken und ist kaum anwesend. Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, wenn der 63-Jährige nächstens nach Paris geht ans Europa-Theater Odeon. Seine Nachfolger in Wien werden der österreichische Pianist und Kulturmanager Markus Hinterhäuser (52), verantwortlich für die bislang eher vernachlässigten Bereiche Musik (Primadonnen- und Pultgigantenpflege) und „Großes Stadttheater“, sowie die Berlinerin Shermin Langhoff (42) vom „postmigrantischen“ Ballhaus Naunynstraße, verantwortlich für die unendlich weiten Bezirke grenzüberschreitendes Off-Theater und, wie es heißt, intellektuelle Avantgarde.
So genanntes großes Stadttheater lieferte Festwochen-Wien heuer zweifach: Luc Bondys Import seiner vor zwei Jahren in Lausanne herausgekommenen Inszenierung von Ionescos „Die Stühle“. Zwei Greise aus Absurdistan wabern in diesem Endspiel um menschlichen Verfall und philosophisch letzte Dinge, was so zart herzzerreißend wie drastisch komisch als wahrlich tragische Farce altmeisterlich in Szene gesetzt wurde – mit den beiden Seelen-Aufreißern und Körper-Artisten Dominique Reymond und Micha Lescot.
Dazu durchaus passend das zweite große Wiener Theaterding (ab 30. September in der Volksbühne Berlin!): Dostojewskis manisch-depressive Menschendämmerung „Der Spieler“, inszeniert von Frank Castorf. Ein lebensgroßes Krokodil, das als verkleideter Raubtierkapitalismus Menschen verschlingt oder aber lieb mit den Kulleraugen rollt, ist einer der Hingucker dieser an zirzensischen Attraktionen reichen Irrsinns-Revue mit Fetzen des russischen Spielsucht-, Lebensgier- und Todesverachtung-Romans. Aber Heiner Müllers fortschrittspessimistischer „Auftrag“, die Bibel, Kartoffeln, die Rolling Stones und eine Riesenschildkröte, die über Stöckchen springt, kommen auch vor in „Franks geschraubtem Schulbubenstreich“, wie der zwischen Wahnsinns-Dampf und Depri-Blues torkelnde Schauspieler Alexander Scheer nebenbei bemerkt. Er macht ganz groß den kleinen Oberzocker Alexej, den elenden Vergeblichkeitsliebhaber von Kathrin Angerer, der hartleibig-weichen, süß-sauren Domina Polina – sie sind das verführerischste Sado-Maso-Doppel, das je gesehen ward.
Doch die lebenspralle, zwischen Besoffenheit, Sentimentalität, Wahn, Wut und Ernüchterung schwankende Sucht- und Sehnsuchtsstory eines Getriebenen-Kollektivs verliert sich immerzu in der freilich bravourös Stimmband-artistischen und Knochen-sportlichen Tief- und Flachsinnsklamotte. Aber nie verliert sie bei allen epileptisch anarchischen und entsetzlich komischen Ausfällen ihren tieftraurig-tragischen Fixpunkt: Die Verzweiflungsraserei ums zwittrige Daseinsglück aus Geld und-oder Liebe. Wahrlich eine Zumutung, dieser Fünf-Stunden-Schizo-Marathon, dieses mal nervend ausgeleierte, dann wieder toll hochtourige, mal blöd ausgefranzte, dann wieder überkomplex-kompakte „Bubenstück“. Ein galliges Menschenpanoptikum. Und entwaffnend selbstironischer, aasiger Castorf-Jux mit fantastischen (funktioniert nur mit solchen!) Spielern wie Sophie Rois als Terminator-Oma, Hendrik Arnst als verfetteter, trotzdem liebestoller General oder Margarita Breitkreiz als Bums-Blondie Blanche.
Eine mit epischen Bravourarien sowie mit bedenkenswertem wie grotesk abwegigem Gedankengut schier erstickend vollgestopfte Orgie aus Soap und Tragödie als wild verwegener Abgesang auf Castorfs jahrzehntlange Dostojewski-Abarbeitungen. Ein Geburtstagsgeschenk an sich selbst (zum 60. Mitte Juli) diese ätzende, dabei eher privatistische Alters-Verrückt- und Entrücktheit für Spezies, aber kaum fürs Volk. Eine XXXL-Freak-Show, die man entweder bekloppt findet – oder, sich mit starken Nerven gelassen darauf einlassend: total hinreißend.

 

Worms: Nibelungenfestspiele

Von Wien fort und hin in eine andere Hochkulturmetropole, die allerdings im Mittelalter reussierte: Worms. Es war anno 2002, als Fernsehmogul Dieter Wedel die Welt mit der Idee überraschte, unterm Sommerhimmel ein Festival zu installieren vor dem grandiosen roten Sandsteingebirge des Wormser Doms, der Nibelungen-Hochzeitskirche und bis heute stolzen Krone jener Stadt, die zu einer der denkwürdigsten Stätten der westlichen Welt zählt. Hier hielten Kaiser Hof, konferierte der Reichstag, donnerte Luther sein „Ich kann nicht anders“.
Eine Location der S-Klasse, schwer geschichtsträchtig, mächtig theatralisch. Umrahmt von einem Park, bestens tauglich als idyllisch illuminiertes Foyer, als lauschige Publikums-Lounge mit luxuriösem Catering-Dienst. Sponsoren ließen sich da nicht lange bitten. Der Tanz auf dem roten Premierenteppich wurde von Saison zu Saison glamouröser, der Medienzirkus lauter, der Kartenverkauf (jetzt, im zehnten Jahrgang, 90 Prozent Auslastung!) noch überzeugender. Die „Nibelungenfestspiele“ sind etabliert als feste Größe im zunehmend unübersichtlicher werdenden Sommertheaterbetrieb.
Hier soll die mittelalterliche Verserzählung, deren Katastrophenhaltigkeit als Topos deutscher Geschichte gilt, spektakeltauglich ins Gegenwärtige geholt werden. Den Anfang machte der Autor Moritz Rinke, der in entzückendster Unbekümmertheit das heldische Psychopathen-Personal schnurstracks aufs Komödien-Sofa warf. Heraus kam eine schnippige Politgroteske über gesellschaftliche Stagnation im subtilen Kemenaten-Ton, die von Regisseur Wedel mit viel Tamtam ins vorgegebene Breitwandformat geblasen wurde. Später trat Rinke noch zweimal an als erfindungsreicher Nibelungen-Neudichter: Mit den psychologisch gewitzt durchleuchteten Adaptionen „Siegfrieds Frauen“ und „Die letzten Tage von Burgund“. Nach Rinkes jahrelangem Wühlen in Mythos und Bärenfellen dann der Versuch mit Friedrich Hebbels wuchtigem „Nibelungen“-Opus, dessen tief tragischer Untergangs-Irrsinn von Regisseurin Karin Beier platt gewalzt wurde durch Action.
Trotz vieler frappierend packender Momente und durchweg sensationell besetzter Schauspiel-Ensembles offenbart sich immer wieder die Crux des Festivals: Ihr Konstrukt aus löblich gewollt kunstvollem Spiel um schwer lastende Themen und notwendigerweise massentauglichen leichten Spielchen. – Dann kam John von Düffels Adaption des archaischen Stoffs „Das Leben des Siegfried“: Eine waghalsige Toberei zwischen viel Flach- und einigem Tiefsinn. In diesem Allotria aus Hehrem und Heldischem, aus Sein und Schein gelang es Regisseur Gil Mehmert, besagtes Worms-Problem so klein wie noch nie zu halten.
Diesmal nun inszenierte der Festspielintendant wieder höchstselbst: „Jud Süss“. Gemeinsam mit dem israelischen Autor Joshua Sobol („Ghetto“) verfasste Wedel das Script über das Schicksal des Joseph Süss Oppenheimer, der mit seinen enormen Fähigkeiten für Wirtschaftsmanagement, Diplomatie und Entertainment am württembergischen Hofe zum Finanzreformer, Geldbeschaffer, Orgienorganisator sowie intimen Super-Günstling von Herzog Karl Alexander aufstieg. Und schließlich vom geballten, antisemitisch geprägten Neid seiner Umgebung in den Abgrund gemobbt und als Sündenbock für absolutistischen Herrschaftsirrsinn 1738 spektakulär hingerichtet wurde.
Das Thema wurde bereits von Wilhelm Hauff und Lion Feuchtwanger literarisch und von dem Prager Juden Paul Kornfeld (von den Nazis ermordet) dramatisch gefasst. Es gibt noch eine englische Verfilmung und die berüchtigte, perfekt antisemitische NS-Film-Propagandashow Veit Harlans, die dem Wormser Unternehmen spektakulären Auftrieb geben sollte; Stichwort „Nazi-kontaminiert“.
Sobol wollte die Geschichte radikal und wirklich verstörend ins Gegenwärtige transponieren. Doch da war Wedel vor als vorsichtiger Event-Meister (kein Risiko!). Es blieb also beim so süßen wie horriblen spätbarocken Intrigenstadel zwischen Springbrunnen, Kneipe, Boudoir. Die böse Geschichte ging als politisch korrekt unterhaltender Kostümschinken im zauberhaften Rokokoschlösschen-Pomp wie wohlfeiles ZDF-Samstagabend-Entertainment über die Drehbühne. Unter Mitwirkung tapfer sich ins Zeug legender TV-Prominenz wie Rufus Beck als geschmeidiger Intelligenzler Oppenheimer und Jürgen Tarrach als sein herzoglich pragmatischer Förderer und Verräter.
Wenn Wedel dem Clinch der Nibelungen auch 2012 eine Pause gönnen will, dürften die nächsten Nibelungenfestspiele endlich das längst avisierte Thema „Luther“ präsentieren: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Dahinter stecken schwere Konflikte. Aber auch saftiges Intrigentum – prima fürs Wedelsche Sommernachts-Breitwandkino; mindestens 90 Prozent Auslastung garantiert.

 

Weimar: Wagner-Woche

Ein schöner Rücken kann auch entzücken; erst recht, sind es derer zwei: Wir erfreuen uns daran von oben, auf der Rangfoyer-Terrasse – Gartenstühle, Kaffeehaustische – vom Deutschen Nationaltheater Weimar (DNT). Vor uns drunten das hohe Paar von hinten: Goethe & Schiller.
Alle Welt weiß, das alte Hof- und heutige Nationaltheater samt Staatskapelle (Martin Hoff) ist nicht nur weltliterarischer, sondern auch weltmusikalischer Erinnerungsort (Wagner, „Lohengrin“-Uraufführung; Liszt; Richard Strauss, der hier als Kapellmeister startete). Diesen Hort der Tradition wollte, ist noch nicht lange her, eine so geschichtsvergessene wie kleinkarierte Kommunalpolitik monetären Engpässen opfern. Zugunsten des nagelneuen, aus dem Nichts in landesherrschaftlicher Eitelkeit geschaffenen Opernhauses zu Erfurt. Die von Generalintendant Stephan Märki zu Weimar geführten Grabenkämpfe sowie massenhafter Bürgerprotest mit Montagsdemos verhinderten den barbarischen Akt einer radikalen Demontage des DNT.
Wir machten uns flink auf die Socken, um zu bestaunen, was uns da im heroischen Kampf gegen behördliche Dummheit erhalten blieb. Nämlich die immer wieder sich ereignenden Sensationen unseres deutschen Stadttheaters, auch wenn es – wie in Weimar – neuerdings Staatstheater heißt und endlich die gebührliche finanzielle Ausstattung, mithin mittelfristig gesicherte Produktionssicherheit erhielt. Das Verdienst des unermüdlich um behördliche Einsicht ringenden Generals Märki. Auch wenn dieser Segen nun vornehmlich seinem gegenwärtig heftig gesuchten Nachfolger zu gute kommen wird: Nach einem Jahrzehnt nämlich wird der so unerschrockene wie souveräne Kampfgeist Märki Thüringen verlassen, um in seinem Heimatland Schweiz das bislang flaue Dreispartentheater in Bern endlich zum echten eidgenössischen Hauptstadt-Theater zu erwecken.
Aber jetzt erst noch mal zum großen Bewundern nach Weimar: Wagner-Woche! Klein Bayreuth an der Ilm. Mit „Tristan und Isolde“ sowie der Derniere „Ring des Nibelungen“, der während seiner Produktion quasi zum Rettungsring für den eigenständigen Weimarer Opernbetrieb wurde; Motto: Seht, was wir drauf haben. Und zwischen „Tristan“ und „Ring“, sozusagen als Pausenfüller, noch eine modisch schicke, wenn auch umständliche Erzählung (falscher Regie-Ehrgeiz von Claudia Meyer) des Goethe-Romans „Die Wahlverwandtschaften“. Das Ganze ein theatralischer Sechser-Pack, der den Kultur-Reisebüros nicht nur in ganz Deutschland reichlich zu tun gab.
Die internationale Kundschaft wurde nicht enttäuscht. Was vornehmlich aufs Konto von Orchester und Solisten ging. Die goldene Krone gebührte dabei der in jeder Hinsicht faszinierenden Catherine Foster (Isolde, Brünnhilde), deren Aufstieg in den Weltruhm längst im Gange ist. Doch müssen wir noch weitere Kronen in den Ring werfen: etwa für Renatus Meszar, Corby Welch, Kirsten Blanck, Nadine Weissmann, Tomas Möwes, John Keyes oder Nicola Belles Carbone und, jenseits vom „Ring“, Franco Farina (Tristan). Ein herrliches Solisten-Ensemble. Jubel.
Mit dem Inszenatorischen freilich wurden wir nicht durchweg glücklich. Da mischte sich Signifikantes mit überflüssig Aufgesetztem; da verspielte sich manch überrumpelnd gebaut Hochdramatisches im zwar fein ertüftelten, dann aber flach daher läppernden Einfallseifer der Regisseure Karsten Wiegand („Tristan“) und Michael Schulz („Ring“). Alles in allem jedoch dominiert eine grandiose Ensembleleistung – punktuell gar auf Weltklasse-Niveau. Das DNT darf stolz sein. Wobei sich für die Zukunft der Wunsch regt, Entsprechendes im klassischen Drama zu schaffen, den vor Ort sonderlich geisternden Groß-Dichtern gemäß.
Zum Finale fix ein Blick einige Monate zurück: Stephan Märki inszeniert Richard Strauss‘ „Elektra“, natürlich mit der Foster. Für uns die (nach der epochalen Dresdner Ruth-Berghaus-Produktion) erregendste Sicht auf den Einakter, die wir je sahen. Groß, genau, klar ‑ und dennoch höchst raffiniert. Ein Glücksgriff, ein Geniestreich. Kommende Saison wieder in diesem tollen Theater.