14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Eine Liebe aus der Distanz

von Klaus Hammer

Kurt Tucholsky, der in steter Auseinandersetzung mit den Zeitereignissen zwischen 1907 und 1932 fast 2.500 Kritiken, Feuilletons, satirische Skizzen, Polemiken und Pamphlete, Porträts, Gedichte und Chansons veröffentlicht hat, wurde nach1945 vor allem durch seine Sommergeschichte „Schloss Gripsholm“ (1931) wieder bekannt. Sie schildert Ferien von der Großstadt Berlin, eine transitorische Zweisamkeit ohne Sentimentalitäten, viel spielerischer Unsinn ist mit dabei. Der Reiz dieser Geschichte beruht auf der beiderseitigen Liebe aus der Distanz, die ohne Dämonisierung der Geschlechterverhältnisse von der Fremdheit zwischen Mann und Frau ausgeht und in fröhlicher Infantilität eine Brücke findet. Diese Liebe aus der Distanz – am intensivsten gab Tucholsky seiner Liebe in den Briefen Ausdruck – hat fast modellhafte Züge für seine Beziehungen zu Frauen, zu Kitty Frankfurter, über die wir noch so gut wie nichts wissen, Grete Weil, Mary Gerold, Lisa Matthias und viele andere.
Der Berliner Kritiker und Publizist Klaus Bellin hat sich nun mit der Beziehung von Tucholsky und Mary Gerold auseinandergesetzt, jener Deutschbaltin, die Tucholsky schon im Ersten Weltkrieg kennen gelernt hatte und die er 1924 heiratete. Diese Beziehung  war gleichzeitig wie nacheinander „Liebesgeschichte und Tragödie, ein Auf und Ab aus Glück und Enttäuschung, Entfremdung, Sehnsucht und Trennung“, so heißt es treffend im Klappentext. 1920 war Mary zu Tucholsky nach Berlin gekommen, aber beide waren sich fremd geworden; der Briefwechsel, den sie zwei Jahre lang geführt hatten, erwies sich als eine Illusion. Mary ahnte nichts, dass Tucholsky inzwischen die Beziehungen zu Else Weil, der Claire aus den „Rheinsberg“-Tagen, wieder aufgenommen hatte. So heiratete er 1920 zunächst Else Weil, aber die Ehe mit ihr war schneller zu Ende, als es das Scheidungsdatum (Februar 1923) ausweist. Er warb wieder um Mary, drei Jahre lang, bis er sie dann im August 1924 heiratete. Als Auslandskorrespondent ging er mit ihr nach Paris, doch bald begann er wieder allein zu reisen, und nach dem überraschenden Tod von Siegfried Jacobsohn übernahm er widerwillig die Leitung der „Weltbühne“ in Berlin, während Mary in Paris zurück blieb. Und auch die nächsten Jahre hetzte Tucholsky durch Europa, als wäre er auf der Flucht. Von da an sahen sich beide nur noch selten, fast immer war einer von beiden unterwegs. Die anwachsende Briefzahl ist ein Gradmesser der Entfernung, nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren.
Bald hatte Tucholsky eine neue Freundin, Lisa Matthias, die er 1927 auf einem Künstlerball kennen lernte. Sie ist das Urbild seiner „Lottchen“-Geschichten, die ab 1928 in der „Weltbühne“ erschienen, und die Lydia in der Sommergeschichte „Schloss Gripsholm“. Mit ihr geht er nach Schweden, und als diese Beziehung zerbricht, kümmert sich Gertrude Meyer um ihn, sie wird ihm zu einer unersetzlichen Stütze im fremden Land. 1932 trifft er in Zürich auf Aline Valangin, die Frau eines jüdischen Staranwalts, und lebt in ihrem Palazzo in Comologno, bis er in der Ärztin Hedwig Müller eine ebenbürtige Partnerin, psychisch weit gefestigter als er, findet. Die Beziehung zu ihr ist erst 1969 durch den Schweizer Publizisten Gustav Huonker aufgedeckt worden.
Ende September 1928 war Tucholsky noch einmal zu Mary zurückgekehrt, er wollte es noch einmal versuchen. Doch knapp zwei Monate später verließ nun sie ihn, diesmal endgültig. Zurück blieb ihr Abschiedsbrief, den er bis zu seinem Tod in der Brieftasche bei sich trug. Die Ehe mit Mary wurde 1933, unmittelbar vor der Ausbürgerung Tucholskys, geschieden. Die reale Person Mary, so kann man Bellins Ausführungen entnehmen, konnte er nur zeitweise lieben, das „Märchen“ Mary liebte er bis zu seinem Tod. Die Briefe ersetzten gleichsam das reale Leben, die Empfänger seiner Briefe wurden zu „Beichtbüchsen“, wie er  Mary, aber auch seine spätere Partnerin Hedwig Müller gleichermaßen nannte.
Nach dem Krieg hat Mary sein Erbe mit großem Einsatz verwaltet. Das ist ihr Lebenswerk – sie trägt im oberbayrischen Rottach-Egern ein ganzes Tucholsky-Archiv zusammen. Über die NS-Zeit hinweg hat sie die Briefe retten können, die ihr Tucholsky schrieb. Nun sammelt sie alles, was Tucholsky geschrieben hat und was andere über ihn geäußert haben, alles, was irgendwie mit Tucholsky zu tun hat. Sie trägt dazu bei, dass Tucholsky in den 1950er, 1960er Jahren so populär wird, wie er zu Lebzeiten nie gewesen war. Sie selbst aber bleibt im Hintergrund, hilft jedoch, wo sie nur kann. Mit Fritz J. Raddatz bringt sie 1960 und 1961 die erste Gesamtausgabe heraus, der 1962 noch eine Briefauswahl folgt. Erst mit 85 gibt sie das Archiv als Schenkung an das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach und vier Jahre später – 1987 – starb sie. Auf alle Fälle steht fest: Wenn sich jemand als eigentliche Lebensgefährtin Tucholskys bezeichnen darf, dann ist es mit Fug und Recht Mary Tucholsky, geborene Gerold. Das weist Bellins Buch eindeutig nach, auch wenn weiterhin viele Fragen im Leben und Sterben Tucholskys offen bleiben.

Klaus Bellin: Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2010, 168 Seiten, 19,90 Euro