14. Jahrgang | Nummer 5 | 7. März 2011

Ächtung bei Harich, Apologie bei Bohrer

von Kai Agthe

Friedrich Nietzsche aus der Perspektive von Wolfgang Harich und Karl Heinz Bohrer zu sehen, das heißt Nietzsche zwischen Ächtung und Apologie einzureihen. Der Essay des Berliner Philosophen Jürgen Große konfrontiert zwei Persönlichkeiten und ihre konträren Positionen zu Nietzsches Werk. Der DDR-Intellektuelle wird stellvertretend für die Zeit vor, der West-Intellektuelle für die Jahre nach 1989 porträtiert. Der Philosoph Wolfgang Harich (1923-1995) war der Nietzsche-Hasser schlechthin. Der bis zur Emeritierung 2004 an der Universität Bielefeld lehrende Literaturtheorie-Professor Karl Heinz Bohrer (geb. 1932) wiederum ist ein Vertreter des west- und seit 1989 gesamtdeutschen Nietzscheanismus. Nach 147 kurzweiligen Seiten lautet des Autors Fazit: Beide Intellektuelle verbindet, bei aller Differenz, mehr als sie trennt. „In beiden Fällen“, so Große, „strebt ein kulturpädagogischer Ehrgeiz die Bevormundung, ja Entmündigung des Publikums an.“ Und nicht erst hier wird erkennbar, dass der Essayist weder zur Harich- noch zur Bohrer-Fraktion zu zählen ist.
Wolfgang Harich ist als ein Intellektueller im Jahrhundert der Extreme ein tragischer Fall. Als Journalist hatte er 1945 Nietzsche gegen den Vorwurf, ein Vordenker des Nationalsozialismus zu sein, vehement verteidigt. In den achtziger Jahren jedoch, als eine verhaltene Diskussion in Kreisen der DDR-Philosophie zur Neubewertung von Nietzsches Werk einsetzte, protestierte Harich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine „Nietzsche-Renaissance“, die er allen Ernstes als Symptom für aufkommende neofaschistische Tendenzen in der DDR erkannt haben wollte. Harich verurteilte Nietzsche noch 1994 als „intellektuellen Waffenlieferanten“ des Imperialismus. Und ausgerechnet Kurt Hager bezichtigte er, den „Urfaschisten“ Nietzsche „entnazifiziert“ zu haben. In seiner Autobiografie „Ahnenpaß“ verkündet Harich: „Wobei ich zu diesem Neofaschismus in der DDR im intellektuellen und kulturpolitischen Bereich auch die Begünstigung der Nietzsche-Renaissance durch Kurt Hager rechne.“ Dieses Zitat ist ein Beispiel für Harichs „tyrannischen, oftmals befehlshaberischen Duktus“ (Große), der auf Dauer unerträglich ist. Mochte die DDR-Politbürokratie ihm noch Gehör schenken, unter anderem nach einem Beschwerdebrief in Sachen Nietzsche an Willi Stoph, war es damit nach 1989 vorbei. Karl Heinz Bohrer, der als Wegbereiter der „ästhetischen Moderne“ gilt, geht subtiler vor, auch wenn er sich nicht scheut, zuweilen drastische Formulierungen zu wählen, die aus seinen Essays „Standpauken“ und „Mahnrufe“ machen. Bohrers Themen, die er in seinen Büchern abhandelt, sind bemerkenswert vielfältig. Sie reichen von der Romantik über Ernst Jünger bis zu ästhetischen Fragestellungen. Mit schöner Regelmäßigkeit publiziert er Studie um Studie. Zuletzt analysierte er den „Großen Stil“ (2007) und „Das Tragische“ (2009). Das Podium, das allmonatlich seine Standpunkte verlautbart, ist die Zeitschrift „Merkur“. Große konstatiert, dass der „Merkur“ in „guten Zeiten (1947-1984) ein Zentralorgan kulturphilosophischer Skepsis“ war, jedoch seit dem Beginn der Herausgeberschaft Bohrers zum „Mitteilungsblatt realpolitischer Wünschbarkeiten aus dem Geiste eines anglomanen Nietzscheanismus“ mutierte, dessen „Feindbild-Kandidaten ungefähr im Takt der Jahrzehnte“ wechseln. Der Autor attestiert dem Printmedium, das den Untertitel „Zeitschrift für europäisches Denken“ führt, auch, unter Bohrers Leitung eine „ideologische Verengung“ vollzogen zu haben. Große erinnert daran, dass sich Bohrer 1990/91 auch am „deutschen Literaturstreit“ beteiligte, in dem das westdeutsche Feuilleton Christa Wolf zerpflückte. Der einst in der Bundesrepublik als das Gewissen der DDR und „Beinahe-Dissidentin“ gefeierten Autorin warf man nun vor, eine Staatsdichterin gewesen zu sein. Bei der Gelegenheit dekretierte Bohrer mit Blick auf Wolf – so Christoph Dieckmann damals in einem Beitrag für „Die Zeit“ – „vom Stuhle Petri“: „Eine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Priester-Schriftsteller.“ Das Donnerwort galt sowohl Christa Wolf als auch ihrer Leserschaft. Beiden, wie leicht zu belegen ist, zu Unrecht.
Jürgen Großes Essay ist ein ebenso kluger wie kritischer Text, der keinen Leser unbeteiligt lässt. Auch wenn man ihm nicht in jedem Punkt zustimmt, kommt man nicht umhin, diese Studie zu loben als ein pars pro toto für Formen der Annäherung an Nietzsche vor und nach 1989. Und wenn Große am Ende die Diskussion am Beginn des 21. Jahrhunderts – vielleicht an die einschlägigen Nietzsche-Vereine und Gesellschaften denkend – mit den Worten resümiert: „Nietzsche ist im Nietzsche-Betrieb verschwunden“, schlägt der Verfasser bereits ein neues und nicht minder spannendes Kapitel der Nietzsche-Rezeption auf.

Jürgen Große: Ernstfall Nietzsch. Debatten vor und nach 1989, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010, 147 S., 17,80 Euro