14. Jahrgang | Nummer 1 | 10. Januar 2011

Meinung und Wissen

von Detlef Kannapin

Das Grundübel unserer Zeit besteht nicht darin, dass wir in einer Restaurationsphase leben. So etwas hat es in der Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft schon oft gegeben. Das Grundübel unserer Zeit besteht darin, dass alle emanzipatorischen Lösungsvorschläge für den Ausweg aus dem zivilisatorischen Dilemma der Herrschaft des Kapitals im Grundsatz bereits vorliegen, ihre Anwendung oder Anwendbarkeit aber aus ideologischen Gründen verhindert beziehungsweise nicht einmal auch nur ansatzweise geprüft wird. Seit Marx liegt der Schlüssel zur Kritik und Überwindung der modernen Ökonomie vor. Seit Lenin weiß man, wie politisch zu agieren ist, wenn man wirklich die Befreiung und Planbarkeit des Lebens will. Viele kluge Leute haben davon ausgehend die Fallstricke der Ästhetik, der Ideologie, der Philosophie und derlei mehr im Detail erkundet, analytisch zerhauen und daraufhin das positive Wissen für den Fortschritt der Menschheit fruchtbar gemacht. Passiert ist jedoch: Der Kapitalismus dämmert weiter vor sich hin und dünkt sich konstitutionell als Vernunftabschluss gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Bereits Kant und Hegel hätten über diesen Zustand, wüssten sie von den Zeitläuften und ihren Exzessen, laut aufgelacht. Nicht nur sie wären heute einzig Satiriker. Bekanntlich hatte Kant den Glauben höher geschätzt als die Meinung. Hegel ersetzte den Glauben durch Wissen, ließ aber dabei die unterdurchschnittliche Maßgeblichkeit der Meinung unberührt. Das, was wir heute erleben, ist die Verwechslung von Demokratie und Meinungsbildung. Die bürgerlichen Verfassungen garantieren die freie Meinung als unveräußerliches individuelles Recht. Gedacht war es so, dass die freie Rede dem Bürgertum zum Selbstbewusstsein verhilft. Seit die Bürgerlichen in der Agonie ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit angekommen sind, ist die Meinung kein neutrales Artikulationsmedium mehr, sondern Verhinderungsinstanz der potentiellen Besserung.
Begründung: Natürlich darf jeder sagen, was er für richtig hält. Die Frage ist nur, was richtig ist. Nicht wenige behaupten mittlerweile sogar, dass es ein Richtig oder Falsch im multikausalen Optionsraum der Gegenwart gar nicht gibt und schlimmer noch: retrospektiv auch gar nicht gegeben hat. Wer auf dieser Ebene angekommen ist, muss sich natürlich um Urteilskraft nicht mehr bekümmern. Entscheidend ist unterdessen, ob eine Meinung wissend ist oder nicht. Anders ausgedrückt: Wenn eine Meinung maßgeblich sein soll, müsste der Maßstab der Meinungsrelevanz der Fortschritt des Gemeinwesens und aller seiner Mitglieder sein. Die Voraussetzung dafür ist allerdings ein Minimum an Verständnis über die Gesellschaft und über ihre Funktionsweise. Daran lässt sich erkennen, wie tiefgründig eine Äußerung ist oder nicht.
Hegel hielt schon 1820 die Zufälligkeit und Willkür des subjektiven Gefühls und seines Meinens für den verwerflichsten Missgriff geistiger Offenbarung. Denn dann bleibt mindestens alles beim Alten, weil Subjektivität nicht bezweifelt werden kann. Die Austreibung der objektiven Grundlegung des Denkens hat es dahin gebracht, dass scheinbar überhaupt keine Ordnung mehr im Meinungskosmos vorhanden ist. Engels musste fast sechzig Jahre nach Hegel bitter feststellen, dass es möglich ist, eine Schuhbürste unter die Einheit der Säugetiere zusammenzufassen. Indes bekommt sie damit noch lange keine Milchdrüsen. Derartiges Problembewusstsein im Jahre 2011 realiter oder symbolisch anzutreffen, ist eine der leichtesten Übungen beim Durchstreifen der Meinungswelt.
Die Verwechslung von Demokratie und Meinungsbildung findet dort statt, wo man das politische Bedürfnis der Verbesserung des sozialen Lebens in die frei flottierende und durch nichts regulierte Meinungstransparenz übersetzt. Die staatssozialistische Erfahrung, dass man dort nicht alles sagen und trotzdem etwas bewirken konnte, kollidiert frontal mit dem bürgerlichen Mantra, dass man hier wenigstens alles sagen kann… Und dann schlägt das Kartell der Mächtigen zu: Meinungsbildung als Waffe. Daher kommt es, dass Gestalten wie Henkel, Sarrazin und Sloterdijk zu so gennanten Meinungsführern werden, obwohl man hätte wissen können, dass sie in Wahrheit Widergänger des 18. und 19. Jahrhunderts und kaum kaschiert Ideologen vom Schlage eines (wahlweise und austauschbar) Jeremy Bentham, Eugen Dühring und Houston Stewart Chamberlain sind.
Die Dialektik von Meinung und Wissen begleitet auch unter der Hand eine der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Zeit, ein schmales Buch von Felix Bartels über die Dramatik von Peter Hacks im Spannungsfeld von Leistung und Demokratie. Das Werk ist an dieser Stelle anzuführen, weil es weit über künstlerische Dinge hinausgeht und vielmehr den Nerv einer beim Wort genommenen Demokratie trifft. Das zukünftige Hauptproblem der menschlichen Gesellschaftsorganisation wird nämlich sein, wie sich eine tatsächlich gerechte Gesellschaft erreichen lässt, wenn sie weiterhin gezwungen ist, Reichtum anzuhäufen und zu verteilen, der nur über Leistung erzeugt werden kann. Das Leistungsprinzip ist aber per se ungerecht, weil seine Fähigkeiten durch den effizienten Einsatz im Widerspruch zur demokratischen Gleichheit stehen. Alle Verfechter der Demokratie bekämpfen in Wirklichkeit die Leistungsträger, weil sie jene ob ihrer Fähigkeiten beneiden. Ihre einzige Chance liegt darin, der Leistung die Spitze abzubrechen durch den demokratischen Kompromiss. Und Kompromissbildung ist wesentlich Meinungsbildung, während sich gesellschaftlicher Fortschritt allein durch umfassendes Wissen einstellt.
Das Universum von Peter Hacks war seinerzeit der staatssozialistische Übergang zum Kommunismus, der vor allen Dingen von seiner Staatlichkeit geprägt wurde. Hacks sah dies als produktiv an, ermittelte der Staat als Vernunftstaat doch den Ausgleich und das richtige Maß zwischen den gegenläufigen Prozessen und verhinderte eine Ausuferung oder Verabsolutierung von einer der beiden Seiten, von ungehemmter Freiheit und von Schöpfertum nivellierender Gleichheit. Insoweit ist die Idee des Staates zur öffentlichen politischen Aushandlung sozialer Probleme bei weitem kein Negativum, sondern überhaupt erst Bedingung für eine gelingende Vergesellschaftung. Ihre Vollendung ist eigentlich die wirkliche Entfaltung der Staatsidee.
Wenn man sich vor Augen hält, dass zwei gewichtige Einsichten von Hacks in der Jetztzeit nachgerade als Skandal erscheinen, dann wird einem vielleicht erst richtig bewusst, was eine unbedarfte Meinungsinflation alles anrichten kann. Er schreibt einmal in seinem Drama Numa: „in nichtigen Dingen Freiheit, / In wichtigen Wissenschaft“. An anderer Stelle heißt es: „Aber was der Staat nicht regelt, regeln andere.“ Führt man diese Dialektik zwischen Freiheit, Wissenschaft und Staatlichkeit zusammen, erblickt man taghell das Zukunftsprogramm des Kommunismus samt seiner Realisierungskompetenz.
Man kann aber auch drauf pfeifen. Dann bedeutet Freiheit, dass es noch viele Dührings und Sarrazins geben wird, die bei normaler Sachlage nicht aus ihren Hinterzimmern der Hofbräuhausatmosphäre herausgekommen wären, wenn es nicht Leute geben würde, die ein bindendes Interesse daran haben, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu konservieren. Dann bedeutet Meinung die Eigenheit einer Idiotie (Hegel). Dann bedeutet Wissenschaft, dass man über alles schreibt, was man nicht gelernt hat, und dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt (Engels). Und dann bedeutet Staatlichkeit Verlust jeder zuverlässigen Orientierung, denn was nicht mehr auf einen Begriff zu bringen ist, ist auch nicht mehr (noch mal Hegel).
Wie gesagt, Restaurationsphasen in Krisenzeiten sind nicht selten, sondern eher üblich. Und dass die Menschen betrogen werden, liegt in der Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Ökonomie begründet. Dass sie aber heute so geistlos betrogen werden, ist Symptom des Zerfalls einer Gesellschaft, die an keine Zukunft glaubt und sie dennoch bestimmen möchte. Das Wegwerfen erprobter erkenntnistheoretischer und politischer Mittel, sei es aus Selbsterhaltung oder aus ernüchterter Naivität, verlängert die Restauration unnötig.

Zur Lektüre empfohlen: Felix Bartels: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks, VAT Verlag André Thiele, Mainz am Rhein 2010, Pb., 190 Seiten, 12,90 €. Enthält Interpretationen wesentlicher Dramen von Hacks im Zusammenhang mit dessen Gesellschaftsbild. Hinter dem unscheinbaren Titel verbirgt sich eine äußerst hellsichtige und konsequente Theorie gesellschaftlicher Alternativen zum Kapital, die dem Staat die wesentliche Rolle bei einer erfolgversprechenden Veränderung des überkommenen Zustands zuweist.