14. Jahrgang | Nummer 1 | 10. Januar 2011

Bemerkungen

Neujahrsgebet

des Pfarrers von St. Lamberti zu Muenster
aus dem Jahre 1883:

Herr, setze dem Überfluß Grenzen
und lasse die Grenzen überflüssig werden
Lasse die Leute kein falsches Geld machen
und auch das Geld keine falschen Leute.
Nimm den Ehefrauen das letzte Wort
und erinnere die Männer an ihr erstes.
Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde.
Bessere solche Beamte, Geschäfts- und Arbeitsleute,
die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind.
Gib den Regierenden gute Deutsche
und den Deutschen eine gute Regierung.
Herr, sorge dafür, daß wir alle
in den Himmel kommen
– aber nicht sofort.

Hermann Kappen

Der ewige Kommunismus

„Der ewige Jude“ ist der christlichen Legende nach ein Mann, der Jesus auf dessen Weg ans Kreuz verspottete, von diesem dafür verflucht und dazu bestimmt wurde, bis zu seiner Wiederkunft unsterblich durch die Welt zu wandern. Kein Mann, sondern lediglich ein politischer Begriff ist der des Kommunismus, von dem Marx und Engels eingangs ihres „Kommunistischen Manifestes“ erklären, daß er, einem Gespenste gleich, in Europa umginge.
Nun sind die Tage und Jahre des realen Kommunismus samt seiner Vorläufer und überhaupt Adaptionen fürs erste bekanntlich gezählt. Das Gespenst indes geht – dem „Ewigen Juden“ gleich, unverdrossen weiter um. Neben denen, die den Kommunismus damals wie heute als eine Religion verstehen und entsprechend heiligen sind es vor allem aber offenbar die Masochisten, die den Spuren des wandelnden Untoten achtsam folgen. Und wenn sie wieder eine entdeckt haben, schreien sie erschreckt „Huuuch“, und gruseln sich entsetzlich; das ist für Masochisten, wie man weiß, halt ein schönes Gefühl. Die neuerliche Spurenlegung in Sachen Kommunismus durch Gesine Lötzsch hat die Masochisten freilich aufs Feinste bedient – Schauder allenthalben. Leider nur hinsichtlich dessen, was im Namen des Kommunismus an schweren und schwersten Verbrechen begangen worden ist. Daran ist nicht zu zweifeln, weiß Gott, und dieser Umstand wird dieser Utopie noch ewig – und zu Recht – anhängen. Nur eben: Nähme man eine solch inhaltliche Reduzierung von Begriffen wirklich ernst, dürfte man besser nicht mehr von Religion sprechen, oder von Kapitalismus – oder? Denn was sich in den Annalen mit diesen beiden Vokabeln verbindet, ist zu erheblichen Teilen ebenfalls mit viel, viel Blut geschrieben worden.
Sehe ich die derzeitige Debatte über Frau Lötzschens Einlassungen, fällt mir eben doch zuallererst Karl Kraus ein. 1920, drei Jahre nach der Oktoberrevolution also, schrieb dieser in seiner „Fackel“ über den Kommunismus: „Der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe!“

Hajo Jasper

Erlebte Utopie

Diese Tugenden der Utopier haben ihre Grenznachbarn, die in Freiheit leben (denn die Utopier selbst haben viele derselben dereinst von der Tyrannei befreit), bestimmt, sich ihre obrigkeitlichen Personen, die einen jährlich, die andern für fünf Jahre, bei den Utopiern zu entnehmen, welche sie nach vollbrachter Amtszeit mit Ehren und Lob überhäuft, in ihr Vaterland zurückgeleiten, um sofort wieder neue von da zu sich nach Hause mitzunehmen. Das Staatswesen dieser Völker ist in der Tat auf diese Weise aufs Beste beraten, denn, da dessen Heil oder Verderben von den Sitten der Obrigkeit abhängt, was für Personen hätten sie klügerer Weise sich zu solchen erwählen können, als solche, die um keinen Preis vom Pfade des Rechtes abgezogen werden können (da Geld ihnen, die bald wieder in ihre Heimat zurückkehren nichts nützen würde) und die, als Fremde, keinen einzelnen Bürger kennen, daher weder durch ungebührliche Gunst, noch desgleichen Gehässigkeit sich verleiten lassen.
Diese beiden Übel, Privatgunst und Habsucht, zerstören, wo sie sich in den Gerichten einnisten, die Gerechtigkeit, das stärkste Fundament des Staates, ganz und gar.
Die Völker, welche die Personen der Staatsverwaltung von ihnen entlehnen, nennen die Utopier Bundesgenossen, jene andern, denen sie Wohltaten erwiesen haben, nennen sie Freunde.

Thomas Morus

Zeitweilige Überlassung von Beamten an Nachbarn, In: Erzählung von der Verfassung der Insel Utopia, 1516

Werkschau Hans Brass

Am 1. Juli 1953 tritt die junge Ärztin Elisabeth Brass eine Stelle in der Klinik Wuhlgarten in Berlin-Biesdorf an. Im Frühjahr 1954 bezieht sie eine Dienstwohnung auf dem Klinikgelände. Mit ihr kommt ihr Mann, der Maler Hans Brass, nach Wuhlgarten. Er lebt und arbeitet hier bis zu seinem Tod am 30. Mai 1959. Vom offiziellen Kunstbetrieb so gut wie ausgeschlossen ist er der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Dabei galt der Expressionist, Mitglied des „Sturm“ und der „Novembergruppe“, Mitbegründer der „Bunten Stube“ in Ahrenshoop, am Beginn seiner Karriere als durchaus hoffnungsvolles Talent. Aber schon seine Übersiedlung von Berlin nach Ahrenshoop, etwa 1921, ließ ihn den Kontakt zur Kunstszene für lange Zeit verlieren. Während der Nazizeit galt er als „entartet“. Anfängliche Erfolge im Zuge des kulturellen Auflebens unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vermochte er nicht fortzusetzen: Im Osten wurde er wegen seiner zu abstrakten Malweise als „Formalist“ ausgegrenzt, im westdeutschen Kunstbetrieb der fünfziger Jahre als „Realist“ ignoriert. So arbeitete er nach 1949 in tiefster Isolierung und geriet nach seinem Tod fast völlig in Vergessenheit. Gerade aber aus seiner Auseinandersetzung mit äußeren Zwängen und in letztlicher Verweigerung der Anpassung an sie schuf er ein Werk von hoher Originalität. Brass hat auf jede neue Situation seines wechselhaften Lebens in einer zerrissenen Zeit mit neuen Bemühungen künstlerisch reagiert. Dass er in der Malweise Feininger nahe war, konstatierte die Kunstkritik schon 1921, sprach ihm dennoch stilistische Eigenständigkeit zu. In der Bildkomposition orientierte sich Brass vor allem am Kubismus. Bei Braque und Picasso, vor allem aber Léger suchte er häufig Anregungen. Bewusst vermied Brass aber jede Anlehnung an die Malweise dieser Autoritäten der Moderne und entwickelte so eine eigene, ganz unverkennbare künstlerische Handschrift. Erst jetzt wurde es möglich, eine Übersicht über sein gesamtes Werk mit repräsentativen Beispielen aus allen Schaffensperioden zusammenzutragen, die es erlaubt, ein neues, besseres Verständnis seiner Bilder zu gewinnen. Nachdem unmittelbar zuvor das Städtische Museum in Wesel, Brass’ Geburtsstadt,  den Maler mit einer Ausstellung gewürdigt hatte, zeigt das Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf noch bis zum 23. Januar seine Bilder. Ein besonderes Gewicht liegt auf der letzten Schaffensperiode des Malers in Wuhlgarten, wo er seinen eigenen Worten nach die frohgemuteste Zeit seines Lebens verbrachte.

Stefan Isensee

Teures Morden

Die Zahl der Hinrichtungen in den USA, so ist jüngst verlautbart worden, ist 2010 um zwölf Prozent gesunken. Nun könnten Optimisten dies für ein Zeichen halten, dass in der Frage der Todesstrafe in Gods own country Einkehr gehalten wird und ein Paradigmenwechsel in Arbeit ist. Dem ist allerdings nicht so. Da die USA ja nicht nur Gottes eigenes Land sind sondern auch eines der betriebswirtschaftlich kühl kalkulierenden Unternehmer, ist der Grund für den erfreulichen Trend ein viel ordinärerer: Vielen Bundesstaaten sind die Tötungen inzwischen zu teuer. Kaum zu glauben –, wenn es sich „rechnet“, bekommt sogar Humanität eine Chance …

HWK

Zweiter Weltkrieg, neu interpretiert

In Brasiliens Öffentlichkeit hat zu enormer Aufregung geführt, dass der jetzige – und künftige – Verteidigungsminister Nelson Jobim seinen Kollegen, den Strategieminister Samuel Pinheiro Guimaraes, laut Wikileaks gegenüber US-Botschafter Clifford Sobel 2008 als Feind der USA beschrieben hat. “Jobim sagte, daß Guimaraes `die USA haßt` und agiert, um Probleme in den Beziehungen zu schaffen”, zitiert Brasiliens größte Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo aus dem Wikileaks-Dokument. Wegen des Aufsehens sah sich Verteidigungsminister Jobim umgehend gezwungen, in einer offiziellen Erklärung die zitierten Äußerungen zu dementieren. Vielmehr habe Jobim den Ministerkollegen gegenüber dem US-Botschafter als einen “Nationalisten” charakterisiert, der Brasilien tief liebe. “Wenn der Botschafter sagte, dass Samuel die USA nicht mag, so ist das die Interpretation des Botschafters, ich habe das nicht gesagt. Samuel ist mein Freund.” Wie Brasilianer kommentieren, macht dies die Sache womöglich nur noch schlimmer. Denn die antiamerikanische Haltung von Lulas Strategieminister, heißt es, ist in der Tat allgemein bekannt – und machte diesen damit womöglich auch manchen Pseudolinken Europas sehr sympathisch. Indessen sind die Hintergründe komplexer und auch historisch-politisch bemerkenswert. Denn 2009 bewirkte Strategieminister Guimaraes in Brasilien Schlagzeilen durch eine außerordentlich interessante Analyse, die bei alten und neuen Rechten (auch den verdeckten) womöglich spektakulär positiv ankam: “Deutschland und Japan wurden nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang dafür bestraft, litten im Fegefeuer dafür, dass sie der angelsächsischen Welt-Führung getrotzt, diese herausgefordert hatten.” Brasiliens Qualitätszeitungen zitierten Guimaraes aus einer Rede im Außenministerium von Brasilia und betonten danach ausdrücklich, daß Hitler-Deutschland und Japan keineswegs einer angelsächsischen Welt-Führung getrotzt, sondern vielmehr ihre Nachbarländer angriffen und viele Millionen Menschen in Konzentrationslagern ermordeten. Die entsprechenden brasilianischen Zeitungstexte trugen unter Bezug auf Lulas Arbeiterpartei PT den Titel:”A visao petista da Segunda Guerra”(Die PT-Sicht des Zweiten Weltkriegs). Die Proteste der jüdischen Gemeinde fielen entsprechend scharf aus – in europäischen Medien war der Strategieminister indessen als Propagandist der Lula-Regierung stets wohlgelitten und willkommen, wurde dem Vernehmen nach kritikfrei gehalten.

Klaus Hart, São Paulo

Weltenwende

Nun hat auch die letzte Bastion des wahren und einzigrechten Glaubens auf dem Erdenrund damit beginnen, ihre Fesseln zu sprengen. Der wohl nur per Pollenflug in das hermetisch abgedichtete Nordkorea gekommene Keim der Aufweichung treibt aus: Am 26. Dezember hat das Staatsfernsehen in Pjongjang (조선중앙방송) erstmals in den 50 Jahres seines sendungsbewussten Daseins einen westlichen Spielfilm ausgestrahlt. Auch wenn leicht gekürzt, ist „Kick it like Beckham“ auf koreanischen Bildschirmen nördlich des 38. Breitengrades ein Tabubruch allererster Güte. Was noch dadurch gesteigert wird, dass der Film tatsächlich in Farbe ausgestrahlt wurde; wo jedwedes Bildmaterial, das Westliches, samt dem koreanischen Landessüden, abbildet, dortzulande in der Tristesse des – in doppelter Hinsicht – Schwarzweißen angesiedelt ist.
Was war der Schuss der Aurora gegen einen von David Beckham im 조선중앙방송? Oder gar gegen den Schuss, den die Kim-Dynastie hat? Und was, so fragen sich besorgte Beobachter des asiatischen Sonnenstaates, mag als nächstes folgen? Werden Kinder nicht mehr zur Schule marschieren sondern, „auf westliche Art“ einfach schlendern? Wird das emaillene Konterfei des Großen Führers Kim Il Sung am Revers künftig inwendig oder nur noch an Werktagen am Revers getragen? Wird bald nur noch jeder zweite Satz des Geliebten Führers Kim Jong Il von dessen Stenografen zwecks Nachwelterhaltung notiert? Wird dessen designierter Nachfolger, Sohnemann Kim Jong Un nun bald die schwächelnde Rock ‘n’ Roll-Ikone Chuck Berry auf der Bühne doubeln oder mit Lady Gaga  duettieren? Wird auf dem 170 Meter hohen Chuche-Turm am Taedong-Fluss bald nicht mehr die rote Flamme des Kommunismus lodern sondern das – immerhion auch rote – Coca-Cola-Signet? Wird die Koreanische Demokratische Volksrepublik künftig ihre Rolle als Politpol dieser Erde einbüßen und sich nicht um die Achse des Guten (Pjongjang-Pjongjang) sondern um ihre eigene Achse drehen? Fragen über Fragen…

Helge Jürgs