13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Beutezug Ost

von Alfons Markuske

Hielte der Autor sich an die klassische Verhaltensmaßregel „de mortuis nil nisi bene“, dann dürfte dieser Beitrag in memoriam Treuhandanstalt wohl nicht geschrieben werden. Denn „bene“ gibt es über die Treuhand nun wahrlich nichts zu vermelden.

Dabei zeugte die Idee zur Gründung einer solchen Anstalt – vorgetragen von Bürgerrechtlern der Oppositionsgruppe „Demokratie jetzt“ am Runden Tisch am 12. Februar 1990 – von einem höchst ehrenwerte Ziel, nämlich die „Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR“ zu wahren. Es sollte für jeden DDR-Bürger als Startkapital in die neue Zeit quasi ein Sechzehnmillionstel Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie an Grund und Boden der noch existierenden DDR geben. Zur Verwirklichtung dieser Idee hätte es allerdings eines gänzlich anderen Ergebnisses bei den letzten Volkskammerwahlen am 18. März 1990 bedurft. So aber siegte die „Allianz für Deutschland“ unter Lothar de Maizière, und damit waren die Weichen für eine übergangslose, ja überfallartige Unterwerfung der Planwirtschaft der DDR unter einen profitorientierten Marktkapitalismus westdeutschen Zuschnitts gestellt. Was folgte, war eine schlagartige Vernichtung nahezu des gesamten Industriekapitals der DDR, und bereits drei Monate nach Vollzug der deutschen Einheit, im Februar 1991, waren von ehemals sechs Millionen Werktätigen zweieinhalb Millionen arbeitslos.

Ursächlich dafür waren letztlich vor allem zwei Faktoren – die übereilte, volkswirtschaftlich katastrophale Währungsunion und die Festschreibung der (möglichst raschen) Privatisierung – nicht Konsolidierung, nicht Sanierung – der DDR-Wirtschaft als praktisch einzige Aufgabe der Treuhand durch das entsprechende Gesetz der De-Maizière-Regierung. Privatisierung hatte dabei nicht länger das Volk der DDR im Auge sondern solvente Investoren.

Die Wirkung der Währungsunion mit ihrem für die DDR-Wirtschaft desaströsen Umtauschkurs hat der Ökonom Rudolf Hickel von der Universität Bremen als „so etwas wie einen monetären Urknall“ beschrieben und der Ex-Vizepräsident der Staatsbank der DDR und nachmalige Deutschbanker Edgar Most sagte dazu: Mit dem falschen Umtauschkurs „waren wir endgültig pleite“. Die Preise für DDR-Waren auf dem Weltmarkt stiegen über Nacht um 400 Prozent und wurden damit nicht fit für den Wettbewerb sondern unverkäuflich. Hatte zum Beispiel DKK Scharfenstein zuvor noch für jeden an Quelle unter dessen Konzernlabel Privileg gelieferten Kühlschrank 58 D-Mark Gewinn erwirtschaftet, wurden daraus nun 220 D-Mark Verlust. Und zugleich mußten die Betriebe ihre Beschäftigten jetzt in D-Mark bezahlen und ihre Verbindlichkeiten in harter Währung bedienen. Unter diesen Bedingungen waren selbst zuvor international wettbewerbsfähige DDR-Branchen wie der Schiffs- und der Druckmaschinenbau erledigt. Die gesamtgesellschaftlichen Langzeitwirkungen beschrieb Edgar Most dahingehend, daß die DDR-Wirtschaft 1990 zumindest soweit in Ordnung gewesen sei, daß alles, was der Osten brauchte auch im Osten erwirtschaftet wurde; 20 Jahre später sei das längst nicht der Fall: „Die ostdeutschen Länder sind keine selbsttragende Gesellschaft.“

Wenn die Währungsunion das Todesurteil für die Wirtschaft der DDR war, dann erfolgte die Exekution durch die Treuhand, der die über 8.000 DDR-Betriebe zur Privatisierung übergeben wurden – de facto zur Auslieferung an die westdeutsche Konkurrenz. (Internationale Investoren kamen nur ausnahmsweise und Ostdeutsche mangels finanzieller Mittel praktisch gar nicht zum Zuge.) Das war die Einladung zu einem beispiellosen „Beutezug Ost“, wie der Vorgang jüngst in einer gleichnamigen ZDF-Dokumentation genannt wurde.

Große und mittlere Betriebe wurden verschleudert, indem ihr Kaufpreis nach der sogenannten Ertragswertmethode systematisch heruntergerechnet wurde und dabei der Substanzwert, vor allem Anlagen sowie Immobilien- und Grundbesitz, ebenso systematisch unberücksichtigt blieb. Niedriger Kaufpreis bedeutete raschere Privatisierung, und dafür erhielten Treuhandmanager Sonderzahlungen. Die wollte bei der Treuhand kaum jemand durch lästige Detailprüfungen potenzieller Käufer gefährden. Klondike-Stimmung konnte da umso schneller aufkommen, als Finanzminister Theo Weigel per Erlaß die Treuhandmanager von persönlicher Haftung weitestgehend freigestellt hatte – den Vorstand und den Verwaltungsrat ausdrücklich selbst für Fälle von grober Fahrlässigkeit! In vergleichbarer Weise haben in früheren Zeiten Feldherren ihre Kommandeure und Truppen vor großen Schlachten motiviert, und was darauf folgen kann, großes Schlachten nämlich, weiß man nicht erst seit Tillys Einfall in Magdeburg.

Mit besonderer Chuzpe seitens aller Beteiligten ging Beispiel die Privatisierung des Finanzsektors der DDR über die Bühne. Darüber berichtete die erwähnte ZDF-Dokumentation. So wurde die Ostberliner Stadtbank für den Schnäppchenpreis von 49 Millionen D-Mark an die Berliner Bank verscherbelt, womit diese zugleich 11,5 Milliarden D-Mark an Altkreditforderungen des DDR-Instituts mit erwarb. Bei der Genossenschaftsbank der DDR, die an die DG Bank ging, lagen der Kaufpreis bei 106 Millionen und die Altkreditforderungen bei 15,5 Milliarden D-Mark. Und so weiter, und so fort. Die unglaubliche Beute in diesen Fällen bestand zum einen darin, daß durch die Währungsumstellung die Altkredite der DDR-Banken nicht nur zu D-Mark-Schulden und durch den Umtauschkurs immens aufgewertet wurden, sondern daß die Kreditrisiken nicht auf die Erwerber fielen, sondern der Bund die Rückzahlung der Kredite garantierte. Dafür haftet also der Steuerzahler. So privatisiert man Gewinne und sozialisiert Verluste, und über allem leuchtet leitmotivisch – beziehungsweise wird in die nächste Dimension gebeamt – Brechts schon weiland bloß rhetorische Frage, was der Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer solchen sei.

Die Gesamttätigkeit der Treuhand bezeichnete der frühere DDR-Bürgerechtler und heutige Europaabgeordneten der Grünen Werner Schulz als „das größte Betrugskapitel in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands“. Dieser Einschätzung soll nicht widersprochen werden, aber die historische Dimension des Kapitels Treuhand im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß dürfte damit nicht hinreichend erfaßt sein. Da hat doch letztlich noch einmal so etwas stattgefunden wie die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, von der Karl Marx sagte, sie spiele „in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie“. Im Vergleich zur historischen ursprünglichen Akkumulation ein paar Jahrhunderte zuvor sind dabei die neuen Bundesländer und vor allem ihre Bewohner aber noch sehr glimpflich davon gekommen, wenn man Marx’ Einlassung in „Das Kapital. Erster Band“ als Maßstab heranzieht: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“

Hatte der erste Treuhandchef, Detlev Rohwedder, mit Blick auf die DDR-Wirtschaft noch davon gesprochen: „Der ganze Salat ist 600 Milliarden D-Mark wert.“ und damit gewissermaßen die Zielmarke für die Privatisierungserlöse der Treuhand umrissen – Immobilienwerte waren dabei nicht eingeschlossen –, so hatte die Treuhand dank ihrer sehr speziellen Privatisierungspraktiken bis zum offiziellen Abschluß ihrer Tätigkeit im Jahre 1994 250 Milliarden D-Mark Schulden angehäuft.

Ludolf von Wartenberg, von 1990 bis 2006 Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, formulierte das Fazit aus Sicht des westdeutschen Kapitals: „Es ist … gut gelaufen.“ Denn die von der Treuhand hinterlassenen Schulden wurden von der Bundesregierung unter dem Kanzler der blühenden Landschaften in einem Schattenhaushalt, dem sogenannten Erblastentilgungsfonds, versenkt und sind seither nicht vom Kapital sondern vom Steuerzahler zu begleichen. Von ihren Fernwirkungen her macht dies die Treuhand – wiewohl selbst längst abgewickelt – zu einem Zombie der deutsch-deutschen Vereinigung. Na ja – dann gilt zumindest „de mortuis …“ an dieser Stelle wohl doch eher nicht.