15. Jahrgang | Nummer 2 | 23. Januar 2012

Kriegsgericht in Köpenick!

von Ulrike Krenzlin

Bei Kunersdorf, wo am 12. August 1759 eine Schlacht tobte, wurden König Friedrich II. unter seinem Körper zwei Pferde weggeschossen. Eine Kugel prallte an dessen Tabakdose ab. Sie rettete ihm das Leben. Der Oberbefehlshaber kämpfte mitten unter den Seinen. Der König hatte die Schlacht mit seiner Armee von 49.000 Mann gegen ein Übergewicht von 71.000 verbündeten Russen und Österreichern in aussichtsloser Lage riskant eröffnet. Er verlor sie, mit ihr 19 000 Soldaten. Den „Siebenjährigen“ Krieg setzte er fort.
Könnte mit dem Leitmotiv „Friederisiko“, unter dem 2012 das „Jubiläumsjahr Friedrich 300“ läuft, diese Art von Wagnis des preußischen Staatsmannes gemeint sein? Zielen die Veranstalter mit dem Wortspiel aus Friedrich und Risiko geradezu auf des Feldherrn Neigung zum Risiko in aussichtsloser Lage? Machte nicht Friedrich II. in früheren Würdigungen als Aufklärer, Reformer, Philosoph und Musiker auf dem Thron eine viel bessere Figur? Was steht dahinter, ausgerechnet zum 300. Geburtstag des Monarchen dessen politische Strategien unter dem Zeichen des Wagnisses zu beurteilen? Die Leidenschaft des Königs für das Wagnis ist keine wirklich überraschende Erkenntnis. Jedoch wurde sie kaum je ausgeleuchtet, sondern gern im Dunklen gehalten.
Mit einem Bravourstück zum Thema Risiko eröffnet das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GSPK) das Jubiläumsjahr. Für die Ausstellung „Kriegsgericht in Köpenick!“ sind nach 280 Jahren erstmals alle Akten gehoben und ausgewertet worden. Am authentischen Ort werden sie präsentiert. Denn das „Kriegsgericht“ mit seinen fünf Kammern unter Vorsitz von Achaz von der Schulenburg war aus allen militärischen Rangklassen zusammengestellt. Es tagte vom 25. Oktober bis 2. November anno 1730 im Wappensaal des Köpenicker Schlosses. In diesem Saal ist das Gericht nach seiner Sitzordnung als Kunstwerk installiert worden. Im Auftrag König Friedrich Wilhelms I. sollten 16 Richter  aus den Verhörprotokollen der Dramatis Personae das Urteil vorbereiten. Worum ging es? Um den Fluchtversuch des siebzehnjährigen Kronprinzen ins Ausland. Zur Strafe standen zwei Tatbestände: Majestätsbeleidigung (Crimen laesae Majestatis) als höchstes Staatsverbrechen und die Fahnenflucht mit „Desertions-Komplotteurs“ als höchstes Militärverbrechen. Der König wollte seinem Sohn die Thronfolge aberkennen. Die Richter zeigten Korpsgeist. Couragiert und zwingend erscheint noch aus heutiger Sicht ihre schwierige Arbeit. Am 29. Oktober übergaben sie dem König einstimmig mit Siegel und Unterschriften ihre Verweigerung, den Kronprinzen zu verurteilen. Der Königssohn sei „persona sacra“, für dessen Bestrafung allein die fürstliche Familie und niemand anderes zuständig ist. Für den gens d’armes Kürassier Hans Hermann von Katte verlangten die Richter nach dem Militärrecht die mildere Variante: lebenslange Festungshaft statt Hinrichtung. Der König wies beide Urteile mit den Worten zurück: „Sie sollen Recht sprech(en)u(nd) nit mit den Flederisch vorüber gehen. Da Katte also wohll getahn, soll das Kriegsgerich(t)…ein anderes (Urteil) sprechen.“ Bei der  zweiten Votierung trotzten die  Richter dem König. Alle behielten ihr erstes Urteil ein zweites Mal unverändert bei.
Die Entscheidung, den Kronprinzen als „persona sacra“ zu behandeln, nahm der König wortlos hin. Über Katte fällte er am 2. November, nach dem Gesetz stand es ihm das zu, selbst das Urteil. Es lautete auf Hinrichtung. Gnade wurde nicht gewährt. Hermann von Katte ist in Küstrin am 6. November in der Früh 7 Uhr 15 mit dem Schwert gerichtet worden. Der Kronprinz büßte seine Strafe in der Festung Küstrin bis 1731 ab. Nachdem er einen Sühneeid abgeleistet hat, begnadigte ihn der König.
Die Dokumentation dieses Falls kommt einer Sensation gleich. Im Jubiläumsjahr kann sie kaum überboten werden. Im Katalog liegen nun auch die Küstriner Akten vor. Ihre Lektüre ist steinerweichend. Stellen sie doch alles bisher Bekannte, vor allem die Anekdotenliteratur zum Fall Katte in den Schatten. Auch die berühmteste Überlieferung aus Franz Kuglers „Geschichte Friedrichs des Großen“ (1840) mit den fulminanten Holzstichen von Adolph Menzel. Theodor Fontane, den das erschütternde Schicksal Kattes immer wieder beschäftigte, kannte es aus der Perspektive der Familiengeschichte der von Kattes. Dennoch konnte er daraus dem Kürassier aus dem Regiment Gens d’armes im Spreewaldteil seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ein unvergessliches literarisches Denkmal setzen.
Welche Thesen ergeben sich aus der Dokumentation des Geheimarchivs zu den umstrittenen Urteilen?
1. Der Fluchtversuch des Kronprinzen und dessen juristischen Konsequenzen lassen sich nicht schlüssig aus dem Generationenkonflikt deuten, der sich zwischen einem strengen Vater und seinem kunstsinnigen Sohn Fritz entzündete.
2. Der Soldatenkönig war zwar streng, aber kein Grobian ohne musisches Verständnis wie ihn Jochen Klepper im Roman „Der Vater“ beschrieben hat. Friedrich Wilhelm I., der zweite König in Preußen, tritt als eine vielseitige Herrscherpersönlichkeit hervor. Er reformierte den Staat auf allen Ebenen, schuf in Europa die drittgrößte Armee, ohne je einen Angriff herauszufordern.
3. Der Skandal im preußischen Königshaus erschütterte ganz Europa. Mit ihm brach die ungesicherte Stellung des neuen Königreichs zu den alten Mächten Europas auf. Spanien, England und Frankreich sowie Russland reagierten mit politischen Mitteln. Kurfürst Friedrich III., ab 1701 Friedrich I. König in Preußen, hatte Kaiser Karl VI. in Wien die Königswürde abgerungen. Preußen war auf der Landkarte nur ein Flickenteppich. Gnadenlos wurde der Newcomer von den Alt-Mächten zum Spielball ihrer Politik gemacht. Auf die Heiratspläne für ihre Kinder, die das Königspaar am Berliner Hof schmiedete, um die Machtpolitik ihres Staates zu festigen, nahm die französische und kaiserliche Diplomatie direkten Einfluss. Königin Sophie Dorothea, aus dem Reichsadelsgeschlecht Hannover-Braunschweig, sah sich in Preußen unter Wert repräsentiert. Daher wollte sie die Beziehung zu ihrem Bruder, dem Kurfürsten von Hannover, späteren König Georg I. von Großbritannien, zur Stärkung Preußens nutzen. Hinter dem Rücken des Königs bereitete die Unbefugte eine Doppelhochzeit für Friedrich und Tochter Wilhelmine am englischen Hof vor. Diese Idee veranlasste den Kronprinzen zur Flucht. Denn König Friedrich Wilhelm I. war an die Reichspolitik gebunden. Für seine Königswürde erwies er sich dankbar. Daher unterstützte er die „Pragmatische Sanktion“, mit der Kaiser Karl VI. die Nachfolge seiner Tochter Maria Theresia auf den Thron sicherte. Der preußische König unternahm gemeinsam mit seinem Sohn eine Werbereise für den Kaiser durch Süddeutschland. Auf dieser Reise wollte der Kronprinz fliehen. Die Flucht sollte über Frankreich, Amsterdam nach London führen. Aus dem „Lerchennest“ bei Steinsfurt im Rhein-Main-Gebiet wollte Friedrich am 5. August nachts ein halb drei Uhr mit dem Stalldiener von Keith und zwei Pferden fliehen. Die Flucht wurde vereitelt. Der Plan war längst verraten. In der Festung Wesel folgte Friedrichs Verhaftung.
4. Der französische Gesandte Comte de Rottembourg hatte bereits 1726 einen Staatsstreich mit Absetzung König Friedrich Wilhelms I. vorgeschlagen. Friedrich und dessen Komplotteurs waren vom Diplomaten Güter im Elsaß zur Flucht angeboten worden. Dann sollte es nach Paris und von dort über Amsterdam nach England gehen. Der Kaiserliche Diplomat von Seckendorff stützte im Interesse Österreichs die katholische Fluchtvariante. Friedrich habe nach Wien fliehen, zum Katholizismus konvertieren wollen, um ins Kaiserhaus einzuheiraten. Diese Pläne waren Gegenstand der Verhöre. Die Regenten aller europäischen Länder setzten sich für den Kronprinzen ein. Ihre Fürsprachen trieben den Keil zwischen Vater und Sohn noch tiefer. Die Richter hatten schon gegen den König votiert.
5. Der Fluchtversuch des Kronprinzen Friedrich stellte die Position seines Königs in Preußen grundsätzlich in Frage. Aus dem Aktenmaterial geht hervor, dass Königsamt und Staat dem jungen Königreich verloren gegangen wären, für den Fall, dass Friedrich Wilhelm I. den vom Sohn verursachten Skandal bagatellisiert hätte. Die Altmächte warteten auf Fehler, die das neue Königreich zu Fall brächten. Um diesen Staat zu sichern, fällte der König sein Urteil über Katte: „…soll ihm gesagt werden, dass Seiner Königlichen Majestät es leydt thäte, es wäre aber besser, dass er stürbe, als die Justiz aus der Welt käme.“ Als Friedrich II. 1740 an die Macht kam, erinnerte er sich an sein erstes Lebens-Risiko. Er bestellte 1740 die Akten der Causa von 1730. Zur Stärkung des übernommenen, immer noch kläglichen Königreichs unter den Alten Mächten wählte als Mittel seiner der Politik: das Risiko.

Kriegsgericht in Köpenick ! Anno 1730: Kronprinz – Katte – Königswort, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin im Schloss Köpenick, bis 4. März 2012, Di bis So 10 – 18 Uhr; Katalog 26,00 Euro.