von Katharina Kaaden
Lieber Herr Redakteur, ich weiß, Sie warten auf die Rezension, die ich nicht liefern kann, zumindest keine herkömmlichen Sinnes. Könnten wir uns stattdessen auf einige höchst subjektive Eindrücke – von keinem literaturwissenschaftlichen Hauch gestreift und gänzlich ungerecht – einigen, so wären es die folgenden.
Zu Zeiten unüblicher November-Lichtfülle habe ich mich also an die „Zeiten des abnehmenden Lichts“ gemacht und war insofern von Anfang an über Kreuz mit dem Ganzen. Eingestimmt, im Schein der Leselampe einem Familien-Epos „Buddenbrookscher Güte“ folgen zu können, lief dann auch der Rest anders als gedacht. Das Prädikat „Wenderoman“ – inflationär verliehen und immer ist es der, darunter macht es das Feuilleton nicht – nimmt man zunächst als das übliche Klappern des Handwerks. Kurioser noch geraten die Komparative: Sind Buch-Debütantinnen jung, werden sie gern zum Fräuleinwunder gekürt, ist der Debütant reiferen Jahrgangs und wagt sich zudem an mehr als eine Generation, müssen immer die Buddenbrooks herhalten. Aber wer weiß schon, wieviel vom quellenden Beliebigkeitsbrei ein Feuilletonredakteur übers Jahr zu verkosten hat, dass ihm die Vergleiche so kühn geraten … Kurzum: Ich hab mich zwar nicht bei den Buddenbrooks eingefunden, aber Eugen Ruges Sippschaft war auch nicht ohne.
Dennoch bleibe ich auf dem Boden der Tatsachen, aber merke an: Danke, verehrter Redakteur, Sie haben mir ein Werk von beträchtlicher Güte zugesendet. Ob es zu Recht preisgekürt wurde, vermag ich nicht zu beurteilen, in seinen Bann zu ziehen vermochte es mich aber durchaus. Eines rühme ich gleich zu Beginn, weil immer seltener zu verzeichnen: ein gutes Lektorat/Korrektorat (möglicherweise beides?!). Oder wir haben es mit einem Autor zu tun, der in der deutschen Sprache wirklich sattelfest ist. Jedenfalls muss sich das Auge nicht – wie mittlerweile üblich – an kruden Fehlern und satztechnischem Nonsens stoßen.
Technisch-formell findet man gut rein in die Familienkonstellationen, die Ruge vorführt, und auch, wenn es der Leser erfreulicherweise nicht mit einer turm-artigen Personage zu tun bekommt, wird ihm selbige im Anhang zum besseren Durchblick aufgelistet. Was nützlich ist, denn der Autor erzählt nicht chronologisch, sondern führt den Leser in einer Art Schnitt-Technik durch die Zeiten. Deren Jahreszahlen bilden die Kapitel-Überschriften, somit ist immer klar, in welche Zeit man hineinstolpert. (Schnitt-technisch zu arbeiten ist eine grassierende Modeerscheinung, die dem guten alten Erzählstil – sowas Drögem wie den Buddenbrooks zum Beispiel – zu neuerlichem Glanz verhilft. Aber ich schweife ab.) Es bleibt dahingestellt, ob Ruges Buch eine traditionelle Erzähltechnik besser bekommen wäre.
Neben Formellem gibt’s natürlich auch Inhalt. Und der startet rasant, unsereiner wird sogleich an- und hineingezogen, man spürt und riecht das Verflossene (das die Medien unerschütterlich „Ehemaliges“ heißen), auch dann, wenn man die Zeiten nicht zur Gänze selbst durchlebte – es gab schließlich Erzählungen im Familienkreis und andere Bücher auch. Denn, ja, die Dinge gleichen sich: Sogar in differenten Systemen weichen die Meinungen und Handlungen der Jungen von denen der Alten gern ab, leiden Nachfolgegenerationen mitunter an den Ewiggestrigen. Auch wenn nicht jeder seine Altvorderen im Widerstand, im Lager oder später in der Nomenklatura hatte, und diese Gegebenheiten natürlich Ruges Buch Spezifisches verleihen. Der Mensch an sich jedoch ist erschütternd unveränderbar, egal, durch welche Lichtverhältnisse er geht.
Ruge baut sein Familienidyll, das wie üblich keines ist, geschickt. Er erzählt knapp, aber nicht lakonisch, er blickt kritisch, aber nicht ohne Milde auf die Seinen und ihre russischen Anteile. All dies mit einem Humor, der, obwohl er Klischees nicht scheut und auch gelegentlich Plattitüden streift, vor allem aber die Absurditäten der Gegebenheiten aufblitzen lässt, in denen seine Protagonisten agieren. Sprachliche Überhöhungen setzt er maßvoll und gekonnt ein, sie haben mich nicht wenig gelächert.
Die Anfangsspannung indes sinkt auf der Strecke ab, die Dinge verläppern sich mitunter, und Konstruiertes wird zu deutlich. So kommt auch Ruge nicht ohne Passagen mit den bösen F-Wörtern und eingestreuten Rezepten aus. Glaubt auch er, dies bösen Leserbuben, vermeintlichem Verlegerverdikt oder schnödem Zeitgeist schuldig zu sein? Es soll durchaus noch Leser geben, ich gehöre gern dazu, die solches Kalkül langweilt. Eine tiefere Ausleuchtung der Charaktere wäre mir lieber gewesen, nicht immer kommen diese über holzschnittartige Konturen hinaus oder wird ihr Handeln zu unmotiviert ins Spiel gebracht.
Das Endkapitel packte mich dann doch wieder an, weil es in seinen Bildern stark war, seien sie nun konstruiert oder biographisch untermauert. Ruge endet mit seiner eigenen Generation in der Figur des Alexander Umnitzer. Dieser steht am Ende vor der Frage: Was nun? Das kommt im richtigen Leben nicht selten vor, deshalb ist es natürlich statthaftes Recht jedes Autors, auch seine Leser in ein vermeintliches Nichts zu entlassen. Ich komme nicht umhin, auf das letzte Kapitel ein wenig näher einzugehen.
Alexander, dem Söhnchen Sascha, sind offenbar alle im Familienverbund gut, während sie den ganz normalen Familienwahnsinn leben: sich belügen, einander nicht akzeptieren oder verstehen, aber nicht drüber reden, sich hintergehen oder spinnefeind sind und also erstarren im Nicht-Sehen-Wollen und So-Tun-Als-Ob. Im Gesellschaftlichen wie im Privaten werden Traditionen gepflegt, die ihren guten Sinn längst verloren haben. Sascha flieht vor all dem und haut ab, geht in den Westen. Seine Familie reagiert wie immer: Sie verdrängt zunächst, was nicht wahr sein darf. Aber dieser letzte Widerspruch wird sie sprengen wie ihr ganzes Land. Alexander lässt mit seiner Flucht zwar Gesellschaft, Lügen und Familienzwist hinter sich, aber auch den eigenen Sohn aus einer gescheiterten Beziehung – als fahrengelassene Hoffnung? Wie auch immer, es treibt ihn nach Mexiko. Das Land, aus dem die Großeltern mit jener Widerstandslegende heimkehrten, die ihnen Posten und Pfründe sicherte, hat die Großmutter nostalgisch konserviert. Aber Alexander gerät nicht in die romantische Erinnerungsidylle seiner Kindheit, sondern in eine Gesellschaft, in der er, zudem von einer Krankheit befallen, zunächst strandet, ob dauerhaft oder für den Moment – Ruge bleibt merkwürdig vage. Aber die Atmosphäre, die er beschreibt, ist eindringlich und dicht. Alexander ist angekommen, gehört aber nicht dazu, ist durch die Krankheit zur Untätigkeit verdammt. Er hängt in der Hängematte (?) und beobachtet, muss sich erst zurechtfinden und sortieren. Ist das Neue doch nur das Alte, Kranke, so wie die Alten sungen? Mit starken Bildern gibt uns der Autor und seiner Hauptfigur den Rest. Ob sie stimmig sind und ob Ruges Metaphern nicht doch ein wenig zaunlattenhaft geraten sind, sei dahingestellt. Ob Alexanders Krankheit überwunden wird, ob er sich behaupten kann im neuen Leben, erfahren wir nicht. Der Autor entlässt uns in aller Ratlosigkeit ins grelle mexikanische Licht.
Das, was im richtigen Leben selten eintrifft, dass Dinge einem gelungenen Ende zusteuern, überlässt die Literatur gern dem Leser und seiner hoffnungsvollen Fantasie, falls er sie aufzubringen vermag. Das ist ihr gutes Recht, und mir persönlich ist jedes offene lieber als ein ins Verlogen-Versöhnliche geschriebenes Ende. Zudem hat Ruge einfach beherzigt, was schon Profis gern zitierten: offene Fragen bei geschlossenem Buchdeckel … (Oder so ähnlich. Im übrigen soll es für Autoren von beträchtlichem Amusement sein, wenn ihnen hernach gedeutet wird, was sie zusammengeschrieben haben.)
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts, Rowohlt, Hamburg 2011, 432 Seiten, 19,95 Euro
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