von Norbert Podewin
Karl Marx, der bekanntlich ab 1846 in Berlin Jurisprudenz studiert hatte, kehrte in der Nacht vom 13. zum 14. November 1961 – also genau vor 50 Jahren – nach Berlin zurück, und das geschah so.
Am 14. Februar 1956 hatte in Moskau der in aller Welt mit Spannung erwartete XX. Parteitag der KPdSU, der erste nach Stalins Tod am 5. März 1953, begonnen. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Nachfolge waren stürmisch verlaufen. Der enge Gefolgsmann und allmächtige Geheimdienstchef Lawrenti Berija war am 23. Dezember 1953 als „Verräter“ erschossen worden.
Der XX. Parteitag verlief bis zum 24. Februar nach bekanntem Ritual. Auch die SED-Delegation unter Leitung von Walter Ulbricht überreichte zu Beginn die obligate Grußbotschaft mit der bis dato üblichen Losung „Es lebe die unbesiegbare Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin!“ Am 25. Februar jedoch, dem abschließenden Tag, kam in einer Geheimsitzung ausschließlich der Delegierten der KPdSU der nahezu totale Umbruch. In seiner legendären Rede brach Nikita Chruschtschow mit Stalin und setzte sich insbesondere mit der Zeit der Massenrepressionen auseinander.
Die ausländischen Gastdelegationen des Parteitages erfuhren von den Verbrechen der Stalinzeit – so hielt es später der SED-Teilnehmer Karl Schirdewan fest – in der Nacht; sie wurden von sowjetischen Emissären geweckt, die den brisanten Text vorlasen. Es konnten nur sinngemäße Aufzeichnungen gemacht werden, und erst später erhielten die Parteiführungen den Wortlaut.
Dass allein die mehr oder weniger öffentlich erfolgte Entgötzung Stalins Langzeitwirkung haben musste, war Walter Ulbricht klar. Es galt deshalb, die Folgen im eigenen Machtbereich schnellstens einzugrenzen. Einen der ersten Schritte beschloss das Politbüro am 22. Mai 1956 – die Umbenennung des „Marx-Engels-Lenin-Stalin-Instituts“ in „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML)“.
Die Prachtstraße der DDR-Hauptstadt, die den Namen des nun Verfemten trug, und seine dortige, seit der Einweihung am 3. August 1951 stets mit Blumen geschmückte Statue, die ein Blickfang für alle Passanten war, blieben allerdings noch einige Jahre unbehelligt. Erst nachdem die KPdSU auf ihrem XXII. Parteitag (17. bis 31. Oktober 1961) die Verbannung von Stalins Namen aus der sowjetischen Öffentlichkeit und die Entfernung seines Leichnams aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz beschlossen hatte, schritt die SED-Führung zur Tat. Die vorgenommenen Veränderungen verdienten in diesem Fall den Namen einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Am Abend des 13. November 1961 gingen die Bewohner in der Stalinallee zu Bett. Beim Aufwachen am 14. November waren sie zu Anwohnern der Karl-Marx-Allee geworden. Die neuen Straßenschilder befanden sich an allen Straßenkreuzungen und an Stelle des Stalin-Monuments grüßte dort fortan eine steinumrandete Freifläche. Ein spezieller Bautrupp hatte den Abbau besorgt und die Statue zu einem Einschmelzbetrieb transportiert. Zeitungsleser wurden über den nächtlichen Geheimcoup unter der Überschrift „Mitteilung des Magistrats von Groß-Berlin“ informiert: „Nach Kenntnisnahme der Materialien des XXII. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hat der Magistrat von Groß-Berlin in seiner Sitzung vom 13. November 1961 in Bezug auf die in der Periode des Personenkults Stalins erfolgten Verletzungen der revolutionären Gesetzlichkeit und der daraus entstandenen schweren Folgen nachstehende Maßnahmen beschlossen:
1. Der Teil der bisherigen Stalinallee vom Alexanderplatz bis zum Frankfurter Tor wird in Karl-Marx-Allee umbenannt.
2. Der Teil der Stalinallee vom Frankfurter Tor in östlicher Richtung erhält den Namen Frankfurter Allee.
3. Das Denkmal J. W. Stalins wird entfernt.
4. Der S-Bahnhof Stalinallee erhält die Bezeichnung: S-Bahnhof Frankfurter Allee. Dementsprechend wird auch der U-Bahnhof Stalinallee in U-Bahnhof Frankfurter Allee umbenannt.
5. In der Bezeichnung des VEB Elektroapparatewerke J. W. Stalin wird der Zusatz ‚J. W. Stalin’ gestrichen. Der Betrieb trägt in Zukunft den Namen: VEB Elektroapparatewerke Berlin-Treptow.“
Damit war zumindest optisch der einstige Heros getilgt. Die ideologische Bewältigung dagegen sollte sich als Jahrhundertaufgabe erweisen. Die Bewohner der DDR-Hauptstadt reagierten auf den nächtlichen Namenswechsel zumeist sarkastisch. Ihre Gäste führten sie an die Leerstelle und verbanden das mit der Frage: „Rate mal, wer hier noch vor kurzem stand?“ Am 14. März 1983 kehrte dann der nunmehrige Namenspatron in einer offiziellen Feierstunde noch ein weiteres Mal heim. Zu Ehren des 100. Todestages von Karl Marx wurde eine von dem Bildhauer Will Lammert geschaffene Büste an der Südseite des Strausberger Platzes enthüllt. Nicht annähernd so pompös wie das entfernte Denkmal des zeitweiligen Namensgebers ist sie bis in die Gegenwart Anziehungspunkt für die zahlreichen in- und ausländischen Besucher der Karl-Marx-Allee, die inzwischen auch als das längste zusammenhängende Baudenkmal Europas weltweite Anerkennung als Kulturerbe gefunden hat.
Schlagwörter: Berlin, Karl-Marx-Allee, Norbert Podewin, Stalin, Stalinallee, XX. Parteitag