von Christoph Butterwegge
Versprochen hatten CDU, CSU und FDP in dem nach ihrem Wahlsieg 2009 geschlossenen Koalitionsvertrag „sozialen Fortschritt“, den sie „durch Zusammenhalt und Solidarität“ erreichen wollten. Den bereits im Titel dieses Dokuments („Wachstum – Bildung – Zusammenhalt“) enthaltenen Anspruch, bei einem Wirtschaftsaufschwung mehr für die Zukunftsperspektiven der jungen Generation zu tun und die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken, löste das Regierungsbündnis jedoch nicht ein. Vielmehr hat die „bürgerliche Wunschkoalition“ den in der Weltwirtschaftskrise 1974/75 begonnenen „Um-“ beziehungsweise Abbau des Wohlfahrtsstaates durch zahlreiche Leistungskürzungen und Strukturveränderungen fortgesetzt, teilweise sogar verschärft.
Über „soziale Trostpflaster“ an Transferleistungsempfänger, denen es im Unterschied zu anderen Langzeitarbeitslosen noch relativ gut geht, kamen CDU, CSU und FDP nie hinaus. Beispielsweise wurde das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher auf 750 EUR pro Lebensjahr verdreifacht und die Klausel gestrichen, wonach eine selbstgenutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehörte, wenn sie eine „angemessene Größe“ hatte. In Ostdeutschland hat aber nur etwa die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann, und höchstens eine winzige Minderheit nennt eine Immobilie ihr Eigen. Neben den unmittelbar Begünstigten, die in erster Linie aus der Mittelschicht stammen dürften, weil sie vor einer längeren Arbeitslosigkeit private Altersvorsorge betreiben konnten, profitierten hauptsächlich Versicherungskonzerne und Banken von den beschlossenen Maßnahmen, denn es handelt sich um ein schlagendes Verkaufsargument, wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei Hartz IV geschützt ist.
Während das Bundesverfassungsgericht darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse von in Hartz-IV-Haushalten lebenden Kindern bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden, trieb CDU, CSU und FDP stärker die Sorge um, „Leistungsträger“ und „Besserverdiener“ könnten – auch für ihre Kinder – zu viel Steuern zahlen. Denn sie beschlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu verringern, sondern den Steuerfreibetrag für Kinder von 6.024 EUR zunächst auf 7.008 EUR und später auf die für Erwachsene geltende Höhe von 8.004 EUR anzuheben sowie das Kindergeld von 164 EUR auf 184 EUR monatlich zu erhöhen. Dabei handelte es sich mitnichten um eine Entlastung „der“ Familien, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Während ein Spitzenverdiener mit Kind jährlich 443 EUR Steuern „spart“ und ein Normal- oder Geringverdiener 240 EUR mehr Kindergeld erhält, wurde die Not der alleinerziehenden Mütter im Hartz-IV-Bezug kein bisschen gelindert.
Am 1. Januar 2010 trat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Kraft, dessen „Korrekturen“ der Unternehmens- und Erbschaftsteuerreform den Vorteil boten, dass sie von der breiten Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen wurden als massive Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP forderte. Die schwarz-gelbe Koalition nahm Regelungen zurück oder weichte sie auf, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmensbereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten. So etwa die Einführung der „Zinsschranke“ und der Mindestbesteuerung sowie die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung. Erben von Familienunternehmen wurden noch mehr entlastet (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Befreiung von der betrieblichen Erbschaftsteuer führt) und nahe Verwandte (Geschwister, Nichten und Neffen) beim Erbschaftsteuersatz besser gestellt.
Auf ihrer „Sparklausur“ am 6./7. Juni 2010 schnürten die Regierungsparteien ein „Zukunftspaket“, das Sozialleistungsbezieher hart traf. Hingegen stellten die Maßnahmen zur Erhöhung/Erhebung von Steuern und Abgaben im Unternehmens- und Finanzmarktbereich entweder bloße Luftbuchungen dar, weil sie – wie die Bankenabgabe, die Finanztransaktionssteuer und die Brennelemente- beziehungsweise Kernbrennstoffsteuer – im Rahmen eines „Restrukturierungsfonds“ den zu Belastenden selbst zugute kommen oder nicht oder nur ansatzweise realisiert oder nach dem schweren Unfall im Atomkraftwerk Fukushima sogar wieder in Frage gestellt wurden. Sie beinhalten zudem ausgesprochen vage klingende und mittlerweile enttäuschte Versprechungen – wie die durch eine Strukturreform der Bundeswehr angeblich frei werdenden Mittel oder wie eine Verschiebung des Baubeginns für das Berliner Stadtschloss, die finanziell kaum ins Gewicht fallen.
Hartz-IV-Betroffenen wurde das Elterngeld gestrichen oder auf die Transferleistung angerechnet. Während der Höchstbetrag von 1.800 EUR im Monat bestehen blieb, sank die Lohnersatzrate beim Elterngeld ab einem Monatsnettoeinkommen von mehr als 1.240 EUR von 67 Prozent auf 65 Prozent. Dies bedeutete, dass Einkommensbezieher im mittleren Bereich geringe, ausgerechnet die Besserverdienenden jedoch keinerlei Einbußen gegenüber dem Status quo zu verzeichnen hatten. Um dem Vorwurf der sozialen Schieflage ihres „Sparpaketes“ zu begegnen, beschloss die Koalition erst während des Gesetzgebungsverfahrens, das Elterngeld auch „Reichensteuerzahlern“ vorzuenthalten, also den sehr wenigen Menschen mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von mehr als 250.000 EUR beziehungsweise 500.000 EUR bei Ehepaaren. Dadurch wurde die Glaubwürdigkeit der Regierungsparteien allerdings keineswegs wieder hergestellt.
Anstatt die Hartz-IV-Regelsätze, wie vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 verlangt, mittels einer schlüssigen Methodik zu berechnen und neu festzulegen, nutzte das zuständige Arbeitsministerium die durch das Urteil entstandene Lage für gravierende Verschärfungen: So können die Bundesländer ihre Kommunen seither ermächtigen oder verpflichten, die „angemessenen“ Kosten für Unterkunft und Heizung per Satzung festzulegen. Mietpauschalen dürften noch mehr Hartz-IV-Empfänger veranlassen, ihre Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen. Wer dadurch einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation Vorschub leistet, darf sich nicht wundern, sollte es hierzulande demnächst „Jugendunruhen“ wie kürzlich in Großbritannien geben, wo die Gettobildung bereits viel weiter fortgeschritten ist.
Überhaupt nicht erhöht wurden die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, die man mit einem „Bildungs- und Teilhabepaket“ abspeiste, das einen Wert von 10 EUR pro Monat hat. Teilweise kam es durch das „Bildungs- und Teilhabepaket“, dessen Umsetzung große Probleme aufwirft, sogar zu Verschlechterungen bei der Mittagsverpflegung und der Vereinsmitgliedschaft von Kindern, weil bisherige, großzügigere Programme in einzelnen Kommunen aufgrund der Bundesregelung eingestellt werden mussten. Am 1. Januar 2012 steigen die Regelbedarfe der Kleinkinder zwar von 215 auf 219 EUR, die Höhe der Regelbedarfe von Über-5-Jährigen und von Jugendlichen (251 EUR / 287 EUR) bleibt aber wie schon in den beiden Vorjahren unverändert, was zeigt, dass CDU, CSU und FDP trotz einzelner Leistungsanhebungen sowie aller wohlfeilen Familien- und Sozialrhetorik gerade nicht die Armut von jungen Menschen lindern.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ in 4., überarbeiteter und erweiterter Auflage im VS – Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) erschienen.
Schlagwörter: CDU/CSU, Christoph Butterwegge, FDP, Hartz IV, Wachstumsbeschleunigungsgesetz