von Sandra Beyer
Der 30. August 2009 wurde als großer Tag des Politikwechsels in Japan gefeiert. Nach 40 Jahren Herrschaft der Liberaldemokratischen Partei (LDP) wurde die neue Demokratische Partei (DPJ) als Erfrischung gegenüber der mit Korruptionsskandalen gebeutelten konservativen Partei empfunden. Bereits Anfang November 2010 war die Zustimmung für die DPJ unter dem damaligen Premierminister Naoto Kan jedoch auf 35 Prozent gesunken. Gerade in Wirtschaftsfragen traute die Bevölkerung der Regierung nicht mehr.
Trotzdem bleibt die Zentralregierung in Tokyo meist stabil. Denn die Mischung aus Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahllisten in regionalen Blöcken ermöglicht den großen Parteien einen gesicherten Einzug in das japanische Unterhaus. Hinzu kommt, dass die Wahlkreise nach wie vor nicht der Bevölkerungsentwicklung angepasst worden sind und die ländlichen Präfekturen gegenüber den Ballungsräumen bevorteilt werden. Auch ein gesellschaftlicher Konservatismus führt zu Strukturen, in denen Menschen ausdauernd in der Politik und Verwaltung bleiben. In das massive Parlamentsgebäude ziehen Politikerfamilien ein, die seit Jahren in den Wahlkreisen mit Wirtschaft und Kultur eng verbunden sind. Diese vom Wahlvolk legitimierte Vererbung der Parlamentssitze hat auch in den Parteien zu Gruppenbildungen geführt, in die junge Politiker hineinwachsen. Diese Gruppen, in der LPD und der DPJ Faktionen genannt, probieren gern kleine Aufstände. Jedoch versuchen die Parteien durch Einbindungen und Rotationsverfahren diese Flügelkämpfe einzudämmen. Aus diesen Gründen gilt die Politik in Japan als noch schmutzig, und Käuflichkeit wird mehr als die Regel denn die Ausnahme gesehen. Dabei ist die enge Verzahnung von Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren in jedem anderen Gebiet nicht nur gern gesehen, sondern wird sogar gefördert. Die lange Regierungszeit der LDP führte unter anderem zum so genannten „Eisernen Dreieck“, das die Verzahnung von Politik, Wirtschaft und Bürokratie meint, die sich gegenseitig subventionieren und damit kontrollieren.
Wirtschaftlich ist Japan eng mit den Nachbarländern und den USA verbunden, jedoch spielten die Nachkriegs- und die nur punktuell aufgearbeitete eigene Geschichte eine unrühmliche Rolle in diesen Beziehungen. Als vom 13. und 14. November 2010 die APEC-Staaten (Asia-Pacific Economic Cooperation) mit den USA in Yokohama zum Thema des FTA (Free-Trade-Agreement) tagten, forderten die Medien, dass sich Naoto Kan zu Zollbestimmungen bei Reisimporten verhielte. Denn Thailand und Südkorea verlangten die Senkung von Zöllen auf eben jenes Nahrungsmittel. Jedoch basiert das japanische Selbstverständnis gerade auf dem Reisanbau, auch wenn das Land selbst eine Industrienation ist. Eine wichtige religiöse Rolle im Jahresablauf spielt die Aussaat des ersten Reises durch den Kaiser. Landwirte fürchteten zu Recht, dass der billigere Reis aus Südostasien die eigene Wirtschaft empfindlich schwächen würde. Die Regierung lehnte zur gleichen Zeit eine Erhöhung der Subventionen ab.
Ein weiterer Schreck für die japanische Wirtschaft und damit die Aktienkurse war US-Präsident Barack Obamas Ankündigung am 13.11. in Yokohama, sich Südkorea und China zuzuwenden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Südkoreas Automobilindustrie Japan vom ersten Platz verstoßen. Eine solche Aussage auf japanischem Boden wurde in den Zeitungen als Warnung gesehen, denn am 28.11.2010 fanden Gouverneurswahlen auf Okinawa statt. Seit dem Vertrag von San Francisco 1952, der die Insel für 20 Jahre formell unter US-amerikanische Verwaltung stellte, gilt sie als Zankapfel in den diplomatischen Beziehungen der beiden Länder. Washingtons Pläne, die Seebasen 2014 von Okinawa nach Guam zu verlegen, beunruhigen die Wirtschaft der Insel, da 30 Prozent der Bevölkerung von der Anwesenheit des amerikanischen Militärs leben. Außerdem gilt sie als eine der ärmsten Präfekturen Japans. Als kurz vor der Wahl, am 23.11.2010, Raketen der Volksrepublik Korea die südkoranische Insel Yeonpyeong angriffen, weil Pyonyang durch die Anwesenheit von US-amerikanischen Flugzeugträgern nördlich der entmilitarisierten Zone provoziert wurde, fühlten sich Japans Medien und die Befürworter einer amerikanischen Militärpräsenz in ihrer Angst vor den asiatischen Nachbarländern bestätigt. Die Verlegungspläne erfreuten jedoch die Bevölkerung in Orten wie Futenma, der größten Militärbasis der Insel, welche dann folgerichtig einen Gegner der militärischen Präsenz aus der LDP als Bürgermeister wiederwählte. Mittlerweile wurde die Verlegung, die ein offenes Geheimnis in Japan ist, bereits auf 2017 verschoben.
Minister, mehr jedoch Premierminister, stolpern über Skandale und Naturkatastrophen. Als am 11.3.2011 das Erdbeben und der folgende Tsunami den Nordosten des Landes verwüsteten, waren die Folgen für Wirtschaft, Natur und Menschen besonders für die Regierung nicht absehbar. Da Japan sich selbst für erdbebenerfahren hält und schon das große Awaji-Hanshin-Erdbeben überstanden zu haben glaubte, waren die ersten Reaktionen halbherzig. Dass Kobe, das Epizentrum des Bebens von 1995 noch heute als eine der ärmsten und wirtschaftlich schwächsten Gegend Japans gilt, wird dabei gern ignoriert. Die Kritik an der Regierung wurde schnell laut, weil Premierminister Kan sich nur vage zu den ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen äußerte. Erst am 2.5.2011 wurden vier Billionen Yen im ersten Nachtragshaushalt für die Soforthilfe eingestellt. Im Juni mussten weitere zwei Billionen Yen durch Finanzminister Yoshihiko Noda in das Parlament eingebracht werden. Auf Druck der eigenen Partei trat Kan am 2.9.2011 zurück, woraufhin Noda zum dritten Premierminister nach Yukio Hatoyama und Kan seit den Unterhauswahlen 2009 ernannt wurde.
Am 21.10.2011 beschloss das Kabinett im dritten Nachtragshaushalt weitere 12 Billionen Yen zur Unterstützung der Kommunen im Nordosten. Bisher gehörte zu Japan den Ländern, die durch Ausgabe von Staatsanleihen Schulden bei der eigenen Bevölkerung machen, um solche politischen Maßnahmen zu umgehen. Die Neuverschuldung beträgt 200 Prozent im Jahr. Doch im dritten Nachtragshaushalt wurden Kürzungen der Sozialausgaben und Steuererhöhungen festgelegt, obwohl das Land über zirka 500 Milliarden an Staatsreserven verfügt. Nur die Kommunistische Partei Japans fordert zurzeit, fünf Prozent davon zu verkaufen, um den Aufbau der betroffenen Regionen zu unterstützen. Japans Wirtschaft lebt von Exporten von Waren von gutem Ruf, jedoch schwächt der starke Yen die Außenhandelsbilanz. Das Land investierte Januar 2011 in den europäischen EFSF und hält zurzeit 20 Prozent der Bonds. Deswegen drängte es am 14.10.2011 auf dem G20-Gipfeltreffen mit den Finanzministern in Paris auf eine zügige Umsetzung der Bankenrettung, denn es gab vor, aus den Fehlern der eigenen Bankenkrise in den neunzehnhundertneunziger Jahren gelernt zu haben. China hat Japan mittlerweile zwar den Rang des größten Investors in der Entwicklungspolitik, besonders in Afrika, abgelaufen, aber noch jetzt verbindet Japan die eigene wirtschaftliche Entwicklung mit der Hilfe für andere.
Seit Fukushima wird auch öffentlich über den verstärkten Import selbst von Nahrungsmitteln gesprochen. Das stellt ein Novum, aber auch einen Tabubruch in der Tradition eines kollektiven Miteinanders dar. Wie sich die Krise des Euro, die Erstarkung der Nachbarländer und die eigene Verwicklung von Politik und Wirtschaft auf die japanische Gesellschaft nach der Katastrophe auswirken werden, ist schwer abzuschätzen. Gerade junge Menschen gehen auf die Straße, diskutieren über Konsumverhalten und rufen nach Veränderungen. Diskussionen zu regenerativen Energien und dem eigene Konsumverhalten sind durch die Katastrophe ebenso ins öffentliche Bewusstsein gekommen wie die Verzahnung von Energiekonzernen und Politik. Doch werden sich diese politischen und wirtschaftlichen Strukturen in Japan nur langsam von demonstrierenden und wütenden Jugendlichen bewegen lassen.
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