14. Jahrgang | Nummer 22 | 31. Oktober 2011

Bildungsfragen

von Erhard Crome

Der Landesvorstand der Partei Die Linke von Mecklenburg-Vorpommern hatte sich dazu verstanden, den Landesparteitag vor der Landtagswahl, die turnusmäßig im September stattfand, am 13. August 2011 durchzuführen. Am 7. Mai hatte der Landesvorsitzende, Steffen Bockhahn, bei seinem Landesvorstand ein Papier zum Thema „Mauerbau“ eingereicht, das dann auch veröffentlicht wurde und erwartungsgemäß Widerspruch fand. So gab es dann zu jenem Parteitag heftige Kontroversen um den 13. August 1961 – sehr zur Freude der einschlägigen bürgerlichen Medien.
Mein Punkt hier ist, weder über die Innereien der Mecklenburg-Vorpommerschen Parteigliederung zu debattieren noch über den Mauerbau. Mein Punkt sind die Argumentationsfiguren Bockhahns und ihr Kontext. Sein Papier an den Landesvorstand trägt den Titel: „Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie umzuschreiben.“ Das ist ein Satz von Oscar Wilde. Aber es gilt natürlich die alte Weisheit von Leo Trotzki: „Indem ich zitiere, drücke ich mich aus.“ Insofern kann sich Bockhahn nicht hinter dem Zitat verstecken; er hat es ausgewählt und seinem Text vorangestellt. Das meint: Bockhahn sieht es als seine Pflicht an, die Geschichte umzuschreiben.
Das liest sich dann so: „Geschichtsschreibung basiert auf vielen Geschichten. Diese sind sehr unterschiedlich, weil ihnen die subjektive Wahrnehmung von Vorgängen zu Grunde liegt und jeder seine eigene Wahrnehmung und Einschätzung zu den Vorgängen seiner Zeit hat. Diese ganz persönlichen Geschichten können nur selten als ‚falsch‘ bezeichnet werden. Sie sind Ausdruck von Empfindungen, die ganz persönlich sind.“ Nun ist es sicherlich richtig, dass persönliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und Einschätzungen jeweils subjektiv „wahr“ sind, weil der oder die Wahrnehmende das so empfunden hat oder eben heute – im Nachgang, ohne je dabei gewesen zu sein – so empfindet. Aber ist die Summe der individuellen Erfahrungen oder Wahrnehmungen bereits die Geschichte? Wenn es richtig wäre, dass es nur subjektive Wahrnehmungen gibt, verschwindet die wirkliche Geschichte in den Nebeln des Subjektiven. Eine „objektive“ Wahrheit gibt es dann nicht.
Das ist aber bereits unter geschichtswissenschaftlicher Perspektive fragwürdig. Das alte Bonmot, der Zeitzeuge sei der größte Feind des Historikers, komprimiert das Problem: Jeder Betroffene hat seine persönliche Erfahrung von den Ereignissen, die dann Geschichte werden. Es gibt aber hinter den Erfahrungen der Einzelnen noch die Akten, die Dokumente der Entscheidungen der Regierungen über Krieg und Frieden, über die Steuern, die Gesetzgebung und so weiter. In diesem Sinne ist Geschichte nicht nur die Resultante der verschiedenen Willen, wie Friedrich Engels betonte, sondern auch der verschiedenen Erfahrungen, die wiederum die Widerspiegelung der verschiedenen Betroffenheiten sind. Wenn Bockhahn Recht hätte, gäbe es aber keine Resultante und damit auch keine aufschreibbare und damit analysierbare Geschichte.
Steffen Bockhahn ist 1978 geboren und hat Politikwissenschaft und Neuere Geschichte studiert. Das heißt, er hat die Mainstream-Wissenschaft der derzeitigen Universität in Deutschland genossen. Hier ist die Rückführung der Geschichte auf Geschichtchen, die sich die Leute wechselseitig erzählen, eine der postmodernen Varianten. Das kann man wortreich und lyrisch begründen. Am Ende aber bleibt, dass die Wirklichkeit im Meer der Erzählungen verschwindet. Dann aber gibt es auch keinen historischen Zusammenhang; es ist hoffärtig, die Geschichte verändern zu wollen, etwa indem man über den Kapitalismus hinaus will, weil es weder Kapitalismus noch ein Hinaus gibt. In diesem Sinne ist Bockhahns Bekundung im Kern die Desavouierung seines eigenen politischen Tuns. Die sozialistische Idee beruht ja gerade nicht auf den schlichten Erzählungen unter der Betroffenheitsperspektive, sondern auf einer wissenschaftlich begründeten Kapitalismus-Analyse, die dann auch zu einer Analyse des Imperialismus, der internationalen Beziehungen, des Weltsystems und so weiter führt. Hier ist dann der 13. August 1961 ein Punkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dessen Pointe gerade darin besteht, dass er den Atomkrieg eher verhindern denn befördern half. Als Richard von Weizsäcker einst sagte, dass man über den 8. Mai 1945 nicht reden könne, ohne auch über den 30. Januar 1933, die „Machtergreifung Hitlers“ zu sprechen, wurde er ob seiner Weisheit gelobt. Als Gesine Lötzsch sagte, dass man über den 13. August 1961 nicht reden könne, ohne über den 8. Mai 1945 zu sprechen, wurde sie wüst beschimpft. Beide Sätze aber sind analog und auf einer vergleichbaren Abstraktionsebene historischer Wahrheit.
Bockhahns Perspektive blendet gerade diese wissenschaftliche Analyse aus. Sie steht linker Gesellschaftsanalyse direkt gegenüber. Auf dem Bundesparteitag der Linken in Erfurt dieser Tage sagte Klaus Lederer, der Berliner Landesvorsitzende, an einer Stelle als Versammlungsleiter, die Linken sollten aufhören, der Jugend die Welt zu erklären, sondern mehr zuhören. Dieses Aufhören aber beinhaltet, die wissenschaftliche Analyse mit dem jeweils subjektiven Meinen, das man so hört, auf eine Stufe zu stellen. Damit aber verschwindet die wissenschaftliche Analyse aus der Begründung des demokratischen Sozialismus, und er wird zu einem Bauch-Phänomen gutmenschlichen Meinens.
Beides, Bockhahns wie Lederers Bekundung, macht sichtbar, dass die Linke in ihrer Verfasstheit nach dem Ende des Realsozialismus es bisher nicht geschafft hat, der Mainstream-Wissenschaft ein alternatives Wissen um Gesellschaftsanalyse entgegenzustellen. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: Viele der theoretisch-politischen Streitereien der vergangenen Jahre innerhalb der Linken sind eigentlich nicht ein Positions-, sondern ein Bildungsproblem; und es wird nun Zeit, nach dem Beschluss über das neue Erfurter Programm systematisch an der Entfaltung alternativen Wissens zu arbeiten.