Zu den gängigen, kaum aber fundiert belegten Behauptungen gehört die These, der Mord an den europäischen Juden sei in der Öffentlichkeit wie der Geschichtswissenschaft der DDR zur Nebensache erklärt worden.
Für die Jahre ab 1952 bis zum Ende des Jahrzehnts trifft dies sicher zu: Der aus Moskau und Prag in die DDR in abgemilderter, dennoch schrecklicher Form implantierte stalinistische Antisemitismus ließ die Aufklärung über das faschistische Massenverbrechen fast verstummen. Doch selbst in den Jahren, in denen Paul Merker und andere sogenannte Westemigranten in den Gefängniszellen der Staatssicherheit schmachteten, sagte sich die DDR nicht vom humanistischen Gehalt des Antifaschismus los, der die Solidarität zwischen Juden und Nichtjuden einschloss. Allerdings blieben die Repressalien der frühen fünfziger Jahre bis 1989 noch lange ein Tabu, an dem aber schließlich vor allem Literaturwissenschaftler zu rühren verstanden.
Jene doppelte Gestalt des DDR-Antifaschismus, seine humane Grundsubstanz wie sein politisches Versagen, wurde seit 1990 schon oft Gegenstand politischer wie wissenschaftlicher Kontroversen. Sie sind jedoch bisher nirgendwo so souverän-übersichtlich behandelt worden wie in dem hier in Rede stehenden Buch von Alexander Walther, das aus einer Jenaer, von Volkhard Knigge betreuten Dissertation hervorging.
Mit Paul Merker wurde ein aus Mexiko nach Ostdeutschland 1946 zurückgekehrter Emigrant 1950 aus der SED ausgeschlossen, Ende 1952 verhaftet und noch im März 1955 zum Hauptangeklagten eines vorgeblich antizionistischen, in Wahrheit antisemitischen Geheimprozesses. Merker war kein Jude, aber hatte sich für „Entschädigungs“-Zahlungen auch an jüdische Opfer des Massenmordes ausgesprochen, die außerhalb der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR lebten. Dies wurde ihm öffentlich als „Verschiebung deutschen Volksvermögens“ angelastet; der Terminus erinnerte an die Nazipropaganda. Der Prozess gegen ihn fand jedoch 1955 im Geheimen statt – nach Stalins Tod und auch nach der bereits erfolgten Freilassung Noels Fields, der Hauptfigur des angeblichen, doch erfundenen Spinnennetzes westlicher Geheimdienste, aus dem Budapester Gefängnis.
In der DDR mussten somit diese heiklen Punkte umgangen werden, wenn über den Mord an den Juden und seine Folgen gesprochen wurde. Vom Holocaust war nicht oder kaum die Rede, auch nicht nach dem Erfolg der US-amerikanischen Filmserie, stattdessen vom Massenmord. Der Begriff des Völkermordes an den Juden fand ab etwa 1980 Eingang in die DDR-Literatur. Bis dahin war die Bezeichnung „Volk“, mit Ausnahme von Arnold Zweig, für die Juden abgelehnt worden, doch war und blieb stets von der Schicksalsgemeinschaft die Rede, so auch in Publikationen kirchlicher Verlage.
Das letzte Jahrzehnt der DDR ist jener Teil des Buches, der am meisten Neuland erschließt. Bis dahin verfolgt sein Autor sein Thema entlang der von der DDR verkündeten ideologischen Linie, die er mit Inkonsequenzen und Halbheiten politischer Praxis konfrontiert. Auf der einen Seite sah sich die DDR nicht in der Verantwortung für die Verbrechen des Hitler-Regimes. Sie erklärte, im Gegensatz zu Westdeutschland den gesellschaftlichen Zustand, der die Nazidiktatur erst ermöglicht hatte, überwunden zu haben. Andererseits erreichten die Veröffentlichungen der DDR einen größeren Tiefgang als ihre westdeutschen Pendants, da in ihnen der Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus nicht beschönigt und auf die eingängige Vokabel vom Nationalsozialismus reduziert wurde. Dies erörtert Alexander Walther an einer Unzahl von Beispielen aus der Belletristik, dem Film und Theater sowie der Geschichtswissenschaft.
Er würdigt Verlagsmitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Übersetzer und Kulturvermittler wie Henryk Bereska, Jutta Jahnke und Hubert Witt, die den Reichtum der vernichteten jiddischen Literatur den nachgeborenen Generationen vermittelten. Dabei stießen Texte, so beispielsweise von Tadeusz Borowski, auf Hindernisse, die die Inhaftierten der Vernichtungslager nicht als heroische Gemeinschaft zeigten, sondern im gnadenlosen Konkurrenzkampf ums Überleben – genau dies war ja das Kalkül der Nazipeiniger gewesen. Zu wenig an Heldengeschichten zeigten – angeblich – auch Texte von Fred Wander, Fania Fénélon und Primo Levi – die beiden Letztgenannten wurden deshalb in der DDR nicht gedruckt, obgleich starkes Interesse der Verlage bestand. Im Fall von Fania Fénélons „Mädchenorchester in Auschwitz“ verhinderte eine Intervention des Buchenwald-Überlebenden Walter Bartel den Druck trotz Kurt Pätzolds positivem Gutachten.
Dagegen erschien die Dokumentation der beiden – nichtmarxistischen – Historiker Léon Poliakov und Joseph Wulf über „Das Dritte Reich und seine Diener“ 1975 im Verlag Volk und Welt, nachdem sich Klaus Höpcke, stellvertretender Kulturminister und Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, über ein Negativgutachten hinweggesetzt hatte.
Ein besonderes Augenmerk des Autors gilt der Gedenkkultur des antifaschistischen Widerstandes. Er setzt, und dieser Ansatz zeichnet ihn aus, den staatlichen Antifaschismus und die innerjüdische Gedenkkultur nicht in eins, sondern sieht unter der Oberfläche ein Spannungsverhältnis zwischen beiden. Manche jüdische Überlebende des Massenmordes betonten die neue, negative Qualität der Shoah (auch dieser Begriff war in der DDR wenig gebräuchlich): Juden wurden als Juden ermordet, für nichtjüdische Antifaschisten war der Widerstand gegen das Hitlerregime eine Sache der eigenen, hoch zu würdigenden Entscheidung. Dies sahen nicht alle Juden so: Einige von ihnen, insbesondere jüdische Kommunisten, legten Wert darauf, in erster Linie nicht als Juden, sondern als kämpfende Antifaschisten wahrgenommen zu werden. Doch genau damit begegneten sie erfolgreich dem (auch im KPD-Milieu nicht seltenen) Vorurteil, Juden hätten nicht gekämpft, seien nur hilflose Opfer gewesen.
Dagegen wandte sich nicht zuletzt Helmut Eschwege, ein Außenseiter der Historikerzunft, der aber, entgegen einigen Nachwende-Deutungen, nicht nur Ausgrenzung, sondern auch Unterstützung erfuhr. Frühe Ansätze der jüdischen Widerstandsforschung kamen aus Polen und wurden in der DDR rezipiert. Mit der Vertreibung polnisch-jüdischer Forscher von ihren Arbeitsplätzen und ihrer Auswanderung aus Polen 1968 endeten viele fruchtbringende Kontakte auch in die DDR und hinterließen Lücken an Kenntnissen und Erfahrungen, die nie geschlossen werden konnten. Auch deshalb stieß die Forschung über jüdischen Widerstand an Grenzen, die bestehen blieben, als sich im letzten Jahrzehnt der DDR die Gestaltungsräume für eine undogmatische Diskussion über antifaschistisches Tun spürbar ausweiteten.
Hierher gehörte auch 1988 der vom Autor eruierte Austausch von Archiven der DDR mit solchen in den USA und Israel. Dass der von ihm festgestellte „Effekt für die Forschung“ gegenüber politischen Erwägungen „in den Hintergrund“ trat, hat sich, nimmt man die über das Ende der DDR reichenden Arbeitsprojekte, zum Glück nicht bestätigt.
Diskussionswert ist die Überlegung des Autors, ob die Heroisierung des kommunistischen Widerstandes nicht nur eine systemstabilisierende Funktion erfüllte, sondern auch den früheren Mitläufern des Naziregimes erlaubte, sich hinter den antifaschistischen Helden zu verstecken. Unstreitig nahm die Wirkung solcher Erzählungen mit den Jahrzehnten ab. Die sozialistische Utopie schwand, da sie nicht von einer reformsozialistischen Politik am Leben gehalten wurde. All dies stellt der Verfasser nüchtern und ohne jede Häme fest. Das Buch ist, abgesehen von überflüssigen Genderformen, eminent gut geschrieben. Es gehört in die Hand einer Leserschaft, die sich mit Pauschalurteilen nicht zufrieden gibt.
Alexander Walther: Die Shoah und die DDR. Akteure und Aushandlungen im Antifaschismus, Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 566 Seiten, 44,00 Euro.
Schlagwörter: Alexander Walther, DDR, Juden, Mario Keßler, Massenmord, Shoa


