28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 202

Rzeczpospolita zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten

von Detlef Jena

Der Sozialdemokrat Boris Pistorius ist das personifizierte Sinnbild der aktuellen deutschen Aufrüstung. Er wird nicht müde, nach dem antiken Slogan zu handeln: „si vis pacem, para bellum“.

Herr Pistorius bietet ein gar zu fesches Bild, wenn er hoch aufgerichtet in der offenen Luke eines Kampfpanzers über den künftigen Gefechtsparcour in den Wäldern Litauens braust – immer den Blick gen Osten gerichtet und an der Spitze einer Bundeswehr-Brigade als Symbol für die geplante größte konventionell ausgerüstete Armee Europas. Nur so wird der kriegstüchtige Deutsche dem Russen widerstehen, falls der denn kommen sollte. Ein Schelm, der daran erinnert, dass die deutschen Truppen seit 1914 justament in dieser Region reiche Erfahrungen beim Aufbruch gen Osten gesammelt haben. Die Furcht der Litauer vor den Russen ist nach Jahrzehnten der Sowjetmacht jetzt offenbar größer als die Angst vor dem erstarkenden deutschen Militär in der NATO.

Vor 25 Jahren wurden bekanntlich die weltpolitischen Karten neu gemischt. Den Regierungen in Europa fiel leider nichts Besseres ein, als unter dem phantasievollen Schirm „demokratischer Werte“ zu den alten geopolitischen Praktiken zurückzukehren, denen der ostmitteleuropäische Raum zwischen Russland und den Westmächten seit Olims Zeiten zum Opfer gefallen ist. Litauen besitzt da ein beachtliches historisches Gewicht. Es war logisch, dass mit dem russischen Einfall in die Ukraine vom Februar 2022 in Litauen die Alarmglocken schrillten. Dem NATO-Aufmarsch in Litauen stellte Wladimir Putin sofort die Erinnerung an die Schlacht auf dem Peipussee entgegen. 1242 vernichtete ein russisches Heer unter Führung des Nowgoroder Fürsten Alexander Newski angeblich eine Streitmacht des Livländischen Ordens – der Vereinigung aus Deutschem Orden und Schwertbrüderorden – und setzte damit deren Ostexpansion ein Ende. Ob diese Schlacht tatsächlich stattfand oder eine historiografische Fiktion ist, sei dahingestellt.

Wahr hingegen ist, dass im 13. Jahrhundert das Großfürstentum Litauen entstand. Das war eine ostmitteleuropäische Großmacht und hat seit 1569 sogar in einer Realunion mit Polen (Rzeczpospolita) als politisch überaus kompliziert strukturierte Königliche Adelsrepublik existiert. Über fast zwei Jahrhunderte hat Polen-Litauen den Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer dominiert. Die Rzeczpospolita umfasste um 1618 den größten Teil des Staatsgebietes des heutigen Polens und Litauens, Lettlands und Belarus‘, große Teile der heutigen Ukraine sowie kleinere Teile des heutigen Russlands, Estlands, Rumäniens und Moldawiens.

Das historische Verhängnis Polen-Litauens bestand darin, dass die schwierigen Machtverhältnisse zwischen dem Wahlkönigtum und dem Adel in der Innen- und Außenpolitik mit den heterogenen Ethnien und deren diversen Glaubensbekenntnissen korrespondierten.

Es ist erwähnenswert, dass der deutsche Historiker Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert die Rzeczpospolita in höchsten Tönen gelobt hat: „Überlegt man sich, was voranging und was nachfolgte, so wird man nicht anstehen, diese Wahl und die daraus entstehende Verbindung der beiden Nationalitäten als das größte Ereignis anzusehen, welches seit dem Einbruch der Tataren die östliche Welt erschüttert hat.“

Rankes Urteil war vor allem eigenwillig, weil Preußen maßgeblich am Untergang dieses bedeutenden Großreichs beteiligt gewesen ist. Hier tut sich nun das makabre Lehrstück auf, das aller Welt über die Zeiten hinweg demonstriert, welche Missachtung die Großmächte der ostmitteleuropäischen Region erweisen. Goethes Wort von 1778 hätte auch hier gepasst „Und ich scheine dem Ziele dramatischen Wesens immer näher zu kommen, da michs nun immer näher angeht, wie die Großen mit den Menschen, und die Götter mit den Großen spielen.“

Die Geschichte in Kurzfassung: Zwischen 1655 und 1661 führte Polen-Litauen gegen Schweden und dessen Verbündete Krieg um die Vorherrschaft im Baltikum. Der zeitgleiche Krieg gegen Russland bewirkte die „Blutige Sintflut“ – so polnische Historiker – in der Polen-Litauen von fremden Invasoren aus ganz Europa überschwemmt wurde. Der daraus resultierenden Schwäche der Rzeczpospolita stand der machtpolitische Aufschwung Russlands und Brandenburg-Preußens gegenüber.

Der Versuch, den Staat durch eine dreieinige Adelsrepublik Polen-Litauen-Ruthenien in seiner Struktur zu reformieren, scheiterte 1658 am polnischen Widerstand. Im Vertrag von Andrussowo verlor die Republik 1667 Smolensk und Kiew an Russland. Die Wahl des Kurfürsten von Sachsen 1697 zum polnischen König spaltete die politischen Interessen des Adels.

Der Große Nordische Krieg in den ersten 20 Jahren des 18. Jahrhunderts wirkte sich verheerend auf Litauen aus. Russlands Krieg gegen Schweden um die Vormacht im Ostseeraum und die Pest verwüsteten und entleerten ganze Regionen Litauens. Russland erzwang zudem den ständigen Aufenthalt seiner Truppen in der Rzeczpospolita.

Wenn über die historische Bedeutung der Rzceczpospolita und vor allem über ihren Untergang gesprochen wird, steht der Begriff „Liberum Veto“ im Mittelpunkt. Das war das Recht des einzelnen Adligen, durch sein Veto jegliche Gesetzesinitiative blockieren zu können. Daraus resultierte die wachsende Unfähigkeit, die Gesellschaft zu reformieren. Im Grunde kreist also die Frage, woran das Großreich Polen-Litauen gescheitert ist, nur um zwei Probleme. War es die innere Anarchie oder waren es die Rivalitäten der die Rzeczpospolita umgebenden Großmächte?

Die Lösung der Probleme lag in dem großen Deal des 18. Jahrhunderts. Zwischen 1772, 1793 und 1795 teilten Russland, Preußen und Österreich die Adelsrepublik im vollen gegenseitigen Einverständnis untereinander auf, die daraufhin 1795 ganz von der historischen Bühne verschwand. Sowohl Polen als auch Litauen waren mehr als ein Jahrhundert lang keine souveränen Staaten mehr.

Die Teilungsarchitekten – Kaiserin Katharina II. von Russland, Kaiser Joseph II. von Österreich und König Friedrich II. von Preußen – hatten innerhalb von 20 Jahren per Federstrich und unter Ausnutzung der inneren Schwäche Polen-Litauens ihre Reiche vergrößert und stabilisiert. Es sollte ein Beweis ihrer eigenen Macht und Unantastbarkeit sein. Ein Belegt für ihre Herrschaft über den ostmitteleuropäischen Raum, die sensible Grenzzone zwischen zwei Weltkulturen. Welch ein historischer Irrtum dreier Monarchen, die sich unfehlbar dünkten!

Die hübschen Neuerwerbungen in Galizien Kurland, Masowien, Weißrussland et cetera bewirkten keinen Frieden. Napoleons Großherzogtum Warschau bildete nur den Anfang der Erosion. Der Wiener Kongress 1814/15 wird sogar mit dem Begriff einer „vierten Teilung Polens“ verbunden. Das bedeutet auf erschreckende Weise, dass das Ende Polen-Litauens auch von den meisten europäischen Mächten sanktioniert wurde. Doch es kam noch schlimmer!

Der Erste Weltkrieg führte mit dem Untergang der drei Monarchien in Russland, Deutschland und Österreich zu einem Wandel in Mittelosteuropa, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Es entstanden bürgerliche Nationalstaaten. Sie gerieten mehrheitlich in den Sog totalitärer Staaten wie Deutschland, die Sowjetunion und Italien und unweigerlich in den Strudel des Zweiten Weltkriegs. Die Erinnerung an den Verlust der Staatlichkeit im 18. Jahrhundert saß bei den Polen und Litauern so tief, dass die neuerliche Aufteilung im Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 als „vierte Teilung Polens“ empfunden wurde. Der gleiche Begriff wurde noch einmal benutzt, als Stalin am Ende des Zweiten Weltkriegs das Territorium Polens nach Westen verschieben ließ, was zu gravierenden Problemen im Verhältnis Polens zu Belarus und der Ukraine führte.

Die mit dem Hitler-Stalin-Pakt eingeleitete sowjetische Okkupation Estlands, Lettlands, Litauens und von Teilen der Ukraine sowie Weißrusslands schuf gemeinsam mit deren Tragödie während des deutsch-sowjetischen Krieges und der nachfolgenden gewaltsamen Einverleibung in die UdSSR eine neue Krisensituation in der ostmitteleuropäischen Region, deren sämtliche Staaten während des Kalten Kriegs Mitglieder des Warschauer Pakts wurden. Das war ein ständiger gefährlicher Unruheherd in der globalen Konfrontation, der nur durch die sowjetische Truppenpräsenz pazifiziert wurde.

Nach 1991 verschwanden diese Zwänge. Doch inzwischen kehrte der Schrecken zurück. Deutsche Soldaten stehen in Litauen. Russland und die Ukraine sind im Krieg. NATO und Russland erklären ihre gegenseitige Feindschaft. Es wird aufgerüstet ohne Ende. Ist die Ukraine bereits der Test für den kommenden Krieg, in dem die ostmitteleuropäische Region abermals zum Schlachtfeld für den Kampf um die alleinige Macht in Europa werden soll?