Landauf, landab verkündet Friedrich Merz: „Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse.“ Wer „wir“ sind, seit wie vielen Jahren das so sei und worin diese „Verhältnisse“ bestehen, darüber schweigt sich der Kanzler aus.
Wenn jemand „über seine Verhältnisse“ lebt, gibt er mehr aus, als er an Einkommen bezieht – so jedenfalls das Alltagsverständnis. Aber vielleicht verfügt er neben seinem Verdienst über weitere Geldquellen? Vielleicht schießen die Eltern etwas zu? Vielleicht baut er seine Rücklagen ab oder lebt „auf Pump“? Lebt Angela Merkels berühmte schwäbische Hausfrau „über ihre Verhältnisse“, wenn sie sich zum Bau des nicht weniger berühmten kleinen Häuschens verschuldet, einen Kredit aufnimmt und hofft, ihn zurückzahlen zu können? Ist sie vielleicht deshalb so gelassen, weil (was Merkel wahrscheinlich gar nicht im Blick hatte) die Kinder sagen: „Mutti, mach dir keine Sorgen, wir werden das Häuschen doch erben und zahlen die Restschuld zurück“?
Wie ist das mit einer ganzen Nation? Auf den ersten Blick lebt Deutschland nicht über seine Verhältnisse. Was es verbraucht, investiert und exportiert, wird komplett aus dem laufenden Bruttoinlandsprodukt gespeist. Per Saldo schuldet das Land dem Ausland keinen Cent. Ganz im Gegenteil, Deutschland ist vor Japan und China der größte Gläubiger der Welt. Und die privaten Haushalte insgesamt konnten ihr Geldvermögen Jahr für Jahr aufstocken, in den vergangenen fünf Jahren von sieben auf neun Billionen Euro. Kein „Über-die-Verhältnisse-leben“.
Also Entwarnung? Nicht ganz, denn der Teufel steckt im Detail. Eine erste Präzisierung: Wird die monetäre Betrachtung verlassen, stellt sich die Situation anders dar. Deutschland verbraucht weit mehr an materiellen Ressourcen (Energie, Rohstoffe, Landfläche, Luft und Wasser, Senken zur Abfallentsorgung), als es seinem Flächen- oder Bevölkerungsanteil an der Erde entspricht; diesbezüglich lebt es über seine Verhältnisse. Es „verschuldet“ sich gegenüber anderen Nationen und künftigen Generationen. Das Problem ist bekannt, wird in Sonntagsreden auch angesprochen und auf einigen Gebieten werden sogar Reparaturversuche unternommen, aber zumeist wird nach den sich ständig wiederholenden Hinweisen entnervt abgewunken: Fragen der internationalen Konkurrenz, vermeintliche Erfordernisse der Aufrüstung und profitorientiertes Wachstum genießen höhere Priorität.
Der Teufel steckt auch in einem anderen Detail. Wird Deutschland nicht als Ganzes, sondern in seiner sozialen und politischen Gliederung betrachtet, zeigen sich etwas kompliziertere Verhältnisse. Die Finanzierungsrechnung der Bundesbank – die Analyse der laufenden Finanzflüsse zwischen den Sektoren und der dabei entstehenden Salden – liefern ein differenzierteres Bild. Während Privathaushalte und nicht-finanzielle Kapitalgesellschaften Überschüsse aufweisen, verschulden sich die Finanzunternehmen und der Staat. Vor allem letzterer scheint „über seine Verhältnisse“ zu leben; sein negativer Finanzierungssaldo betrug im vergangenen Jahr etwa 115 Milliarden Euro. Aber was heißt schon „über den Verhältnissen“? Erinnern wir uns – auch wenn der Vergleich etwas hinken mag – an die schwäbische Hausfrau: Werden diese kreditfinanzierten Mittel für Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in der Infrastruktur oder in Bildung, Forschung und Entwicklung ausgegeben, kommen sie auch künftigen Generationen zugute. Und solange Kreditgeber bereit und in der Lage sind, dem Staat Geld zu leihen, indem sie seine Anleihen kaufen (neun Billionen privates Geldvermögen!), kann auch das nicht als „Über-die Verhältnisse-leben“ bezeichnet werden. Geht es nur um die Finanzierung von Konsumausgaben kann es schon eher zu einer Überforderung des Finanzsystems kommen. Zuallererst sind hier die Ausgaben für Rüstungsgüter zu nennen, die ja nichts anderes als brach liegendes, zur Vernichtung bestimmtes Vermögen sind. Hier weigerten sich die alte wie die neue Regierung, das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zu erwägen und drückten diese Auffassung sogar in Grundgesetz hinein. Für Rüstungsausgaben stehen unbegrenzt Mittel zur Verfügung; Kanzler Merz bemühte dazu den legendären Satz des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank Marion Draghi: „Whatever it takes!“ Koste es, was es wolle!
Friedrich Merz dürfte das schon klar sein, aber seine Interessen und die seiner Klientel verlangen einen anderen Ansatz. Unverblümt nennt er auch den konkreten Bereich, dem er Geld entziehen will und deshalb behauptet, dieser sei nicht mehr finanzierbar: das Sozialsystem. Natürlich handelt es sich um beträchtliche Summen, die infolge der demografischen Entwicklung und der damit verbundenen steigenden Anforderungen an das Renten-, Gesundheits- und Pflegesystem weiter erhöht werden müssen. Dass Deutschland in diesem Bereich seit Jahren über seine Verhältnisse leben würde, kann Merz freilich nicht belegen.
Die Sozialleistungsquote, die Summe aller Sozialleistungen im Verhältnis zum BIP ist seit Jahrhundertbeginn von 29 auf 31 Prozent gestiegen; das ist keineswegs dramatisch. Der Finanzierungsanteil der Versicherten stieg von 28 auf 31, der des Staates von 32 auf 34 Prozent. Der Arbeitgeberanteil sank von 38 auf 34 Prozent. Merz‘ Feststellung von einer zu geringen Eigenverantwortung der Versicherten ist angesichts dieser Entwicklung wenig plausibel. Natürlich existiert Sozialbetrug, aber was hier betrogen wird, ist im Vergleich zum Steuerbetrug und der Reichen-Schenkung infolge des jahrzehntelangen Aussetzens der Vermögenssteuer vernachlässigbar. Noch in anderer Hinsicht hinkt seine Argumentation. Die Abgabenquote (Summe aus Steuer- und Sozialabgaben) schwankte zwar im betrachteten Zeitraum, liegt aber wie vor fünfundzwanzig Jahren bei rund 41 Prozent.
Freilich wird die Sache deutlich komplizierter, werden künftige Jahre in die Betrachtung einbezogen. Nicht nur beim Rentensystem stehen dem Zukunftsversprechen und den sich daraus ergebenden Zahlungsverpflichtungen eine prozentual geringere Erwerbstätigkeit und damit Finanzierungsmöglichkeit gegenüber. Das Austarieren ist in der Tat nicht einfach. Aber wie wäre es, zunächst verstärkt diejenigen in das System einzubeziehen, die heute keine Beiträge oder nur Beiträge unterhalb ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit leisten? Diese Lösung scheut Establishment wie der Teufel das Weihwasser.
Ein großer Teil des heutigen finanziellen Drucks auf das Sozialsystem geht von der Außen- und Sicherheitspolitik und der angepeilten Hochrüstung aus. Die Antwort auf die Frage „Butter oder Kanonen?“ haben die Regierungen ohne viel Federlesens zugunsten von Kanonen und des Rüstungssektors beantwortet. Neben der Absicht, sich weltpolitisch mehr Geltung zu verschaffen, wird das forciert, sieht man doch hier ein Druckmittel, um die profitmindernden Sozialkosten wenn nicht zu senken, dann wenigstens zu deckeln. Zweifellos gibt es angesichts der künftigen Herausforderungen an die Finanzierung des Sozialsystems beträchtlichen Reformbedarf. Aber abgesehen von dem absichtsvollen, in der Sache jedoch verfehlten Alarmismus, den Merz verbreitet, liegt er in der Bestimmung des Suchkorridors solcher Reformen falsch. Glaubt er wirklich, die Empfänger von Bürgergeld lebten „über ihre Verhältnisse“? Glaubt er wirklich, die 16 Prozent der Beschäftigten, die mit Niedriglöhnen von unter 14 Euro die Stunde entlohnt werden, lebten „über ihre Verhältnisse“ und könnten mehr Eigenvorsorge fürs Alter betreiben? Bullshit!
Wenn es denn etwas für die öffentlichen Haushalte zu holen gibt, dann nicht bei den Mittel- und Unterschichten, sondern bei der immer reicheren Oberschicht, deren Einkommen und Vermögen über alle konjunkturellen und politischen Schwankungen hinweg überproportional gestiegen sind. Den Löwenanteil an den erwähnten neun Billionen Euro Geldvermögen, nämlich über zwei Drittel, liegt in den Händen der obersten zehn Prozent der Haushalte. Und weil vor allem sie es sind, die Staatsanleihen kaufen, werden sie mit den Zinszahlungen der öffentlichen Hand noch reicher. Klar: statt höhere Steuern zu zahlen, leiht man dem Staat lieber das Geld. Sparen sollen die anderen. Diese Schicht lebt zwar nicht über ihre, aber über unsere Verhältnisse. Wer zu ihr gehört, und Merz gehört zweifellos dazu, schützt natürlich sein Vermögen und schaut mit der Arroganz des Reichtums auf die Empfänger von Niedriglöhnen und Sozialleistungen.
Dieser Tage kam mir wieder einmal „Die Herrschaft der Bankrotteure“, ein Buch des weltbekannten US-Ökonomen John K. Galbraith aus den 1990er Jahren in die Hand. Er schreibt: „In dieser Welt wird jeder Unsinn, den die Reichen erzählen, gern zur Weisheit erhoben.“
Schlagwörter: Finanzsystem, Friedrich Merz, Jürgen Leibiger, Rüstung, Schulden, Sozialleistungen


