28. Jahrgang | Nummer 13 | 28. Juli 2025

Sizilianische Impressionen – Érice, Segesta, Palermo

von Alfons Markuske, notiert in Palermo

Der Tempel von Segesta ist nie fertig geworden […]. Sie Säulen stehen alle; zwei, die umgefallen waren, sind neuerdings wieder hergestellt. […] Die Zapfen, an denen man die Steine transportiert, sind nicht weggehauen, zum Beweis, daß der Tempel nie fertig geworden. […] Auch ist keine Spur von innerer Halle. Noch weniger ist der Tempel mit Stuck überzogen gewesen […].

 

Goethe,

Italienische Reise

 

Das kleine Städtchen Érice thront auf dem Gipfel eines 750 Meter hohen Berges, von wo aus man einen phantastischen Rundblick über das Umland und das nahe Mittelmeer hat. Der Ort gilt als eine Art sizilianisches Rothenburg ob der Tauber – im Schönen (pittoreske Häuser und enge, gewundene Gassen) wie im Lästigen: auch hier schieben sich hinter Sammelfähnchen schwenkenden Reiseführern Touristenströme durch den Tag.

Die Normannenkirche von Érice aus dem 14. Jahrhundert ist von außen völlig schmucklos, ein trutziges Exempel mittelalterlicher Wehrarchitektur. Allerdings erwartet die Besucher im Inneren ein überraschender Kontrast – als im 19. Jahrhundert das eingestürzte Dach wiederhergestellt wurde, verpasste man der Kirche ein Deckengewölbe in neogotischem Stil, das eher der üppigen Auslage einer Patisserie denn einem Sakralbau gleicht.

Am äußersten höchsten Ende des Felsens, auf dem Érice liegt, befand sich in der Antike der Überlieferung nach ein Aphrodite- und später Venus-Tempel, der ob der dort geschäftsmäßig betriebenen Tempelprostitution zu den reichsten Heiligtümern seiner Zeit gehört haben soll. Steinerne Überreste dieses Tempels sind allerdings keine erhalten. An seiner statt erhebt sich ein Kastell aus normannischer Zeit.

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Der landschaftlich am reizvollsten gelegene griechische Tempel auf Sizilien ist zweifelsohne der von Segesta – heute einsam ruhend auf einer Anhöhe inmitten einer sanfthügeligen Landschaft. Das Bauwerk ist zugleich eines der besterhaltenen überhaupt: der vierstufige Unterbau, die Krepis, alle 36 Säulen und die gesamten umlaufenden steinernen Dachfirste samt beider Giebel sind vorhanden. Und doch ist dieser Tempel nie fertiggestellt worden, wie einige Anzeichen, aus denen man schon zu Goethes Zeiten entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hatte, untrüglich verraten:

  • An allen Steinblöcken des Unterbaus sind die Transportzapfen noch vorhanden, um die zur besseren Handhabung der Schwergewichte Seile geschlungen werden konnten. Gegen Ende eines Baus wurden die Zapfen üblicherweise abgeschlagen.
  • Keine der 36 Säulen ist kanneliert, also mit den für dorische Tempel obligatorischen 20 vertikal verlaufenden Zierrillen versehen, deren Herausarbeitung aus dem Stein nach Errichtung der Säulen erfolgte.
  • Es fehlt im Inneren des Tempels jedes Anzeichen einer Cella, des bis auf Dachfirsthöhe hochgemauerten steinernen Haupt- und Ritualraumes, der üblicherweise das Abbild oder die Statue jenes Gottes oder jener Göttin beherbergte, denen der Tempel geweiht war. Die Cella war zugleich der unabdingbare tragende Unterbau für die hölzerne Dachkonstruktion der Tempel.

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Bei der Anfahrt nach Palermo passiert unser Reisebus in Höhe des Flughafens jene Stelle auf der Autobahn, wo 1992 der Richter Giovanni Falcone – eine Symbolfigur des Kampfes gegen das organisierte Verbrechen in Gestalt der sizilianischen Mafia, der Cosa Nostra – samt seiner Sicherheitseskorte durch eine ferngezündete Bombe der Mafia ermordet wurde. Die Attentäter befanden sich in Sichtweite, in einem Haus auf einer nahegelegenen Anhöhe.

Als Tourist wird man heutzutage mit der Cosa Nostra selbst in Palermo, einer ihrer einstigen Hochburgen, kaum direkt in Berührung kommen, auch wenn Manifestationen derselben, etwa Investruinen, unübersehbar sind (siehe Teil III dieser Reisenotizen). Gottseidank, so unsere Reiseführerin, seien die Zeiten vorbei, als auch deutsche Reiseveranstalter bei Ankunft ihrer Gruppen durch diskret überreichte Umschläge sicherstellten, dass jegliche Behelligung unterblieb. Dennoch sei Schutzgelderpressung weiterhin an der Tagesordnung. Zwar habe sich 2004 mit „Adiopizzo“ eine Antimafia-Bewegung gegründet, der inzwischen etwa 1000 Gewerbetreibende, darunter Restaurants, Hotels, Büchereien oder Copyshops, auch Nahrungsmittelbetriebe und -manufakturen – angehörten, doch entsprechende Logos an deren Eintrittstüren seien nach wie vor nicht prägend im Stadtbild.

Die Phönizier haben den Ort im siebten vorchristlichen Jahrhundert als Handelsniederlassung gegründet und nannten ihn Ziz (Blume). Später, als die Stadtstaaten des klassischen Griechenlands reich und mächtig geworden waren, interessierten die sich für die von ihnen Panhormus (Ganz-Hafen) genannte gut gehende Niederlassung, wurden aber erfolgreich abgewehrt. Gegen den römischen Ansturm allerdings gelang das später nicht mehr. Im frühen Mittelalter übernahmen die Araber das Zepter. Als schließlich nach der ersten Jahrtausendwende die Normannen Sizilien eroberten, lebten im islamischen Balerm 200.000 Muselmanen, Juden, Griechen, Perser, Langobarden sowie die Nachkommen sizilianischer Ureinwohner (Sikaner, Sikulier), Karthager und Römer. Die Kuppeln von mehr als 200 Moscheen sollen in der Sonne geglänzt haben.

Die Normannen wiederum hielten sich nur ganze 100 Jahre an der Macht, doch was sie an Baudenkmälern hinterließen ist teilweise atemberaubend, einzigartig. Besonders beeindruckend verkörpert in Gestalt der zum Palazzo Reale – dem Königspalast in Palermo – gehörenden Capella Palatina aus dem zwölften Jahrhundert. Diese dreischiffige Privatkapelle der Normannenkönige mit umlaufenden mehretagigen Mosaiken (etwa über die Erschaffung der Welt), alles goldfarben umrahmt und von einer vielfach verschachtelten, bemalten Holzdecke von wahrlich überirdischer Pracht gekrönt, ist in einem Top-Zustand. Nicht zuletzt dank einer 2,5 Millionen Euro-Spende des deutschen Schraubenmilliardärs und Kunstsammlers Reinhold Würth für eine umfassende Sanierung in den Nullerjahren, nachdem das Bauwerk bei einem Erdbeben im Jahr 2001 schwer beschädigt worden war. Palermo seinerseits revanchierte sich mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde.

Die Capella Palatina ist ein Touristenmagnet sondergleichen. Man ist daher gut beraten, Tickets online zu ordern und sich 20 Minuten vor der morgentlichen Öffnungszeit am Eingangsportal einzufinden. Wenn man unter den ersten Besuchern die Sicherheitskontrolle passiert, die fast mit Flughafenaufwand betrieben wird, hat man ein paar Minuten allein in der Capella. Bevor die erste Reisegruppe hereindrängt, der sofort weitere folgen …

Die wuchtige Kathedrale von Palermo, ebenfalls zwölftes Jahrhundert, wurde nach bester katholischer Tradition an der Stelle errichtet, wo sich zuvor das geistige Zentrum der Muslime befunden hatte. Von der Moschee, der Universität und den arabischen Bibliotheken blieb nur ein einziger Stein erhalten: In der gotischen Vorhalle der Kathedrale ist auf einer Säule in arabischer Schrift ein Vers aus der siebten Sure des Korans zu lesen. Zumindest passend für eine Kirche, in der Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen seine letzte Ruhestätte fand. Der war als Waise in den Gassen von Palermo aufgewachsen und hat wie kein anderer europäischer Herrscher seiner Zeit den Orient verstanden und geliebt. In der Epoche der Kreuzzüge befähigte ihn dies als einzigen Anführer eines solchen, der Christenheit Jerusalem, Bethlehem und Nazareth nicht durch Krieg zurückzugewinnen, sondern durch Verhandlungen.

Wegen seiner Aufgeklärtheit, seiner Affinität zu jüdischen und arabischen Gelehrten und Künstlern, seines Wissensdurstes und wegen seines auf empirischen Beobachtungen fußenden Buches über die Falknerei haftet Friedrich II. bis heute ein gewisser verklärender Nimbus an. Schon gar im Vergleich zu anderen, finsteren Herrschern des ebenso apostrophierten Mittelalters. Obwohl Friedrichs Methoden der Erkenntnisgewinnung auch nicht frei von höchst befremdlichen Zügen waren. So soll ihn die Frage beschäftigt haben, ob die menschliche Verdauung besser im Ruhezustand oder bei körperlicher Betätigung zu Werke geht. Dazu ließ er Bediensteten nach einem üppigen Gelage wahlweise Ruhestatt oder Ausritt verordnen und ihnen hernach – die Bäuche aufschneiden …

1997 ereignete sich in Palermo etwas, womit an sich nicht mehr zu rechnen gewesen war: Pünktlich zu seinem 100. Geburtstag erfolgte die Wiedereröffnung des Theatro Massimo, des nach Paris und Wien drittgrößten Opernhauses Europas. Mit sechs Rängen und ursprünglich 3000 Plätzen. Nachdem aus Sicherheitsgründen die Stehplätze abgeschafft worden waren, sind es heute nur noch 1300. 1974 war das Teatro für „einige kleine Reparaturen vorübergehend“ geschlossen worden, und danach verhinderten Korruption und mafiose Ränkespiele die Restaurierung, während Unsummen an Subventionen in dunklen Kanälen versickerten und das Gebäude zunehmend verfiel. Erst Palermos charismatischer Bürgermeister Leoluca Orlando – er regierte die Stadt von 1985 bis 2000 sowie von 2012 bis 2022 – schuf Abhilfe. Die Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado konzertierten zur Wiedereröffnung. Ein eigenes Ensemble hat das Opernhaus seither nicht mehr, öffnet aber für Gastspiele regelmäßig seine Pforten.

Nur einen Steinwurf weit entfernt vom gigantischen Teatro hat ein anderes, das Teatro dei Pupi di Mimmo Cuticchio, seine Heimstatt – ein klitzekleines Marionettentheater mit wohl nicht einmal 50 Plätzen. Am Abend besuchen wir eine Vorstellung. Zwar verstehen wir praktisch kein Wort Italienisch, aber das ist bei der Räuberpistole, die gegeben wird, auch nicht nötig: Barbarische Orientalen rauben eine christliche Prinzessin, die von in jeder Hinsicht geharnischten Rittern zu Pferde befreit werden muss; in diversen Gemetzeln rollen reichlich Köpfe und werden Gliedmaßen verstreut, auch ein Drache ist zu erledigen. Ein herrlicher Klamauk. Danach lassen wir mit einem Limoncello-Spritz in einem Straßencafé den Tag ausklingen.

Am nächsten Morgen setzen wir unseren Streifzug durch Palermo fort und suchen die Chiesa di San Giovanni degli Eremiti auf, eine Benediktinerkirche, die mit ihren fünf roten Kuppeln zu den Wahrzeichen der Stadt gehört. Ursprünglich wurde auf den Fundamenten eines Hermes-Tempels eine frühchristliche Kirche errichtet, der eine Moschee folgte, die ihrerseits einem normannischen Klosterkomplex weichen musste. Von dem ist jedoch nur noch das Kirchlein erhalten sowie ein stimmungsvoller Kreuzgang, dessen Spitzbögen unter erkennbar arabischem Einfluss gestaltet wurden. Umgeben ist die Chiesa von einem reizvollen Garten: Früchtetragende Monstera sowie Bäume mit Grapefruits und köstlichen Mispeln stehen neben verschiedenen Palmenarten und einem beeindruckenden Elefantenfußbaum. In diesem Garten gibt es einen einzigen Punkt, von dem aus man alle fünf Kuppeln der Kirche gleichzeitig im Blick hat.

In den Straßen der Stadt sehen wir immer wieder blühende Paternosterbäume, eine Akazienart, deren Samen sich beim Trocknen schwarz färben. Früher gern verwendet als „Perlen“ zum Anfertigen von Rosenkränzen. – In einem Park entdecken wir riesige Banyan-Bäume, auch Bengalische Feige genannt, deren Luftwurzeln, sobald sie den Boden erreichen, durch einen Wachstumsschub zu selbst baumstarken Stützwurzeln werden und im Laufe der Jahre ein eigenes „Dickicht“ bilden.

Nur etwas für Zeitgenossen mit belastbaren Nerven und einem Faible fürs Morbide ist die Catacombe dei Cappuccini (Kapuzinergruft) in Palermo, die besucht werden kann: Mehr als 2000 natürliche Mumien, teils in Berufsbekleidung, teils in guter Garderobe sind dort – überwiegend stehend aufgereiht an den Wänden der unterirdischen Grablege – zu besichtigen. Die älteste erhaltene ist jene des Bruders Silvestro da Gubbio. Todesjahr: 1599. Zunächst den Verstorbenen des palermitanischen Kapuzinerklosters vorbehalten, galt es ab 1670 und für die nächsten 200 Jahre in der städtischen Oberschicht als comme il faut, sich dort bestatten zu lassen. Ein einzigartiges Memento mori.

Wird fortgesetzt.

Die bisherigen Teile dieser Reisenotizen sind erschienen in Blättchen 10/2025, 11/2025 und 12/2025.