München 1938 als Friedenspalme

von Holger Politt

[…] sie hatten in ihren Stellungen auf Wache gestanden,
sie hatten kämpfen gewollt, sie waren aufs Sterben gefasst
gewesen und nun war ihnen befohlen worden,
ihre Festungen und Gräben und Bunker und Wälle aufzugeben,
ohne einen Schuss abzufeuern, und nun kamen sie die Berge herunter
in ihren olivgrünen Monturen, gesenkten Kopfs, ein verratenes Heer:
Sie marschierten stumm, manche ballten die Fäuste, manche weinten.

Franz Fühmann

 

Meldung aus dem Nachrichtenkanal: Ende 2024 spricht sich in Deutschland eine erkennbare Mehrheit dafür aus, den Krieg im Osten Europas zu beenden, selbst wenn die Ukraine auf Land verzichten müsse. Land für Frieden also. Der Blick geht zurück zum wohl berüchtigtsten Beispiel im letzten Jahrhundert, wo demjenigen, der wutentschlossen Land vom Nachbarn gefordert hatte, dieses auch bewilligt wurde, damit er sich beruhige und damit der Friede gesichert werde – zum Münchner Abkommen vom September 1938.

Der Philosoph Ernst Bloch hatte sich vehement gegen das „Friedensabkommen“ ausgesprochen, seiner Meinung nach hätte Hitler an den Grenzen der Tschechoslowakei mit allen Mitteln gestoppt gehört. Bis Juli 1938 hatte Bloch selbst noch in Prag gelebt, siedelte dann in die USA über, wo er sich – unter nicht einfachen Bedingungen – künftig ganz dem philosophischen Hauptwerk widmete. Mit seiner festen Meinung zum Münchner Abkommen hielt er nicht hinter dem Berg, egal, wie weit die warnende Stimme dringen sollte. Er schrieb parteiisch wie präzis – für die tschechoslowakische Sache und gegen den Lauf in die Katastrophe.

Adolf Hitler hatte, nachdem Österreich „angeschlossen“ war, gefordert, dass die Tschechoslowakei die Gebiete, in denen die deutsche Minderheit im sogenannten Sudetenland eine Mehrheit bildet, abzutreten habe. Bereits im April forderten die Henlein-Faschisten in Karlsbad die „Autonomie“, also die faktische innenpolitische Lostrennung von Prag. Über den Sommer schaukelten sich die deutschen Forderungen hoch, im September 1938 spitzte sich die Lage dramatisch zu. Hitler kündigte den baldigen Einmarsch in die Tschechoslowakei an, sollte die „Sudetenkrise“ nicht im deutschen Interesse gelöst werden. Am 16. September begrüßte Hitler Englands Premier Neville Chamberlain auf dem Berghof. In den frühen Morgenstunden am 21. September wurde Prag mit der Forderung Englands und Frankreichs konfrontiert, die sudetendeutschen Gebiete abzutrennen, dafür eine internationale Garantie für die neuen Grenzen einzuhandeln; London und Paris drohten ultimativ, andernfalls das Land nicht mehr unterstützen zu können, sollte Deutschland einmarschieren wollen.

Um Berlin von diesem „diplomatischen“ Manöver zu überzeugen, kam es vom 22. bis 24. September in Bad Godesberg erneut zu einem Treffen zwischen Hitler und Chamberlain, das mit einem entsprechenden Memorandum endete, das Prag trotz des Drucks seitens seiner westlichen Verbündeten ablehnte. London hatte bis zum Schluss appelliert, die Kröte zu schlucken. Chamberlain erklärte am 28. September im Parlament, dass die Alternative nur noch „diplomatische Lösung“ der Sudetenkrise oder Krieg für Europa laute. Erleichterung bei ihm noch am selben Tag, die Einladung nach München verhieß die Weichenstellung in Richtung Frieden.

Am 29. September 1938 dann das Vierertreffen in München, die Führer aus Deutschland und Italien sowie die Regierungschefs aus Frankreich und England beschlossen mit ihren Unterschriften, dass das Sudetengebiet abgetreten werde und dass die tschechoslowakische Seite die Gebiete binnen weniger Tage zu räumen habe. Mit einem Zusatz pochten London und Paris zwar auf eine „internationale Garantie der neuen Grenzen des tschechoslowakischen Staates gegen einen unprovozierten Angriff“, was aber allein schon wegen des völlig unübersichtlichen Grenzverlaufs eine bloße und inhaltsleere Absichtserklärung blieb.

Die Tschechoslowakei saß nicht am Tisch in München, die Sowjetunion, deren Diplomaten neue Überlegungen ins Spiel gebracht hatten, wie die territoriale Integrität der Tschechoslowakei gerettet werden könnte, war sowieso nicht geladen, London und Paris erklärten das mit der ablehnenden Haltung in Berlin und Rom. England und Frankreich nahmen in München die gravierende Revision der Friedensverträge von 1919 und 1920 in Kauf, Chamberlain und Édouard Daladier erklärten demonstrativ, dafür den Frieden in Europa auf absehbare Zeit eingehandelt zu haben. Beide Staatsmänner vertrauten der Friedensformel von München, betonten plötzlich, wie verlässlich ihnen Hitler – nun nach den persönlichen Eindrücken – vorgekommen sei. Er habe sein Wort gegeben, hieß es immer wieder in Richtung Prag.

Chamberlain hatte übrigens bereits im Mai 1938 von einer „gesünderen Tschechoslowakei“ phantasiert, also von einem Land ohne die Sudetengebiete. Die Mär von einer „gesünderen Tschechoslowakei“ entpuppte sich nach München schnell als Wunschtraum, die neuen Grenzen waren für das Land militärisch nicht zu verteidigen, im Grunde hatten Engländer wie Franzosen ihren Verbündeten in die Falle geschickt. In London wie Paris zeigte man sich überzeugt, dass es Hitler nur um das Sudetenland gehe, dass er sich damit zufriedenstellen werde. Hitlers Drang nach dem Sudetenland wurde als „etwas Natürliches“ hingenommen, das in keinem Fall zu einer Bedrohung für den Frieden in Europa werden dürfe. Die Tschechen wussten es in diesen Septembertagen besser und bezahlten für den Münchner Verrat der Westmächte einen hohen Preis, für die Illusion, dass sich ein raubgieriger Angreifer, der auf die ganze Beute zielt, mit einem Happen ruhigstellen ließe.

Am 1. Oktober 1938 marschierte die Wehrmacht nach vorgegebenem Plan ins Sudetenland ein. Kaum ein halbes Jahr später kassierten die Deutschen am 15. März 1939 die „Rest-Tschechei“ ein, wie in Berlin nun Chamberlains „gesunde Tschechoslowakei“ abfällig genannt worden war. Alle feierliche Erklärung in München bezüglich einer „Garantie“ der „neuen Grenzen“ hatte sich in Luft aufgelöst. Die Tschechoslowakei war zerschlagen – Böhmen und Mähren gerieten unter deutsches Protektorat, die Slowakei erhielt staatliche Unabhängigkeit von Berlins Gnaden.

Damit waren dem großen Krieg in Europa Tür und Tor geöffnet, anders als London und Paris nach München behauptet hatten. Nachdem die Sowjetunion Ende August 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt ein eigenes München fabrizierte – ein Bündnis mit London und Paris gegen Berlin hielt man im Kreml für ein zu großes Wagnis! –, nahm das entsetzliche Geschehen seinen Lauf. Hitlers Deutschland zog in den offenen Kampf um die Herrschaft auf dem Kontinent, um Rache zu nehmen für die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Der deutsche Führer meinte, alle nötigen Voraussetzungen für den Feldzug – vor allem territorial! – geschaffen zu haben.

Ernst Bloch hatte bereits lange vor München gefordert, Hitler mit allen, auch militärischen Mitteln an den Grenzen zur Tschechoslowakei zu stoppen, denn sonst werde der weitere Vormarsch kaum noch aufzuhalten sein (vgl. Blättchen 12/2022). Er verglich das im September 1938 zustande gekommene Spitzentreffen zwischen Berlin, London, Paris und Rom mit der Rettung vor vorgeschobener Gefahr: „Die Massen wurden mit dem Krieg geschreckt, der gar nicht geplant war. Nur auf diese Weise konnten Hitler-Chamberlain sich als Retter ausgeben und neu festsetzen. Der profaschistische Viermächtepakt, Chamberlains Traum, konnte nur dann realisiert werden, wenn er mit Palmenzweigen zusammen, ja als Friedenspalme selber erschien.“ Die hysterischen Behauptungen im Vorfeld, dass Europa im Krieg versinken werde, wenn der deutschen Forderung nicht nachgegeben werde, galten Bloch als Bluff: „Erst musste die Welt auf die riskanteste Weise in einen künstlichen Brand gesetzt werden, damit dann die Brandbluffer selber als Engel der zwölften Stunde erschienen.“ Hitler habe sich in der Stunde des Verrats von München als „Friedensfürst“ feiern können, eine „ungeheuerliche Verdrehung“ nennt Bloch das. „Jedenfalls ist dem Nazi durch Verlegung seiner Methoden auf einen ungewohnten Schauplatz – hier ein Novum gelungen: er hat sogar aus der Erbitterung gegen ihn Gewinn gezogen.“

Bloch führt den Gedanken logisch weiter: „Nun aber ist das Paradox eingetreten, zum ersten Mal in der Geschichte wurden, in der Tschechoslowakei, Grenzsteine verrückt, ohne dass ein Krieg vorhergegangen wäre.“ Hier darf noch einmal eingeworfen werden, dass für Bloch die Alternative so bestand: Entweder Hitler an den bestehenden Grenzen der Tschechoslowakei stoppen, andernfalls werde Europa zu seiner Beute. Bald wird man wissen: Anders als in London oder Paris gemeint, war die Kriegsgefahr in Europa nach München erheblich gestiegen, man hatte mit seiner Unterschrift Hitler nicht besänftigt, es war wie Öl ins Feuer zu gießen. Und bald schon holte der deutsche Führer auch den „nichtgeführten“ Krieg nach. Welthistorisch hatte Bloch mit der Prophezeiung womöglich recht: Hitler hätte an den Grenzen der Tschechoslowakei mit allen Mitteln Einhalt geboten werden müssen! Es geschah aber das genaue Gegenteil, Hitler wurde vielmehr „eingeladen“. Bloch spricht von Verrat, vom „Münchner Diktat“ gegen die Tschechoslowakei, deren Regierung nun „wehrlos wie die Regierung eines Kolonialvolks“ reagierte. Wehrlos „gab man Stück für Stück seine Souveränität preis, wehrlos und in dreifacher Angst (vor Hitler, vor den ‚Westdemokratien‘ und nicht zuletzt vor dem eigenen Volk) ertrug der Hradschin den Unflat und die Niedertracht der nördlichen Propaganda.“ Die Frage nur ist, ob Hitler damals 1938 an den Grenzen der Tschechoslowakei hätte aufgehalten, gar gestoppt werden können!

Bloch gibt eine Antwort, die seiner damaligen politischen Position und seines Blickes auf die Rolle der Sowjetunion entspricht. Sie ist sehr abhängig von der damaligen Zeit, von den damaligen Umständen, hier in gebotener Kürze der Gedankengang. Statt mit Hitler über die Preisgabe der Tschechoslowakei zu verhandeln, hätte es die volle Rückendeckung für das bedrohte Land gebraucht – unter Einschluss eines politischen Bündnisses mit der Sowjetunion, zu dem Moskau bereit gewesen sei. Als ein letztes Mittel hätte es den Einmarsch der Roten Armee bedürft, den zu ermöglichen seien aber weder Prag noch London und Paris bereit gewesen, außerdem hätte der Durchmarsch durch Gebiete Polens und Rumäniens erfolgen müssen. Es wäre eine einmalige Chance gewesen, Hitler zu stoppen – an den Grenzen der Tschechoslowakei: „Hitler hätte daran eine Niederlage, mindestens einen so symbolischen Einhalt seiner Dynamik erfahren, dass die Volksfront in Deutschland sich gebildet und die der sogenannten Westdemokratien wirkliche Demokratie gemacht hätte, nämlich eine, die mit ihrem Todfeind Schluss macht.“ Doch Prag sei von London und Paris in eine Lage manövriert worden, so dass die Entscheidung über das eigene Schicksal in den Händen Chamberlains lag, der dann „friedenspolitisch“ entschieden habe. „Die Tschechoslowakei aber, dies Märtyrervolk, hat zum zweiten Mal die Schlacht am Weißen Berg verloren; und es war, nach dem Entscheid seiner Regierung, nicht einmal eine Schlacht.“

Am Schluss betrachtet und wendet Bloch die tschechische Niederlage, denn die Hoffnung liege im „tschechischen Volk“. „Wie wenige Nationen ist es zum Freiheitskampf geschaffen; Jan Žižka lebt noch in ihm und ebenso der menschliche Comenius. Es wird nicht untergehen und nicht zertreten werden. Auch wenn es zum zweiten Mal auf dem Weg eines Monstrums liegt. In der Stunde, wo die Völker endlich gegen ihre Schlächter aufstehen und ein anderer Friede beginnt als der der Gaunerei und Erstickung, wird das tschechische Volk als erstes wieder ans Licht treten und hochgehobenen Haupts.“

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Anmerkungen:

– Im Freundschaftsvertrag zwischen der DDR und der ČSSR vom März 1967 stellen die beiden vertragsschließenden Seiten in Artikel 7 fest, dass das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 „von Anfang an ungültig war, mit allen sich daraus ergebenden Folgen“.
– Im Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ČSSR vom Dezember 1973 wurde das Münchner Abkommen für nichtig erklärt, indes blieb Prag bei seiner Position (nichtig von Anfang an), Bonn sah sich erst ab jetziger Vertragsunterzeichnung verpflichtet.

– Die Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975 setzte auf ihre Art einen Schlusspunkt, denn die unterzeichnenden Staaten einigten sich auf Grundprinzipien bei den „Fragen der Sicherheit in Europa“: Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität von Staaten, Unverletzlichkeit von Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Es ist jenes Dokument in der Geschichte Europas, mit dem der unheilvolle Geist von München endgültig aus der Diplomatie vertrieben werden sollte.
– Im Vertrag über gute Nachbarschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ČSSR von 1992 ließen sich beide Seiten in diesem Sinne leiten von der Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975, ohne das Münchner Abkommen von 1938 unmittelbar anzusprechen.
– In der „Deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ vom Januar 1997 bekennt sich die deutsche Seite zur „Verantwortung Deutschlands für seine Rolle in einer historischen Entwicklung, die zum Münchner Abkommen von 1938, der Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet sowie zur Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik geführt hat“. Die tschechische Seite bedauert im Gegenzug die nach Kriegsende „erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei“. Die tschechischen Kommunisten (KSČM) verweigerten im Parlament der Tschechischen Republik ihre Zustimmung zu dem Dokument, weil erstens das Münchner Abkommen von 1938 nicht von Anfang an als nichtig erklärt werde und es zweitens eine nicht hinzunehmende Gleichsetzung zwischen dem September 1938 mit samt seinen tragischen Folgen und den Geschehnissen von 1945/1946 gebe.

Bloch-Zitate aus „Betrug mit Frieden“, in: Ernst Bloch: Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt am Main 1970.