25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Ernst Bloch – 1938

von Holger Politt

Hendrik Weiher (1961–2022) zum Gedächtnis

Sichtlich erstaunt schrieb Ernst Bloch im März 1937 seinem Freund Walter Benjamin: „dass Sie nie in Prag waren, ist allerdings erstaunlich.“ Bloch war gemeinsam mit Ehefrau Karola als deutscher Emigrant Anfang 1936 an die Moldau gekommen, hier wurde im September 1937 ihr Sohn Jan Robert geboren. Bloch nutzte die Zeit, um ein 1000 Seiten umfassendes Manuskript niederzuschreiben, das viele Jahre später, nämlich erst 1972, unter dem Titel „Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz“ der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Eine Denkgeschichte sondergleichen, mit Sätzen wie diesen gleich am Beginn: „Das Dauernde und sozusagen Feste ist hier zugleich das Allfließende; den Stein als Grundstoff setzt niemand.“

Die Blochs waren nach Zürich und Wien hierhergekommen, ihre letzte Station auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort in Europa, bevor sie im Juli 1938 über das polnische Gdynia vor Hitlers immer gefährlicher werdendem Treiben noch rechtzeitig nach Amerika auswanderten. Bloch empfahl in Briefen an verschiedene Freunde ausdrücklich Prag, ermunterte, sie den Weg nicht zu scheuen, auch wegen der völlig unkomplizierten Art und Weise, mit dem die Behörden Aufenthaltsbewilligungen erteilten. Bloch erhielt die seine wegen „Arbeit in der hiesigen Universitätsbibliothek“. Zugleich war ihm die in jeder Hinsicht gefährdete Lage des Gastlandes völlig bewusst: „Nicht darf vergessen werden, dass man hier auf einen Epikrater sitzt. Bohemia ist zum Unterschied von der Schweiz in wenigen Stunden restlos besetzt. […] Kurz: wenn die Tschechei nicht völlig eingekesselt wäre, wäre das Land das bequemste. So freilich weiß keiner, wie lange seine Selbständigkeit hält.“

Nicht verwunderlich also, dass Bloch – als nun Hitlers Druck gegen Prag immer bedrohlicher wurde – fest zu Land und Leuten hielt. Vor München riet er zur entschiedenen, also vor allem bewaffneten Gegenwehr. Dem großspurig daherkommenden diplomatischen Treiben der Hitlergegner im Westen traute er indes nicht über den Weg, er witterte frühzeitig den kommenden Verrat, sprach von dem „englischen Spießgesellen“, auf den „man sich nicht verlassen“ dürfe: „Am meisten zehrt das Ungewisse. Wann kommt der Schlag, der uns vernichten will, morgen, übermorgen, oder bleibt uns noch eine Galgenfrist. Das ist die Frage, die jeder Tscheche sich seit Jahren vorlegt.“

Folglich verlegte er seine Hoffnung, um Hitlers verbrecherisches Machtspiel zu stoppen, bevor es zu spät sei, auf die militärische Verteidigungshandlung der Tschechen: „So etwas hat noch kein Volk bisher auszuhalten gehabt. Die Zeit der Überraschungen, sagte Hitler nach der Rheinlandbesetzung, ist vorüber. Aber der Vater der Lüge hat dieses Versprechen so wenig gehalten wie seine übrigen. Die Tage und Nächte kurz nach der Überraschung, die Österreich erlebt hat, werden für jeden, der damals in der Tschechoslowakei lebte, unvergesslich sein. Kaum einer erwartete, dass die Dynamik des Raubs an der tschechischen Grenze halt machen würde. […] Da kam die Wende aus dem kleinen Land selbst her. Eine Überraschung geschah, sogar eine blitzartige, doch diesmal ging sie nicht von Hitler aus. Benesch setzte die Teilmobilisierung der tschechischen Armee gegen die Mehrheit seines Ministeriums durch. Einige Minister zweifelten an der englischen Unterstützung, andere vielleicht noch mehr, Benesch entgegnete: Dann wehren wir uns ohne England.“

Bloch sprach vom „patriotischen Einfluss und Weitblick“, der die Absichten, sich wehrlos und ohne militärische Gegenwehr dem Angriff des überlegenen Gegners zu ergeben, durchkreuzte. „Der kleine Staat hat als erster dem furchtbaren Nachbar die Zähne gezeigt, die Kraft der vollzogenen Tatsachen war diesmal auf der tschechischen Seite. Es hätte ein Wendepunkt sein können; den starken Demokratien des Westens schien die kleine Tschechoslowakei endlich ein wenig Mut zu machen.“

Doch bald, so Bloch unmissverständlich, habe besonders England zur „alten zweideutigen Lammgeduld“ zurückgefunden. Die Nazis legten den Köder aus, signalisierten giftig, „einen Krieg mit der Tschechoslowakei, wenn er nicht vermieden werden kann, wenigstens zu lokalisieren“. Der Weg nach München war gepflastert. Das schändliche Abkommen vom September 1938 nannte Bloch einen „Betrug mit Frieden“: „Man wird auch diese Tage nie vergessen. Es sind die schlimmsten seit 1933, vielleicht ist ihr Druck noch größer. Damals fing das Elend erst an, und man hatte es kommen sehen. Der neue Schlag war den meisten unerwartet.“

Die Tschechoslowakei wurde aufgegeben, Hitler zum Fraß überlassen. Bloch über die fürchterliche Konsequenz: „Nun muss ganz Versailles Nazideutschland zum Besten dienen, nun rentiert es sich für Hitler, dass der Versailler Vertrag einen solch wunderbaren Gürtel schwacher Staaten zwischen Deutschland und die Sowjetunion gelegt hat, dass er sie ungeschützt vors deutsche Gebiss gebracht hat. Nun liegt ganz Osteuropa offen, in monströser Weise, nun erlangen die deutschen Minderheiten im Donauraum für die Nazis einen Wohlgeschmack und Ölglanz, von dem kein Vernünftiger bisher zu träumen wagte.“

Bloch hatte zu denjenigen gehört, die frühzeitig um die entsetzlichen Folgen wussen. Klug hatte er einem den beiden Seiten – dem Aggressor wie dem Überfallenen – geltenden „Die Waffen nieder!“ die verlockende wie fälschliche Maske des Friedensengels abgezogen. Wer weiß heute schon, ob nicht doch die entschiedene Verteidigung der Tschechoslowakei, einschließlich militärischer Mittel, der Welt und vor allem Europa einen weiteren Weltkrieg erspart hätte. Bloch war hierin unmissverständlich klar: „Selbstverständlich kann auch das solideste Volksheer eines Fünfzehnmillionenstaats der deutschen Übermacht nicht lange widerstehen, die Tschechoslowakei kann ohne anderweitige Bindung der deutschen Streitkräfte ihre Position kaum länger als drei Monate behaupten. Aber ein wichtiges Bollwerk ist ein solches Land doch.“

Zitate – aus: Ernst Bloch: Briefe 1903 bis 1975 (Frankfurt am Main 1985) und derselbe: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz (ebenda 1970). Beide Bände sind im Suhrkamp-Verlag erschienen.