28. Jahrgang | Nummer 2 | 27. Januar 2025

Zuversicht wagen

von Stephan Wohanka

Zum Optimismus gibt es keine vernünftige Alternative

Karl Popper

 

In meinem Haus wohnt eine alte Dame, der ich seit Jahren den Weihnachtsbaum besorge. Mit dem Fahrrad fahre ich zum Händler, kaufe den Baum und lege ihn längs aufs Rad, das ich dann schiebe. Unterwegs kam mir ein distinguierter Herr entgegen. Ich sage das so, weil er mir durch Postur und Habit, das sich durch Qualität und Schnitt vom Üblichen abhob, auffiel. Wir waren schon aneinander vorbei gegangen als ich kurz danach den Baum absetzen musste, er war verrutscht, und mein Fahrrad fiel dabei um. Es wieder aufrichtend sah ich diesen Menschen sich umdrehen und auf mich zukommen. Er wollte helfen. Ich winkte ab; ich hatte wirklich keine Unterstützung nötig …

Eine Freundin fand am Heiligabend morgen eine ziemlich zerzauste, verletzte Taube auf ihrem Balkon. Ein Anruf bei einer Tierschutzorganisation machte ihr klar, dass das Tier bald stürbe; sie legte sich Gummihandschuhe zurecht. Am nächsten Tag lag der Vogel immer noch lebend auf dem Boden, einen Tag darauf saß er morgens auf der Balkonbrüstung und war nach wenigen Minuten verschwunden. Unter dem Balkon war er jedenfalls nicht zu finden … nach allem Ermessen davongeflogen.

Zwei Geschichten, die mich nachdenklich machten: Sie geben Zuversicht. Ein Mann, dem ich es ob seines Äußeren kaum zugetraut hätte, helfen zu wollen, wollte genau das. Eine Kreatur, von Fachkundigen schon abgeschrieben, erholt sich und lebt weiter. Gehen wir – manchmal oder auch zu oft – vorschnell vom Negativen aus?

Zuversicht enthält das Wort „Sicht“ – gleich der Fähigkeit zu sehen, auch Ausblick, Betrachtungsweise, aber auch „auf Sicht fahren“. Wie weit reicht diese Sicht gerade? Über die nächste Apokalypse hinaus? Sollte sie. Zuversicht hat mit Lebensbejahung, Gewissheit, für manche mit Gottvertrauen zu tun; auch mit Perspektive, Zukunft, Zutrauen zu sich selbst. Zuversicht ist als Haltung entweder zeitlich begrenzt angelegt – zum Beispiel nur auf bestimmte Ereignisse, Themen – oder längerfristig – in Form einer individuellen Disposition. Daraus kann Optimismus entstehen, die Erwartung, dass sich Dinge zum Besseren, zum Anderen wenden oder gut ausgehen werden. So kann Resilienz gefördert werden, um Herausforderungen gewachsen zu sein.

Sind diese Überlegungen nicht naiv? Widerspricht ihnen nicht jede Evidenz? Aus dem Pathos der Weltveränderung ist die Litanei der Unabänderlichkeit der Verhältnisse geworden. An Stelle der Zuversicht in gesellschaftliche Bewegung ist der Pessimismus des Stillstands getreten. Viele wissen sofort, dass und warum etwas nicht geht; der Generalverdacht ist der Königsweg der Verweigerer. Nichts darf gut sein; alles, was nur den Anschein einer Wende zum Anderen hat, wird diskreditiert. Zukunft von gestern.

Einher geht damit die moralische Einteilung der Welt in „Freund“ und „Feind“; die Ursache nahezu allen Übels auf der Welt wird „einflussreichen Kräften“ – namentlich in den USA – oder undurchsichtigen „finanzstarken Mächten“ oder pauschal „den Eliten“ zugeschrieben. Im Inneren wird desgleichen pauschal und unscharf mit „Volk“ und „Eliten“ argumentiert, um soziale und politische Konflikte zu befördern. Alles etwas unterkomplex, aber bekanntlich je simpler, desto verfänglicher … Auch die andauernde persönliche Diffamierung von Politikern hilft nicht weiter; sie hat mit politisch-sachlicher Analyse und Vernunft nichts gemein und nährt nur das Ressentiment.

Aus dem Leben ist der Zufall – siehe oben – nicht wegzudenken, ebenso wenig das Risiko, das Gelingen und das Scheitern; Zustände, mit denen wir umgehen müssen. Dieser Ambiguität unterliegt auch die Politik. Wäre das nicht so und bestimmten „einflussreiche Kräfte“ im Hintergrund von vornherein Politik (und Medien), dann wären politisches Engagement und das demokratische Ringen um Alternativen tatsächlich sinnlos.

Die Grenzen zwischen politischer Zuversicht, Optimismus und Naivität sind subtil, hängen von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend ist die gründliche Analyse: Ich denke, Politiker sollten sich bewusst sein, dass sie bislang zu wenig unternahmen, um die gesellschaftliche Polarisierung zu unterbinden, dass sie diese in Teilen sogar verstärkten durch angemaßte moralische Deutungshoheit, die nicht nur den immer zitierten „Grünen“ eigen ist und die große Minderheiten abstößt. Wenn man Politik für eine Mehrheit machen wollte, müssten auch Maßnahmen für diese Minderheiten dabei sein. Bessere Zugänge zu Bildung nicht nur der Kinder und zum lebenslangen Lernen, Politik, die politische und materielle Teilhabe für marginalisierte Gruppen sicherstellt, um die direkte Demokratie zu fördern und Bürger stärker einzubinden. Damit einhergehend könnte ich mir die Förderung politischer Transparenz, die Etablierung klarer und ethischer Standards für den Umgang mit Daten, die Stärkung der Rahmenbedingungen für unabhängige Medien vorstellen, denn was wir von uns wissen, wissen wir in Form der von uns medial erzeugten Öffentlichkeit.

Warum ist das Freiheitsversprechen, das westliche Gesellschaften ausmacht, heute weniger attraktiv als vor Jahren? So wichtig die negative Freiheit – die Freiheit „von“ – als Grundlage der res publica auch ist: Sie bedarf heute mehr denn je der Ergänzung durch die positive Freiheit, die Freiheit „zu“, zu Teilhabe, Gerechtigkeit und Mündigkeit. Menschen, Bürger nicht mehr als Follower, als Anhänger zu sehen, sondern als „Selbstdenker“. Um die sozialen Abwehrkräfte gegen Horrorszenarien zu stärken, um den höchst einfachen Weltbildern etwas entgegenzusetzen. Und – noch wichtiger – den Beweis aufrechtzuerhalten, dass die liberale Demokratie alles in allem erfolgreicher ist als autoritäre Regime.

Wenn es richtig ist, dass wir als Menschheit des Anthropozäns am Scheideweg stehen – wie kann es uns gelingen, unser Handeln in allen Lebensbereichen grundlegend zu verändern? Wie können wir Ernährung, Arbeit und Mobilität, unser ganzes Leben neu denken und gestalten, um die nötige Transformation zu bewältigen? Müssten wir uns nicht vom statischen zum dynamischen Denken bewegen? Also weg von „Das haben wir schon immer so gemacht“ hin zu „Die Welt ändert sich rapide; wie können wir uns anpassen und überleben?“

Wie wär´s daher mit gedanklicher Freiheit statt ideologischer Blockade? Schaut man sich die Wahlprogramme zur Bundestagswahl an, wird genau das deutlich: Es wird Bekanntes recycelt, kaum neue Ideen, schon gar keine der Lage adäquaten Veränderungsgedanken. Mindestlohn, sichere Rente sind die Themen der einen Seite, niedrigere Steuern und weniger Migration die der anderen. Vielleicht lockert man nach der Wahl die Schuldenbremse etwas; das dürfte schon das Revolutionärste sein. Status quo allenthalben. Viele spüren, dass das nicht reicht. Müssen divergierende Gesellschaftskonzepte zwischen politisch „links“ und „rechts“ in jedem Falle lösungsorientierte Politikansätze verhindern?

Ein Kardinalfehler der Ampel bestand darin, dass man an einem über 100-seitigen Koalitionsvertrag festhielt und so tat, als könne man all das trotz Ukrainekrieg mit dessen Folgen eins zu eins weiter umsetzen. Eine Lehre muss sein, Koalitionsverträge grundsätzlich kürzer, pointierter, auf Wesentliches ausgerichtet zu machen. Die Regierung muss beweglicher, flexibler agieren können, denn eine Legislatur dauert vier Jahre und die Welt dreht sich rasend schnell weiter.

Die Ampel hatte keine Kraft (mehr) für eine ökologische Wirtschaftswende und für die Stabilisierung der sozialen Sicherung im demografischen Wandel; alles schon unter Angela Merkel über Jahre verschleppt. Wie verwandeln wir diese Lethargie in eine schöpferische Kraft? Die grundlegenden Dringlichkeiten für jede neue Regierung sind häufig genug beschrieben; bei Beibehaltung des tradierten kleinteiligen Gezänks wüchsen sie nur und könnten umso schwerer bewältigt werden. Strategische Würfe sind gefragt. Aber auch: Wie wäre es, von (gesetzlichen) Standards probeweise abweichen zu können? Mit „Genehmigungsfiktionen“ zu arbeiten? Und wann finden die Verantwortlichen für die EU endlich den Mumm, das Paradox aufzulösen, wonach das Prinzip der Einstimmigkeit nur einstimmig abgeschafft werden könne?

Alles in allem: Mehr Veränderung wagen! Am Ende ist es der Zuversicht egal, ob man ihr mit Zynismus oder Unglauben begegnet. Es reicht einer, der beginnt; Mehrheiten finden sich dann.