28. Jahrgang | Nummer 1 | 13. Januar 2025

Lenin – „Neubewertung“ ohne Neuwert

von Wladislaw Hedeler

Verena Moritz und Hannes Leidinger, beide ausgewiesene Historiker und Hochschullehrer, sind bereits mit zahlreichen Publikationen zur russischen Geschichte hervorgetreten und haben Maßstäbe für die Aufarbeitung der Kommunismus- und Gewaltgeschichte gesetzt. Ihr neuestes, zu Lenins 100. Todestag fertiggestelltes Buch, enthält 14 von Moritz chronologisch (von der Ermordung Alexander Uljanows bis zum Umsturz im Oktober 1917) und drei von Leidinger thematisch angelegte Kapitel (über den Bürgerkrieg, die Komintern und über Lenin in der [post]sowjetischen Erinnerung und Geschichtspolitik).

Beide suchen „nach einem historischen Lenin“ und vergleichen die vorliegende Studie, deren Schwerpunkt auf dem jungen Lenin liegt, zurecht mit einer Art Update, in dem auch ältere Publikationen enthalten sind. An Verweisen auf Autoren, angefangen von Louis Fischer und Dietrich Geyer über Richard Pipes und Lars T. Lih bis hin zu Adam B. Ulam und Bertam D. Wolfe herrscht in der Tat kein Mangel.

Was in dem Update im Unterschied zur ausführlich zitierten und diskutierten „alten“ Literatur sowie englischsprachigen Publikationen leider fehlt, sieht man von einigen Erwähnungen in den von Leidinger verfassten Kapiteln ab, sind Hinweise auf neuere – nach 2017 veröffentlichte – Arbeiten russischer Autoren, etwa auf die in Russland unter Federführung von Albert Nenarokow publizierten Dokumenteditionen zur Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands oder auf die von Andrej Sorokin herausgegebenen Veröffentlichungen über Lenins Leben und Werk aus den Beständen des Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte in Moskau. Diese Veröffentlichungen stellen sowohl das von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation als auch das von Putin propagierte Geschichtsbild in Frage und eröffnen neue Wege zur Erforschung der Parteienlandschaft in Russland. So könne, folgt man den erwähnten Dokumenteditionen, im Unterschied zur bisherigen Darstellung der Ausdifferenzierung innerhalb der russischen Sozialdemokratie nicht mehr von zwei Strömungen unter einem Parteidach gesprochen werden, es handelte sich vielmehr um zwei Parteien, eine sozialdemokratische und eine kommunistische.

Die in der Bundesrepublik erschienenen Abhandlungen – hier sei auf die Miniaturen-Reihe des Berliner Karl Dietz Verlages, auf Publikationen Stefan Bollingers im Papy-Rossa-Verlag und bei ProMedia, Michael Bries bei VSA und auf die im Verlag 8. Mai erschienenen Neuausgaben von Lenins Arbeiten „Imperialismus als höchstes Stadium“, „Der Marxismus über den Staat“ sowie „Staat und Revolution“ hingewiesen – sind im Nachbarland offensichtlich nicht bekannt, lediglich Wolfgang Ruge und Hendrik Wallat finden bei Moritz und Leidinger Erwähnung.

Eines der Anliegen der deutschen Historiker-Kollegen war, Lenin im Kontext eines kollektiven Meinungsbildungsprozesses, das heißt in der Auseinandersetzung sowohl mit Gleichgesinnten als auch Opponenten zu präsentieren. Im Klappentext des vorliegenden Buches hingegen wird auf ein anderes Lenin-Bild verwiesen: auf die „Geschichte eines Einzelgängers in einer Welt im Umbruch“.

Die Antwort von Moritz und Leidinger auf die seinerzeit von Wolfgang Ruge aufgeworfene Frage, wer Stalin die Knute in die Hand gab, fällt ebenso eindeutig aus wie die Kritik am von den Bolschewiki initiierten Oktoberumsturz.

So wichtig und richtig diese Ausführungen sind, reichen sie nicht aus, um der im Untertitel des Buches genannten „Neubewertung“ gerecht zu werden.

 

Verena Moritz / Hannes Leidinger: Lenin. Die Biografie. Eine Neubewertung, Residenz Verlag,

Salzburg /Wien 2023, 655 Seiten, 38,00 Euro.