28. Jahrgang | Nummer 1 | 13. Januar 2025

Die Militarisierung des Genoms

von Peter Linke, zz. Almaty

Im vergangenen Oktober informierte die Washington Post ihre Leser über umfangreiche Baumaßnahmen auf dem Gelände eines der bestbewachten militärischen Objekte Russlands, dem rund 70 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Sergijew Possad-6 – seit den 1950er Jahren eine der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen der Sowjetunion zur Erforschung und Bekämpfung gefährlicher Pathogene wie Pocken-, Ebola-, oder Enzephalitis-Viren. Mindestens zehn Gebäude seien in den letzten Jahren entstanden, darunter vier, die höchsten Sicherheitsanforderungen genügen, des Weiteren Tunnelanlagen sowie ein kleines autonomes Kraftwerk.

Welche Absichten könnte Moskau mit diesem Bauprogramm verfolgen: Will man damit Voraussetzungen dafür schaffen, Russland besser auf künftige Pandemien vorzubereiten oder – es ein neues Biowaffenprogramm auf den Weg bringen? Die Post ruft als Kronzeugen keinen Geringeren als Sergej Borisewitsch, Direktor des in Sergijew Possad-6 angesiedelten 48. Zentralen wissenschaftlichen Forschungsinstituts des Russischen Verteidigungsministeriums auf: Der Kreml, so der hochdekorierte Mikrobiologe, müsse dringend seine Kapazitäten zur Abwehr biologischer Angriffe durch Gegner Russlands, einschließlich ausländischer Staaten und terroristischer Gruppierungen, ausbauen.

Sind deshalb die von Borisewitsch und anderen seit einigen Jahren wiederholt vorgebrachten Vorwürfe, Washington betreibe in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion geheime Bioforschungslabore, nichts weiter als ein gewaltiger Rauchvorhang, mit dem von eigenen fragwürdigen Aktivitäten abgelenkt werden soll?

Die Post jedenfalls nutzte die Gelegenheit, um noch einmal klarstellen zu lassen, dass die USA weder allein noch mit Partnern an biologischen Waffen arbeiteten. Dies freilich schließe nicht aus, dass russische Wissenschaftler berechtigter Weise glaubten, dass eine derartige Gefahr existiere und Russland daher das Recht habe, entsprechende Waffen zu entwickeln und zu testen.

Neu ist freilich all dies nicht: Seit Jahr und Tag hört man aus Washington, die USA hätten seit Nixon keinerlei offensive Biowaffensysteme mehr entwickelt und nach Inkrafttreten der UN-Biowaffenkonvention (BWC) von 1972 all ihre Vorräte vernichtet, was Moskau freilich nie geglaubt und deshalb bis weit nach dem Ende der Sowjetunion, trotz BWC-Mitgliedschaft, in Sagorsk-6 (dem heutigen Sergiew Possad-6) und anderswo weitergeforscht hat.

Dem „Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen“ (so der komplette deutsche Titel der BWC) sind bis heute über 180 Staaten beigetreten. Gegen diesen ersten internationalen Abrüstungsvertrag, der die Produktion einer gesamten Kategorie von Waffen untersagte, wehrten sich Ende der 1960er Jahre insbesondere die USA. Während die Sowjetunion und die Nichtpaktgebundenen biologische und chemische Waffen im Rahmen eines gemeinsamen Vertrages erfassen wollten, bestanden die USA und deren westliche Verbündete auf einem separaten Biowaffenabkommen, da chemische Waffen nach wie vor als militärisch nützlich (etwa zur Bekämpfung Aufständiger) angesehen wurden. Erst nachdem die Sowjetunion bereit war, beide Waffengattungen voneinander zu entkoppeln, machten die US-Amerikaner 1971 den Weg für ein Biowaffenabkommen frei. (Ein entsprechendes Abkommen über C-Waffen folgte erst Anfang der 1990er Jahre).

Zwar verbot die BWC „die Entwicklung, Produktion, Lagerung oder den andersweitigen Erwerb bzw. die Aufbewahrung mikrobieller Wirk- und Giftstoffe“, aber nicht die Anwendung biologischer Waffen. Ebenfalls ausdrücklich erlaubt ist die Arbeit mit mikrobiellen und anderen biologischen Wirk- und Giftstoffen „für prophylaktische, Schutz- und andere friedliche Zwecke“. Somit ermöglicht die Konvention die Erforschung von Schutzmitteln zur Abwehr nicht nur existierender, sondern auch künftiger biologischer Waffen. Zusammen mit dem Fehlen eines wirkungsvollen Kontrollmechanismus (den Washington unter George W. Bush und Barack Obama zweimal erfolgreich sabotierte) dürfte der BWC künftig eher zur Proliferation, denn zur nachhaltigen Beseitigung biologischer Waffensysteme beitragen.

Ermöglicht wird diese Entwicklung vor allem durch erhebliche Fortschritte in der Wissenschaft – in der Genforschung, durch Entstehung vollkommen neuer Wissenschaftszweige wie der synthetischen Biologie oder bei der Entwicklung von Systemen künstlicher Intelligenz.

Bereits vor über zwanzig Jahren warnten Jan van Aken und Edward Hamm nicht nur vor der Optimierung bakteriologischer Kampfstoffe (wie Milzbrand) durch einfachste genetische Manipulationen, sondern auch vor sogenannten „nicht-lethalen“ Waffen – gentechnisch bearbeiteten Mikroorganismen zur Materialzersetzung (Metalle, Treibstoffe, Tarnanstriche) und Pflanzenvernichtung (Schlafmohn, Koka) sowie vor biogenen Waffensystemen, die auf Grundlage neuer medizinischer Techniken wie RNAi (der zielgerichteten Abschaltung von Genen) ethnische Kriegführungsszenarien in den Bereich des Möglichen rücken ließen.

Insbesondere in aktuellen anglo-amerikanischen Veröffentlichungen spiegelt sich dabei ein neues Ineinandergreifen von Wissenschaft und Militär deutlich wider – mit einer Nuance: Im Mittelpunkt stehen meistens defensive Maßnahmen wie Umweltschutz (Biosanierungsmaßnahmen), Bioabwehr (Bekämpfung biologischer Gefahren durch gentechnisch veränderte Mikroben), die Entwicklung nährstoffreicher und funktionaler Lebensmittel sowie die Anwendung innovativer neuropharmakologische Mittel für gesteigerte mentale Widerstandskraft. Hinzu kommt die verstärkte Nutzung Künstlicher Intelligenz in der biotechnologischen Forschung, die durch fortgeschrittene Datenanalyse zunehmend maßgeschneiderte Lösungen ermöglicht.

Offensives Vorgehen wird meist den „Anderen“ unterstellt. Etwa Russen und Chinesen. Während Ersteren in Sachen innovativer militärischer Genforschung offenbar nicht allzuviel zugetraut wird, werden Letztere inzwischen als die „Biogefahr“ der Zukunft beschrieben. Besonders beunruhigend für US-Militäranalysten: die enge Kooperation zwischen militärischen und zivilen Einrichtungen im Reich der Mitte bei der Erforschung der CRISPR-Technologie. Bereits 2019 unterstrich das US-Portal Defense One, es sei „zunehmend wichtig, das Interesse des chinesischen Militärs an der Biologie als einer im Entstehen begriffenen Domaine der Kriegführung, befeuert durch Strategen, die potentiellen ‚genetischen Waffen’ und der Möglichkeit eines ‚unblutigen Sieges’ das Wort reden, im Auge zu behalten […].“

Natürlich, so westliche Beobachter, würde Russland auch gern diesen Weg gehen – allerdings fehlten ihm dafür sowohl die finanziellen Mittel als auch das wissenschaftliche Potential. Über „genetische Waffen“ redeten russische Militärwissenschaftler seit 1976, überzeugt davon, dass die USA an eben diesen arbeiteten. Allerdings steckte die damalige sowjetische Genforschung noch immer in einer tiefen Krise, ausgelöst durch die Stalinsche Förderung des Lysenkoismus, einer pseudowissenschaftlichen Theorie, wonach die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern ausschließlich durch Umweltbedingungen bestimmt würden. Mit der in den 1970er Jahren erfolgten Gründung von „Biopreparat“, einer Holding aus hunderten Betrieben mit tausenden Mitarbeitern, finanziert aus Mitteln des sowjetischen Verteidigungsministeriums, wollte man möglichst zügig den Rückstand zur westlichen Genforschung überwinden. Doch bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion gelang das nicht.

Dass der russische Präsident Wladimir Putin militärischen Anwendungen der Gentechnik große Aufmerksamkeit schenkt, machte er bereits 2012 in einen Grundsatzartikel zur Zukunft der russischen Armee deutlich, in dem er „Genwaffen“ als eine militärische Schlüsseltechnologie der Zukunft bezeichnete.

Inzwischen scheinen militärische Einrichtungen auch wieder enger mit zivilen Strukturen zusammenzuarbeiten, etwa das 48. Zentrale Forschungsinstitut mit dem Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau bei der Entwicklung neuer Vektorimpstoffe.

Darüber hinaus lassen die „Renovierungsarbeiten“ in Sergijew Possad-6 und an anderen traditionellen Standorten wie Kirow und Jekaterinburg, der Ausbau der Genforschung am Moskauer Kurtschatow-Institut sowie die 2016 in Moskau erfolgte Eröffnung eines wissenschaftlichen Zentrums zur Abschätzung chemischer und biologischer Bedrohungen durchaus den Schluss zu, dass der Kreml keineswegs gewillt ist, sich sang- und klanglos aus dem gegenwärtig Fahrt aufnehmenden „biologischen Rüstungswettlauf“ zu verabschieden.

Und was Washington betrifft, so ist auch dessen diesbezüglicher Ansatz alles andere als ausschließlich defensiv. Das verrät bereits ein Blick auf die Website der Agentur für militärische Grundlagenforschung (DARPA), auf der unter anderem von einem „Programm zur Entwicklung schnell wirksamer Inhibitoren der Genom-Editierung“ (RIDDL) die Rede ist. Worauf dies abzielt, machte der damalige DARPA-Direktor Steven H. Walker bereits 2019 deutlich: auf die Genom-Editierung von Soldaten, um sie resistenter gegen chemische und biologische Kampfstoffe zu machen.

All dies zeigt deutlich: Künftig wird es noch schwieriger werden, zwischen offensiven und defensiven Waffen zu unterscheiden! Eine neue Generation von Biowaffen greift Raum, der mit dem bisherigen Abrüstungsvokabular nicht mehr beizukommen ist. Das sind jene Waffen, die der russische Schriftsteller Sergej Ionin bereits vor über 15 Jahren als „parallele Waffen“ bezeichnete – „Waffen, über die auf internationalen Kongressen nicht gesprochen wird und die in Abrüstungsdokumenten nicht vorkommen […].“