27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Das Wahlrecht gefährdet die Demokratie

von Bernhard Mankwald

Diese provokante These ist natürlich nicht im Sinne des antiken Theoretikers Aristoteles zu verstehen, der die Besetzung der Ämter durch Wahl für eine oligarchische Einrichtung hielt. Auch nicht im Sinne von Rousseau, der unter „Demokratie“ im eigentlichen Sinne ausschließlich die Herrschaft einer Volksversammlung verstand. Es geht hier vielmehr darum, dass eine Bestimmung des geltenden Wahlrechts zu einer gefährlichen Instabilität der politischen Kräfteverhältnisse führt: Die Fünf-Prozent-Klausel macht die Wahl zu einem Glücksspiel.

Eine Partei wie die FDP, die nach den Ergebnissen der letzten Landtagswahlen in manchen Ländern praktisch nicht mehr existiert, wird es schwer haben, diese Hürde zu überspringen; und realistische Aussichten auf Direktmandate hat sie nicht. Die Partei „Die Linke“ dagegen kann allenfalls durch solche Erfolge wieder ins Parlament einziehen. Und das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ hat zwar nach Wahl- und Umfrageergebnissen bessere Aussichten, hat aber in vielen Regionen noch keine Organisation aufgebaut, die einem Wahlkampf gewachsen ist. Sie alle sind in ihrer parlamentarischen Existenz bedroht durch eine willkürliche und schroffe Regelung, bei der im Extremfall eine einzige Stimme über „Sein oder Nichtsein“ entscheiden kann. Und auch die CSU wäre gefährdet, wenn das Bundesverfassungsgericht die Streichung der Grundmandatsklausel hätte durchgehen lassen. Wichtige Teile des politischen Klangspektrums werden also gleichsam nach dem Zufallsprinzip ein- oder ausgeblendet; wie lassen sich da Misstöne vermeiden?

Hier soll eine Alternative zur Fünf-Prozent-Klausel vorgestellt werden, die ähnlich, aber weniger abrupt wirkt; zunächst aber ein anderer Gedanke zu einer Vereinfachung des Wahlrechts.

Das bisherige Wahlverfahren beruht auf dem Grundsatz der „Personalisierten Verhältniswahl“, über den weitgehend Konsens besteht. Zur Zeit wird das so gehandhabt, dass ein Kandidat in einem Wahlkreis direkt gewählt wird, wobei die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreicht, um ein Mandat zu erringen. Die so verteilten Sitze werden dann auf die Mandate angerechnet, die nach dem Prinzip der Verhältniswahl verteilt werden. Die sogenannte „Zweitstimme“ war also in den meisten Fällen ausschlaggebend für die Verteilung der Sitze im Bundestag, die „Erststimme“ nur in Ausnahmefällen. Und neuerdings haben nicht einmal diejenigen Kandidaten einen Sitz im Parlament sicher, die in ihrem Wahlkreis eine relative Mehrheit erhalten; dann nämlich, wenn die Mandate, die der jeweiligen Landesliste nach dem Proporz zustehen, bereits ausgeschöpft sind.

Es ist aber auch ein einfacheres Verfahren möglich: hier hat man nur eine einzige Stimme und gibt diese nicht einfach einer Liste, sondern einer bestimmten Person, die darauf kandidiert. Die Sitze werden dann nach dem Verhältniswahlrecht auf die Listen verteilt, und zwar auf jeder Liste an diejenigen Kandidaten, die die meisten individuellen Stimmen gewinnen. Praktische Erfahrungen mit diesem Verfahren liegen vor: Das Studentenparlament der Ruhr-Universität Bochum wurde auf diese Weise gewählt, als ich vor mehr als 40 Jahren für dieses Gremium kandidierte. Dabei zeigten sich gewisse Probleme, die sich aber überwinden lassen.

Ein Mangel des Verfahrens war ein starker Positionseffekt. Wer keine ausgeprägte Präferenz für einen bestimmten Kandidaten hatte, wählte naturgemäß jemand, der weit vorne auf der Liste stand. Da unsere Liste nach den Gliederungen der Universität sortiert war, war die damalige Abteilung I stark überrepräsentiert; dies wurde dadurch korrigiert, dass einige der Gewählten bereitwillig zurücktraten.

Diesen scheinbaren Mangel kann man aber in einen Vorteil wenden, indem man in jedem Wahlkreis den ersten Platz auf der Liste für den Wahlkreiskandidaten reserviert. Ob die übrigen Plätze landesweit in einer festgelegten Reihenfolge vergeben werden oder variieren, könnte man getrost den jeweiligen Parteien überlassen. 

Aufgeben müsste man bei einer solchen Reform das Prinzip der Landeslisten. In großen Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Bayern müssten sonst Tausende von Namen auf dem Stimmzettel stehen – der „Zettel“ würde eher an ein Plakat erinnern. Hier könnte man sich helfen, indem man eine bestimmte Anzahl von Wahlkreisen zu einem Verbund zusammenfasst. Länder mit großer Bevölkerung würden also in mehrere solche Verbünde aufgeteilt; die kleineren unter Umständen mit anderen Wahlkreisen zusammengefasst.

Eine Schranke ergibt sich auch bei reiner Verhältniswahl aus der Größe der Gebiete, in denen die gleiche Liste gilt. Bei der Wahl zum Nationalrat der Schweiz etwa sind diese mit den Kantonen identisch, und die Stimmen werden zwischen diesen nicht ausgeglichen. Beim Kanton Waadt mit seinen 19 Mandaten sind die Auswirkungen denen der Fünf-Prozent-Klausel sehr ähnlich. Eine derartige Regelung würde auch Parteien den Zugang zum Parlament erlauben, die wenigstens in einer bestimmten Region stärker vertreten sind – und solche regionalen Schwerpunkte und Defizite sind ja zur Zeit bei wirklich allen Parteien zu beobachten.

Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage gestellt, über die am 16. Dezember (dem Tag der Veröffentlichung dieses Textes) abgestimmt wird; es ist zu erwarten, dass das Parlament ihm das Vertrauen entzieht. In diesem Fall will er den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestags bitten; dieser müsste damit aber noch einige Tage warten, um den angestrebten Wahltermin am 23. Februar 2025 zu ermöglichen. Falls dieses Szenarium so umgesetzt wird, muss die Wahl auf jedem Fall nach dem geltenden Wahlrecht erfolgen, weil es für Änderungen viel zu spät ist.

Das Wahlrecht gehört aber bereits jetzt zu den Wahlkampfthemen: Die CDU/CSU hat bereits angekündigt, dass sie jüngste Änderungen rückgängig machen will. Damit droht eine Rückkehr zum kostspieligen und dysfunktionalen Unfug der Ausgleichsmandate (ich berichtete darüber im Blättchen 6/2022). Die aktuelle Legislaturperiode endet aber auf jeden Fall erst, wenn ein neugewähltes Parlament sich konstituiert. Wäre es da nicht zumindest einen Versuch wert, noch in diesem Zeitraum einen möglichst breiten Konsens in dieser Frage zu finden? Eine solche Regelung könnte dann auch dauerhafter als bisher vor weiteren willkürlichen Änderungen geschützt werden.

Gelingt dies nicht, könnte das Wahlrecht nach einer Neuwahl zu den Sachfragen gehören, an denen die Bildung einer tragfähigen Regierungsmehrheit scheitert. Dies würde den Bundespräsidenten vor die schwere Entscheidung stellen, ob er eine Minderheitsregierung ernennt – oder aber den eben erst gewählten Bundestag gleich wieder auflöst.