Es wird viel geredet hierzulande. In Talkshows, auf Bühnen, ganz großen wie ganz kleinen, in Podcasts und im Internet. Die Palaver mit Prominenten sind nur mitunter geistreich, meist werden sie lediglich deshalb um Auskunft gebeten, weil sie prominent sind. Nicht etwa wegen ihres intellektuellen Vermögens. Das erklärt beispielsweise auch, weshalb in TV-Talkshows immer dieselben Figuren herumsitzen und das Publikum langweilen, denn dieses weiß bereits, was sie sagen werden, weil sie es oft genug schon in solchen Runden mitgeteilt haben. Gelegentlich finden Wortgefechte und Scharmützel statt, weil der Moderator seinem Gegenüber über den Mund fährt und nicht ausreden lässt. Erstens weil er (oder sie) alles besser weiß und zweitens, weil er (oder sie) die befragte Person erkennbar nicht mag. Warum aber wird sie dann zum Gespräch gebeten?
Wir kennen auch Dialoge, in denen der Interviewer sich krampfhaft an Karten festhält, auf denen Fragen formuliert sind, die brav abgearbeitet werden. Auf seinem Gesicht ist ablesbar, dass die Antwort weit weniger von Interesse ist als die nächste Frage und der Zeitpunkt, wann sie gestellt werden sollte. Der Blick aufs Papier offenbart gleichermaßen Desinteresse wie Unfähigkeit zum Dialog. Ein Gedankenaustausch setzt zudem auch die Anwesenheit von Gedanken voraus. Beiderseits.
Es gibt dennoch Menschen, die ein Zwiegespräch auf offener Bühne zu führen fähig sind, was zudem unterhaltsam ist: fürs beiwohnende Publikum und für die beiden (oder mehreren) Personen, die sich dort unterhalten. Wo eben kein Verhör geführt, sondern eine Konversation gepflegt wird. Wo jeder Raum hat sich zu äußern und auch angehört wird. Einer dieser begnadeten Konservateure ist Paul Werner Wagner, bekannt auch als PWW, einst in der Produktion bewährter Republikflüchtling und späterer Fernstudent an der Berliner Humboldt-Universität. Der Hinweis auf den Fluchtversuch im Jahr 1967 ist insofern wichtig, als er während der neunzehnmonatigen Haft intensiv Schach gegen sich selbst spielte, was dazu führte, dass er später die Emanuel-Lasker-Gesellschaft gründete, deren Vorsitzender er lange war. Lasker, das nebenbei, war der einzige deutsche Weltmeister, und das 27 Jahre lang. Der jüdische Mathematiker und Philosoph starb 1941 im New Yorker Exil. In der DDR, auch das soll erwähnt sein, erschien zu seinem 100. Geburtstag eine Briefmarke mit Laskers Konterfei – die einzige Marke bislang hierzulande. Und dass die beiden Schulen, die seinen Namen tragen, sich im Osten Deutschlands befinden, überrascht auch nicht.
Der Schachspieler und -kolumnist PWW, Jahrgang 1948, führt seit Jahrzehnten Hunderte öffentliche Unterhaltungen. Er hatte und hat eine Vielzahl von Gesprächsreihen: in Berlin, Halle, Magdeburg, in Wolfen, wo er herkommt. Dort gab es jenseits der Straße einen Opa Richter. Das war ein etwas mürrischer, muffliger alter Mann, der, Zigarre rauchend auf dem Sofa in der Küche sitzend, sich in einen freundlichen, dem Leben zugewandten Menschen verwandelte, sobald er über sich zu erzählen begann. Ausufernd und unterhaltsam, den halbwüchsigen Paul fesselnd. Das war für diesen ein Schlüsselerlebnis: Es weckte die Neugier auf die Geschichten anderer Menschen. Und diese Erfahrung in die Zukunft prolongierend: Unbekannte, Nobodys in unserer Mediengesellschaft geheißen, haben oft eine weitaus interessantere Biografie als die Bekannteren. Aber wer ist schon neugierig auf Meier, Müller, Schulze oder Richter? Mit denen lassen sich die Säle nicht füllen. Ein dialektischer Widerspruch wie auch die ganze DDR, welche sich durch alle Gespräche Wagners zieht. Da kommt der Literaturwissenschaftler durch.
Nicht wenige, mit denen sich Wagner unterhielt, sind nicht mehr. Aber nicht die Tatsache, dass von ihm befragte Schriftsteller und Schauspieler, Künstler und Kulturfunktionäre, Philosophen und Philanthropen inzwischen tot sind, macht seine nunmehr gedruckten Gespräche zu einem einzigartigen kulturhistorischen Zeugnis. Es sind ungewöhnliche Dokumente über die DDR. „Die Suche nach den Fehlern im politischen Spiel DDR wird dabei nicht wie üblich im propagandistischen Tagesgeschäft vom Ende hergeleitet“, so Hans-Eckardt Wenzel in seinem tiefschürfenden Vorwort, „sondern von ihrem Anfang, also von ihrem Sinn in der Geschichte, nicht vom absurden Theater ihres Endes.“
Womit wir endlich beim Thema sind. Wagner hat dreizehn Gespräche in einem Buch vereint, das Mitte Dezember in Berlin vorgestellt wurde. Der einstige Betsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow war bis auf den letzten Platz gefüllt, unter den fast zweihundert Besuchern war manch bekanntes Gesicht zu sehen. Paul Werner Wagner und Hans-Eckardt Wenzel trugen Ausschnitte aus vier Gesprächen vor, zwischendurch griff Wenzel zur Gitarre oder setzte sich ans Klavier. Allerdings wurde nicht nur zitiert, sondern der Interviewer wurde diesmal selbst interviewt: Das war sehr unterhaltsam, aufschluss- und geistreich. Manch Lachsalve rollte durch den Saal.
Gewiss nicht zufällig lasen die beiden zu Beginn aus dem Gespräch mit Wolfgang Leonhard, das im Oktober 2005 im Berliner Brecht-Haus geführt worden war. Darin ging es um sowjetische Kulturoffiziere, („die übrigens alle fließend Deutsch konnten“) und deren Bemühen, das Leben nach diesem Krieg wieder in Gang zu bringen. Leonhard, der Ende April 1945 mit der Gruppe Ulbricht nach Berlin gekommen war, legte Wert auf die Feststellung, dass die einstige Reichshauptstadt „zwei Monate und zwei Tage militärisch in den Händen der sowjetischen Truppen“ war. „Es gab ein einheitliches Berlin.“ Die Politische Hauptverwaltung habe bereits fünf Tage nach der Kapitulation in einem Kino an der Frankfurter Allee eine Kulturkonferenz abgehalten – weil Kultur in den Augen der Russen das wichtigste Lebensmittel gegen Barbarei und Verrohung war (und ist). Bersarin, der Stadtkommandant, und Kulturoffiziere wie Tulpanow und Dymschitz hätten die deutschen Künstler zusammengeholt, weil sie erstens um die Bedeutung von Kunst und Kultur wussten und weil sie sich nicht in erster Linie als Besatzer, sondern als Befreier sahen. „Viele unabhängige Leute haben damals das Verständnis und das Interesse der Kulturoffiziere sehr gelobt“, so Leonhard.
Wagner und Wenzel zitierten dann aus dem Gespräch mit dem in Dresden geborenen Bildhauer Wieland Förster, das im Frühjahr 2004 geführt wurde. Förster war fünfzehnjährig von eben jener Besatzungsmacht 1946 verhaftet und für vierzig Monate ins Gefängnis gesteckt worden, weil er wegen angeblichen Waffenbesitzes denunziert worden war. Ärzte gaben dem Lungenkranken nach der Entlassung noch ein Vierteljahr – inzwischen ist Förster 103 Jahre alt. Später geriet er als Bildhauer ins Mahlwerk der DDR-Kulturpolitik und dann in die Akademie der Künste, weil deren Präsident Konrad Wolf („den ich später sehr liebgewonnen habe“) ihn „immer, bis zu seinem Tod, beschützt“ habe. Die erste Begegnung der beiden erfolgte 1973. Man habe sich „fünf wunderbare Stunden“ lang in seinem Atelier unterhalten. „Ich habe ihm aus meinem Leben erzählt, und er hat mir aus seinem Leben erzählt; er hat mir gesagt, warum er zu Stalins Tod geweint hat, und ich habe gesagt, weshalb ich nicht geweint hab, und so ging das hin und her.“
Im Februar 1999 interviewte Wagner den – 2024 verstorbenen – Philosophen Peter Ruben, den ersten und letzten frei gewählten Direktor des Zentralinstituts für Philosophie unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bekanntlich wurde die AdW zerschlagen, Horst Klinkmann, deren Präsident, in die Wüste geschickt. Der international renommierte Arzt wurde abgestraft, „weil er auf dem IX. Parteitag der SED über Politik und irgendwelche medizinischen Angelegenheiten Bemerkungen gemacht hatte, die den Parteitagsdelegierten gefielen, aber den seit 1990 existierenden Regierungsstellen und -vertretern nicht mehr“. Ruben sprach von einem „okkupierten Gebiet“, in dem man fortan gelebt habe und monierte, wenn damals und heute von Deutschland die Rede sei, wäre immer nur Westdeutschland gemeint. Natürlich sei die DDR ebenfalls deutsche Geschichte gewesen. „Die Gründergeneration der DDR, die führenden Leute, haben alle an der Novemberrevolution 1918/19 als Kommunisten oder als Sozialdemokraten oder auch als Liberale, vielleicht auch als Soldaten teilgenommen. Sie sind mit der Erfahrung konfrontiert worden, dass sie die Novemberrevolution nicht in ihrem Sinne zu Ende bringen konnten. Das ist stattdessen von rechts geschehen und hat in der Konsequenz zum Faschismus geführt, nicht zuletzt dank der sozialdemokratischen Favorisierung der Offiziersclique. Die hat Freikorps gebildet, und mit denen wurden die Soldatenräte zerschlagen, und zwar unter Führung der Sozialdemokratie. Das darf man nicht vergessen, denn das ist der Kern der Sache.“ Und Ruben weiter in seinem Exkurs: „Es ist den deutschen Kommunisten nicht gelungen, das zu machen, was die russischen Kommunisten geschafft hatten, nämlich einen Arbeiter- und Bauernstaat zu gründen. Wäre das gelungen, entsteht die Frage: Hätte dieser Staat dasselbe Schicksal gehabt wie der russische Kommunismus später mit Stalin? Ich weiß das nicht, ich halte das für eine offene Frage.“ Die Gründung der DDR war nach Rubens Überzeugung ein Reflex auf die Fehler der Vergangenheit und der Versuch, diese zu korrigieren. Auf die Gegenwart eingehend sagte Ruben auf Wagners Nachfrage: „Es gibt heute so etwas wie einen Antikommunismus ohne Kommunisten, ein kurioses Phänomen, ein Phänomen der mentalen Beklopptheit und Verrücktheit. Warum schlägt man etwas, was es gar nicht mehr gibt?“ Und er forderte Gespräche über Vergangenheit und Gegenwart ein. Ohne Gespräche keine Erkenntnis. Denn „Erkenntnis setzte eine sachliche Analyse voraus, die es aber nicht gibt“.
Wagner las, antwortete auf Wenzels Fragen und schaute zufrieden ins Publikum. Dieses blickte mit vergleichbarer Miene zurück. Was mache seine Gespräche so anders, erkundigte sich Wenzel. Natürlich bereite auch er sich auf jedes intensiv vor, antwortete PWW, aber er formuliere vorher keine Fragen. Er wisse nie, wohin der Austausch laufe, in welche Richtung das Gespräch gehe. Es sei wie beim Schachspiel. Ausgang offen. Es mache keinen Unterschied ob Sieg oder Niederlage. Beide Seiten gewinnen im Spiel. Am Brett wie auf der Bühne.
Das Publikum applaudierte und eilte zum Büchertisch. Manchmal ist es doch ganz nützlich, Gehörtes gedruckt nach Hause tragen zu können. Wenn’s denn geistreich ist.
Paul Werner Wagner (Hrsg.): Vom Morgenrot zum Abendlicht. Was zu bedenken bleibt – Dreizehn Gespräche zu Kunst und Kulturpolitik in der DDR, Verlag am Park in der edition ost, 370 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: DDR, Gespräche, Jutta Grieser, Kulturpolitik, Paul Werner Wagner