Heute geht es von Vreden nach Bocholt – 60 Kilometer. Nach einiger Zeit, während der wir unter anderem ein Gehege mit Alpakas oder Guanakos, das ist auf die Schnelle nicht auszumachen, passieren, wird der Radweg, bis dahin meist asphaltiert, zur urigen Buckelpiste in waldigem Gelände. Nicht ohne Tücken für schwergewichtige Pedelecs, zu deren ausgemachten Stärken plötzliche Ausweichmanöver, etwa wegen Baumwurzeln, nicht zählen. Es geht hinein in das wasserreiche Naturschutzgebiet Zwillbrocker Venn. Schon bald lassen sich zwei Fasanenhennen im niedrigen Gras längs des Weges von uns nicht aus der Ruhe bringen. Bekannt ist dieses Venn aber vor allem durch die nördlichste Flamingo-Population und -Brutkolonie weltweit. Die nächstgelegene findet sich in der Camargue, an der Mittelmeerküste in Südfrankreich. Theoretisch könnten Vögel von dort, die auch Streifzüge gen Norden unternehmen, zugewandert sein. Doch da im Venn nicht zuletzt Andenflamingos gesichtet worden sind, wird angenommen, dass sich der hiesige Bestand aus Exemplaren gebildet hat, die aus Zoos und Privathaltungen entwichen sind. Das Überwintern bewältigen die Tiere im Küstenbereich der nahegelegenen Niederlande. An einem der hölzernen Ausgucke wird darüber informiert, dass die Flamingos während der Aufzucht ihrer Brut auch außerhalb des Wassers nach Futter suchen, und es sei schon ein ungewöhnlicher Anblick, sie dabei auf Weiden zwischen grasenden Rindern zu beobachten. Uns zeigen sich die Tiere leider nicht.
Einem Blick in die Zwillbrocker Barockkirche hingegen stellt sich keine verschlossene Pforte in den Weg. Der Ort zählt zwar nur 230 Seelen, doch das piekfein gepflegte Gotteshaus legt sich mit überreichlich Blattgold ins Zeug. Käme morgen der Papst, man wäre gewappnet!
Die nächsten 30 Kilometer fahren wir durchs benachbarte Niederländische. Waren die Radwege schon bisher überwiegend tipptopp, so folgt jetzt die Königsklasse: vier bis fünf Meter breite asphaltiere Radautobahnen. Allerdings meist neben viel befahrenen Straßen. Das mindert das Vergnügen, so dass wir auf Nebenstrecken ausweichen.
Im Gras auf einer Weide kalbt gerade eine Kuh; der Nachwuchs ist dem mütterlichen Leib schon halb entrungen. Wenig später ein Gatter mit etwas blasiert blickenden Lamas.
Rast machen wir im mittelalterlich geprägten Örtchen Bredvoort. Erster Blickfang – eine gut erhaltene Windmühle, mitten im Ort. Auffällig in den schmalen Gassen mit ihren pittoresken Häusern: Trottoire und Fahrwege sind mit Ziegelsteinen, „gepflastert“, flache Längsseite nach oben. Zahlreiche Antiquariate mit Straßenauslagen, teils von Weinreben umrankt, teils in verglasten Bücherschränken, bevölkern den Ortskern. Anfang der 1990er Jahre fanden die Einwohner von Bredvoort Gefallen an der Idee, ihre Stadt zur Bücherstadt zu machen. Gesagt, getan. Schlendernd durch diese fast märchenhafte Kulisse entdecken wir am zentralen Platz des Ortes das Restaurant-Café Bertram. Mit höchst freundlicher Bedienung, die sich auf unseren Wunsch hin, einen Affogato zu uns nehmen zu wollen, erklären lässt, was das sei (ein leicht abgekühlter Espresso mit einer Kugel Vanilleeis), um dann genau ein solches (am Ort bis dato unbekanntes) Dessert zu servieren. Da bricht plötzlich ein Unwetter los. Alle Gäste flüchten sich von draußen ins viel zu enge Interieur. Uns weist die Bedienung mit einem Augenzwinkern den Weg ins höchst gemütliche Obergeschoss, wo wir den Platzregen ganz für uns allein „abwettern“ können.
Am Etappenziel Bocholt lohnt ein Blick auf den Markt und das historische Rathaus, einen imposanten Bau im Stile der niederländischen Renaissance. Der Grundstein wurde 1618 gelegt, im Jahr als der 30-jährige Krieg ausbrach. Trotzdem konnte das Gebäude 1624 mit dem Einsetzen der Fenster fertiggestellt werden. Die auch immer wieder kriegerischen Unbilden der folgenden Jahrhunderte überstand das Schmuckstück – bis zu einem Luftangriff 1945. Der originalgetreue Wiederaufbau wurde 1955 abgeschlossen. Warum die Stadt sich später an anderer Stelle ein neues Rathaus baute, dessen hässlich-modernistische Architektur an ein gestrandetes UFO erinnert und das derzeit für eine Irrsinnssumme – unsere Hotelwirtin spricht von 100 Millionen Euro, weswegen die Einwohner der Stadt die Nase gestrichen voll hätten – saniert werden muss, wollen wir gar nicht wissen …
Am nächsten Morgen führt der Radweg zunächst an der Bocholter Aa entlang – nicht zu verwechseln mit jener Aa, der wir in Münster begegnet sind (Blättchen 20/2024). Nächstes Ziel ist Coesfeld in knapp 60 Kilometern Entfernung.
Bereits beim Start nieselt es, und kurz darauf setzt ein, was der auf dem Smartphone allzeit abrufbare Wetterbericht so nicht angedroht hat – ein zwar nur mittlerer, doch anhaltender Landregen.
In den Vorjahren waren wir bei unseren Radtouren von himmlischem Nass völlig unbehelligt geblieben, und haben darauf auch diesmal quasi blind vertraut. (Natürlich unsinnigerweise, wofür jeder Wetterstatistiker wohl nur sein kleines Einmaleins bemühen müsste.) Entsprechend suboptimal sind wir ausgerüstet (zwar mit Wetterjacken, aber ohne entsprechende Hosen sowie ohne Schutz für die Schuhe) und folglich nach nur 20 Kilometern bei unserem ersten Halt in Borken klatschnass und – trotz spätsommerlicher 18 Grad – einigermaßen durchgefroren. Unter der Markise vor dem Restaurant Hoi An am Markt nehmen wir angemessen deprimiert Platz, denn triefend wie wir sind, trauen wir uns nicht hinein. Doch da haben wir die Rechnung ohne die Wirtin gemacht, die uns nicht nur sehr freundlich zum Eintreten einlädt, sondern uns auch gleich erst einmal zwei wärmende Decken bringt. Etwas Wechselwäsche haben wir gottseidank dabei, und wunderbar heißer Ingwertee sowie köstliche Bols voller knackig frischem Salat, mit Avocadostreifen und gebratenem Hühnerfleisch sowie einer Kelle Reis, heitern die Stimmung rasch wieder auf. Als dann auch noch das Wetter aufklart, beschließen wir, nicht auf kürzestem Wege das nächste Hotel aufzusuchen, sondern die Tagestour planmäßig fortzusetzen.
Noch in Borken streifen wir dabei die Wasserburg Gemen. Vor mehr als 900 Jahren erbaut, glänzt das Gemäuer, nachdem sich die Regenfront verzogen hat, hell in der Sonne. Seit 1946 wird die Burg vom Bistum Münster als Jugendbegegnungsstätte genutzt. Katholisch beaufsichtigt scheint dies aber kaum mit juvenilem Trubel einherzugehen, denn Enten und Blessrallen, die auf den Rasenflächen um den Burggraben ruhen, zeigen keinerlei Fluchtreflexe, selbst wenn unsere Pedelecs sich bis auf wenige Zentimeter nähern.
Weiter geht es nach Ramsdorf. Ein Feldhase unweit des Wegesrandes zeigt sich von uns ebenso unbeeindruckt wie einige Kilometer weiter ein Fasanenhahn. Die ewige Maiskulisse beiderseits des Radweges wird zumindest mal durch zwei ordentliche Schläge Cannabis optisch aufgemischt; die Pflanzen stehen „gut im Futter“.
In Ramsdorf erwartet uns eine Inkarnation ökologischen Größenwahns. Dort wird die bereits erwähnte Bocholter Aa, ein Flüsschen von wenig mehr als Bachbreite und lediglich 51 Kilometern Länge, durch ein 2,90 Meter hohes Wehr daran gehindert, sich in ein stehendes Gewässer zu verwandeln. Für Fische allerdings ein unüberwindliches Hindernis. Deshalb wurde in Ramsdorf für mehrere Millionen Euro eine – gemessen an den Dimensionen des Gewässers gigantische – dreigeteilte Fischtreppe errichtet. Solches tut man gemeinhin, um es an derart unterbrochenen Wasserläufen Wanderfischen wie dem Lachs zu ermöglichen, ihre Laichplätze an den Oberläufen zu erreichen. Da Lachse in der Bocholter Aa jedoch nie ein Thema waren, ist die hiesige Fischtreppe lediglich eine Offerte an einheimische Nichtwanderfische wie Rotfeder, Plötz, Schleich oder Hecht. Und damit man denen beim Treppauf- und -absteigen zuschauen kann, ist am unteren Scheitelpunkt der Anlage eine große Panzerglasscheibe angebracht. – Die meisten dieser Informationen haben wir von einer einheimischen Walkerin, mit der wir an der Fischtreppe ins Gespräch kommen. „Das Wasser kann man durch die Scheibe gut gurgeln sehen“, sagt sie zum Abschied, „Fische hingegen nie.“
Wird fortgesetzt.
Teil I bis III dieser Reisenotizen sind im Blättchen 20/2024, 21/2024 und 22/2024 erschienen.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Bocholt, Borken, Bredvoort, Fischtreppe, Flamingo, Münsterland, Ramsdorf, Zwillbrocker Venn