27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Münsterlandpartie*

von Alfons Markuske

Die Auftaktetappe unserer Radrundfahrt führt von Münster nach Schöppingen. 53 Kilometer hat unser Streckenplan vorgegeben, doch trotz einiger Falschabbiegungen und Irrabschnitte durch für Pedelecs eher ungeeignetes Gelände sind es schließlich noch ein paar weniger. Unser spontaner Eindruck, der sich bis zum Ende der Rundfahrt verfestigt haben wird: Das Münsterland ist voller und sich ständig kreuzender Radwege, die zwar alle nicht nach Rom, doch irgendwie immer zum jeweiligen Tagesziel führen.

Erster Halt, bereits nach wenigen Kilometern, ist Burg Hülshoff – eine typische, das heißt aus Backsteinen errichtete westfälische Wasserburg. Als sogenannter Oberhof „Zum Hülshof“ bereits 1000 und Äppelstückchen, also im frühen elften Jahrhundert, erstmals urkundlich erwähnt. Die heute zu besichtigende Renaissance-Anlage wurde auf einer von einem Teich umschlossenen Doppelinsel – mit dem Festland sowie untereinander durch steinerne Brücken verbunden – von 1540 bis 1545 errichtet. Ein auch wegen des umgebenden großen und exzellent gepflegten Parkes samt Wildgatter höchst romantisches Areal. Der Öffentlichkeit an Öffnungstagen kostenfrei zugänglich, offiziell ab 11:00 Uhr. Frühstarter wie wir, die eine Stunde zu früh eintreffen, finden im Umfeld zwar keine Sitzgelegenheit vor, doch an Stehplätzen herrscht keinerlei Mangel. Im Übrigen öffnet sich die Pforte bereits um 10:30 Uhr. Nur wenige Fußminuten später stehen wir vor der von einer prächtigen Rabatte eingefriedeten bronzenen Porträtbüste der berühmtesten Tochter dieser Burg – Annette von Droste-Hülshoff, deren Vorfahren den Rittersitz schon 1417 erworben hatten. Sie selbst wurde eine der maßgeblichsten Dichterrinnen und Komponistinnen des Biedermeier. Geboren im Jahre 1797 entwickelte Annette dank Anlagen und gediegener Bildung im Elternhaus Tiefgang bereits als Teenager. Ein bereits in diesem Lebensalter verfasstes Gedicht war „Der Philosoph“ betitelt. Ihr bekanntestes wurde später die Ballade „Der Knabe im Moor“, die mit folgenden Worten anhebt: „O schaurig ist’s übers Moor zu gehn, / Wenn es wimmelt vom Heiderauche, / Sich wie Phantome die Dünste drehn / Und die Ranke häkelt am Strauche, / Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, / Wenn aus der Spalte es zischt und singt! – / O schaurig ist’s übers Moor zu gehn, / Wenn das Röhricht knistert im Hauche!“

Annette von Droste-Hülshoffs dichterische Nachwirkungen lassen sich nicht zuletzt daran ablesen, dass über 100 Jahre nach ihrem Tod (1848) Sarah Kirsch eines ihrer Gedichte „Der Droste würde ich gern das Wasser reichen“ nannte.

Auf unserer Strecke folgt die Ortschaft Havixbeck mit gleich einem weiteren imposanten Wasserschloss. Gebäude und Park wirken gepflegt, sind allerdings hoch umzäunt und für die Öffentlichkeit unzugänglich. Familie Twickel, ältester westfälischer Adel – ein Siegfried von Twickel tauchte bereits 874 auf, ein Johann von Twickel war Fähnrich in den Truppen des Bischofs Franz von Waldeck und 1535 beteiligt an der Erstürmung Münsters sowie der Zerschlagung der dortigen Wiedertäuferfronde (siehe Blättchen 20/2024) –  und im Besitz des Anwesens seit 1601, lässt auf einem Schilde zumindest wissen: „[…] aufbewahrt und bewohnt.“

Unsere Route nimmt nun Kurs auf Billerbeck. Unterwegs ein kurzer Schlenker zum Longinusturm, benannt nach dem Nickname von Friedrich Westhoff, eines regionalen Biologen, Heimatkundlers und Schriftstellers aus dem späten 19. Jahrhundert, der sich das Pseudonym Doktor Longinus – in Anspielung auf sein lichtes Maß von 1,92 Meter – gab. Der Turm wurde zwecks „Schau ins Land!“ auf einer Anhöhe mit der anmaßenden Bezeichnung Westerberg erichtet, die mit ihren 187 Metern aber zumindest alle übrigen des Münsterlandes überragt. – Das Café am Fuße des Turmes verfügt über einen schönen Biergarten, doch vom Verzehr der von der Küche offerierten Flammkuchen muss zu 50 Prozent abgeraten werden: einer von zwei bestellten war von unten verbrannt und oben mit ungenießbar versalzenem Schinken bedeckt.

Bei der Einfahrt nach Billerbeck sticht der sehr hohe und spitze Helm eines Kirchturms ins Auge, der sich über die Häuser des Ortes erhebt und an dessen Außenseite knapp unterhalb der Spitze sowie unter einem Baldachin eine metallene Glocke angebracht ist. Unsere Neugier ist geweckt und kurz darauf halten wir vor der Pfarrkirche Sankt Johannis. Barrierefreien Zugang gewährt ein elektromechanischer Portalöffner. Einem Flyer entnehmen wir, dass die „Bauperiode I“ der Kirche bereits auf das achte Jahrhundert datiert. Was es mit der Glocke außen am Turmhelm für eine Bewandnis hat, erfahren wir leider nicht, aber immerhin, dass derselbe wahrscheinlich auf die Zeit des Fürstbischofs Bernhard von Galen (um 1650) zurückgeht und dass der Turm die beachtliche Höhe von 78 Metern aufweist. Informiert wird überdies: Die Kirche gehöre zu den letzten wenigen in Deutschland, deren Glocken alle noch von Hand gezogen würden; für das sogenannte Taktgeläut bedürfe es sechs eingearbeiteter Frauen und Männer. – Quasi eingerahmt wird Sankt Johannis von einem Ensemble bestens erhaltener historischer Fachwerkhäuser. Ein Café gibt es ebenfalls. Ein Plätzchen zum Verweilen.

Ein solches wäre zweifelsohne das Wasserschloss in Darfeld beim Örtchen Rosendahl nicht minder, von dem gesagt wird, es sei das schönste des gesamten Münsterlandes. Doch Familie Droste zu Vischering, im Besitz desselben seit 1680, lässt schnöde touristische Besucher nicht zu. – Anfang des 17. Jahrhunderts nach dem Ideal der venezianischen Renaissance erbaut, wurde das Schloss 1899 durch einen Großbrand weitgehend zerstört. Der Wiederaufbau erfolgte bis 1904 im Stile der Neorenaissance und würde heute wahrscheinlich unter gefaked laufen, hat gleichwohl in dieser Landschaft trotzdem seinen Reiz. – Auf den umliegenden kurz gehaltenen Rasenflächen wird auf Schildern darum gebeten, diese nicht zu betreten. Die hiesigen Maulwürfe allerdings können, wie ihre frisch aufgeworfenen Hügel ahnen lassen, offenkundig nicht lesen …

Und weiter nach Eggerode. Kurz vor dem Ort erheben sich hinter den Maisschlägen entlang der Straße hohe, flachdächige Gewächshäuser. Sie erinnern uns an ähnliche am Stadtrand von Buchara, wo Bananen für den einheimischen Bedarf angebaut werden (siehe Blättchen 14/2024). Bananen im Münsterland? Neugieriger Abstecher, um der Sache auf den Grund zu gehen. Im hiesigen Falle, so ergibt sich, ranken sich Tomaten- und Auberginenpflanzen bis in eine Höhe von etwa drei Meter fünfzig.

Eggerode, 1151 erstmals erwähnt und heute der Gemeinde Schöppingen zugehörig, ist mindestens seit 1338 Marienwallfahrtsort. So belegt eine päpstliche Bulle. Eine kleine Kapelle neben der Pfarrkirche Sankt Mariä Geburt beherbergt ein sogenanntes Gnadenbildnis der Gottesmutter mit Kind, beide mit goldenen Kronen geschmückt. Die mittelalterliche Figur byzantinischer Machart soll aus dem zwölften Jahrhundert stammen und vor 1230 von Kreuzfahrern aus der hiesigen Gegend aus Konstantinopel „mitgebracht“ worden sein. Das ist durchaus möglich, allerdings brachte man seinerzeit aus Konstantinopel vornehmlich mit, was man zuvor dort geraubt hatte: Im April 1204, während des vierten Kreuzzuges, war das (damals noch) christliche Konstantinopel von (nie besonders) christlichen Kreuzfahrern aus West- und Südeuropa erobert, geplündert und teilweise zerstört worden. Das wissen von den jährlich bis zu 70.000 Pilgern, die jeweils am 8. September zum Gnadenbild wallfahren, vermutlich die wenigsten. Das Bildnis selbst wirkt so frisch, als habe es die Werkstatt seines Schöpfers gerade erst verlassen. Es ruht hermetisch verschlossen hinter Glas, wie uns eine in der Kapelle Diensttuende informiert, auf dass kein Körnchen Staub … Von Ruß, mit dem abbrennender Weihrauch Kirchen zu schwärzen pflegt, ganz zu schweigen. Auch Kerzen werden im Domizil der Madonna nicht entzündet, Dafür hat die Kapelle ein separates Nebengelass.

Am Ende der Tagesetappe nehmen wir Quartier in Schöppingen. Unser Hotel liegt genau vis-à-vis dem Alten Rathaus des Ortes, ein Bau vom Ende des 16. Jahrhunderts, mit dem die Nachgeborenen nicht immer pfleglich umgingen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Rathausturm abgerissen, um Baumaterial zu gewinnen. Der Rest sollte folgen, was 1818 zu Protesten der Bürgerschaft führte, die sich anschließend an den Kosten für die Restaurierung beteiligte. Anfänge erfolgreicher Zivilgesellschaft? Heute jedenfalls wird das schmucke Kleinod gesellschaftlich genutzt.

 

Wird fortgesetzt.

* – Teil I dieser Reisenotizen ist im Blättchen 20/2024 erschienen.