27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Münsterlandpartie*

von Alfons Markuske

Am nächsten Tag steht die Strecke von Schöppingen nach Vreden auf dem Tourplan – knapp 40 Kilometer. Diese Petitesse gehen wir umso entspannter an, weil wir nicht ahnen, welcher Horror am Nachmittag unserer harren wird.

Das Münsterland ist eine seit Jahrhunderten von Ackerbau und Viehzucht geprägte Kulturlandschaft. Wir haben für unsere Erkundungen eine Jahreszeit gewählt, wo man das nicht nur sieht – allenthalben wird Gülle auf abgeerntetem Boden ausgebracht. Da nützt selbst „durch den Mund atmen“ herzlich wenig: Was man nun nicht mehr riecht, legt sich einem flugs und pelzig auf die Zunge …

In den von uns durchradelten Gegenden scheint weitgehend Monokultur vorzuherrschen – schier endlose Maisfelder säumen die Straßen und Radwege. Nur selten mal ein Schlag Zuckerrüben, Kartoffeln oder sogar Schilf. Abgeerntete Flächen, die bereits gepflügt sind, präsentieren sich in langen Reihen wuchtiger Schollen fetter Erde. Wo auch die Egge schon drüber ist, zeigt sich die Krume dann wieder filigraner. Große Einzelgehöfte verlieren sich in der Weite der Acker- und Wieseflächen. Bisweilen treffen wir auf kleine Rinderherden, weidend in eingezäunten Arealen oder auch in Offenställen untergebracht. Pferdekoppeln hingegen sehen wir so häufig, dass man vermuten könnte, hier hält sich jeder ein Tier. Das Schandmaul fragt: Vielleicht auch für den Export nach Belgien? Neben einem Gehöft – ein Gatter mit Damwild.

Dass die Gegend in Sachen demonstrativer Katholizismus den Vergleich mit Bayern nicht scheuen muss, offenbaren zahllose steinerne Gekreuzigte (gern mit Sinnsprüchen versehen wie „Im Kreuz ist Heil“) und andere Heilige, Pieten, Mutter-Gottes-Statuen, selbst kleine Kapellen – am Wegesrand, an Straßenkreuzungen, vor einzelnen Grundstücken mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Skulpturiert wird im Münsterland vornehmlich aus dem hier verbreiteten Sandstein. An manchen älteren Figurinen hat daher bereits der Zahn der Zeit mit Hilfe von Wind und Wetter seine mehr oder weniger heftigen Spuren hinterlassen.

Erster Halt heute ist Asbek. Das Dorf besteht seit immerhin 900 Jahren. Im 12. Jahrhundert ließ Bischof Hermann von Katzenellenbogen hier ein bedeutendes Doppelkloster errichten – für Mönche und Nonnen, deren Bereiche natürlich physisch voneinander getrennt waren. Doch selbst diese Form von Koexistenz währte nicht lange, dann war das gesamte Kloster fest in weiblicher Hand. Im 16. Jahrhundert kam ein adeliges Damenstift hinzu, wobei großer Wert auf exquisite Herkunft der Bewerberinnen gelegt wurde: mindestens 16 adelige Vorfahren mussten nachgewiesen werden. Die Stiftsdamen durften ihren eigenen Haushalt mit Zofen und Mägden führen. Im Übrigen lebte man zwar nach klösterlichen Regeln, legte aber kein Gelübde ab und konnte daher die Gemeinschaft jederzeit auch wieder verlassen. Zur berühmtesten Bewohnerin avancierte Therese von Zandt, der nachgesagt wird, während eines Wienaufenthalts ab Ende 1803 Beethoven nicht nur den Fidelio-Stoff ans Herz gelegt, sondern dieses auch erobert zu haben und für sieben volle Monate die Geliebte des Genies gewesen zu sein. Für Ludwig van, den in dieser Hinsicht Zeit Lebens immer nur kurz Vergebenen, ein Allzeit-Rekord.

Nach der Säkularisierung verfielen die Asbeker Klosteranlagen. Erhalten hat sich die sogenannte Hunnenpforte, eines der beiden Torhäuser zum ehemals ummauerten Klosterkomplex, dessen Name allerdings nicht anzeigt, dass Attila und seine Horden es auch bis in diese Gegend geschafft hätten. Vielmehr geht die Bezeichnung auf einen einst nahegelegenen Hundezwinger zurück. Heute beherbergt die Pforte ein kleines Von-Zandt-Museum, das sich am Montag unseres Besuches aber präsentiert, wie die meisten Museen in hierzulande – geschlossen.

Auch vor dem Kreuzgang des Klosters, dem einzigen zweigeschossigen in Norddeutschland, machte der Verfall nicht halt. Den Abriss konnte schließlich selbst eine Intervention des damals zuständigen preußischen Oberbaudirektors namens Karl Friedrich Schinkel nicht verhindern. Nur die zweigeschossige Säulengalerie wurde nicht zerstört, sondern in das 1864 fertiggestellte Diözesanmuseum am Domplatz in Münster integriert. Doch auch dieses wurde 1966 schon wieder abgetragen. Eine Initiative der Asbeker Bevölkerung sorgte dafür, dass die Säulengalerie eingelagert wurde. Dieses Intermezzo dauerte über 40 Jahre. Heute kann die Galerie wieder bewundert werden – als quasi Vorsatzfassade vor einem Profangebäude auf dem ehemaligen Klostergelände.

Anschließend führt unsere Tour zu einem weiteren Wasserschloss – in Ahaus. Das dortige, erneut aus landschaftstypischem Backstein errichtet, entstammt dem Barock. Diese imposante ehemalige Residenz der Fürstbischöfe von Münster liegt mitten in der Stadt. Die zuvor an gleicher Stelle errichtete Burg aus dem elften Jahrhundert wurde 1688 abgerissen und – heute unvorstellbar – schon zwei Jahre später war das Schloss fertiggestellt. Für die damals aberwitzige Summe von 100.000 Talern. Doch die Zeiten wandeln sich. Seit 1819 beherbergte das Schloss, obzwar noch in fürstlicher Hand, in seinem Nordflügel eine schnöde Tabakfabrik. 1829 geriet es durch Verkauf ganz in bürgerliche Hände. Die neuen Eigentümer hießen Oldenkott, eine aus den Niederlanden stammende Unternehmerdynastie, die in Ahaus einen Produktionsstandort für Tabak einrichtete, um den deutschen Einfuhrzoll zu umgehen, und sie nahm im Schloss schließlich auch ihren standesgemäßen Wohnsitz. Bis 1945 die vollständige Zerstörung durch Kriegseinwirkungen folgte. Anschließend erwarb der Kreis Ahaus den Gebäudekomplex und der westdeutsche Steuerzahler finanzierte den Wiederaufbau. Heute ist das Schloss Sitz der Technischen Akademie Ahaus. – Am umgebenden Wassergraben haben ein Paar schwarze Schwäne und weiteres Wassergeflügel ihr zeitweises oder dauerhaftes Domizil.

Schreck am Nachmittag bringt die Einfahrt nach Vreden. Es herrscht – Montag hin, Montag her – Kirmes, wie wir zuvor noch keine je erlebt haben. Die gesamte Innenstadt ist voller Ausschank-, Imbiss-, Souvenir- und sonstiger Buden. Dazwischen zahlreiche Schausteller und Fahrgeschäfte. Und den verbleibenden Platz füllen zigtausende von Besuchern. Da geht kein Appel zu Boden, die Lärmkulisse ist ohrenbetäubend und unser Navi behauptet steif und stur, wir müssten mitten hindurch, um unser Übernachtungshotel zu erreichen. Also schieben wir unsere sperrigen E-Bikes los und haben Glück im Unglück – jetzt, gegen 16:30 Uhr, ist noch niemand sturzbetrunken, so dass Beiseiterücken nicht mehr infrage käme.

Auch vom Balkon unseres eher stadtrandnahen Hotelzimmers sind die Rummelmusik und kollektive Gesänge noch gut zu hören. Unsere Hoffnung, ein einsetzendes heftiges Gewitter samt ordentlichem Platzregen würde schon für ungestörte Nachtruhe sorgen, ist eine trügerische. Erst gegen halb drei in der Nacht kehrt Ruhe ein.

Am nächsten Morgen zeigt sich Vreden als schmuckes, wenn auch gerade reichlich zugemülltes Städtchen. Großreinemachen überall und daher durchgängig kein normaler Geschäftsbetrieb. Leider hat auch das Scherenschnittmuseum, auf das wir neugierig sind, einen zusätzlichen Schließtag eingelegt. Zugänglich ist jedoch das unmittelbar im Zentrum gelegene Freiluftmuseum, das eine Reihe liebevoll restaurierter westfälischer Bauernhäuser umfasst. Auch die Kirchen von Vreden gewähren Einlass. So Santa Felicitas, die Stiftskirche der Schutzheiligen Vredens, einer christlichen römischen Patrizierin, die im Jahre 162 samt ihren sieben Söhnen in der Ewigen Stadt hingerichtet wurde. Ihre Reliquien wurden 839 nach Vreden überführt. Ein entsprechender Bericht ist die erste urkundliche Erwähnung der Stadt. Eine lebensgroße Bronzeskulptur vor der Kirche zeigt die Heilige samt ihrer, in dieser modernen Darstellung noch recht juvenilen Kinder, und eine Tafel informiert in allen Religionen und Weltanschauungen eigenen pathetischen Gedenkduktus: „HL. FELICITAS, PATRONIN DER STIFTSKIRCHE, STARB MIT IHREN 7 SÖHNEN 162 N. CHR. EINEN RUHMVOLLEN MÄRTYRERTOD.“ Was ab dem vierten Jahrhundert folgte, war die katholische Amtskirche, die solche Opfertode zwar von Anbeginn an weidlich instrumentalisierte, aber zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte wirklich wert war. Wer das bezweifelt, der blättere einfach mal in Karlheinz Deschners zehnbändiger „Kriminalgeschichte des Christentums“.

Wird fortgesetzt.

* – Teil I und II dieser Reisenotizen sind im Blättchen 20/2024 und 21/2024 erschienen.