27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Wettbewerbsfähigkeit – Whatever it takes

von Jürgen Leibiger

Kann sich noch jemand an die Lissabon-Strategie der Europäischen Union erinnern? Im Jahr 2000 beschlossen die Staats- und Regierungschefs in der portugiesischen Hauptstadt ein Programm, um die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten“ Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Man wollte den Rückstand gegenüber den USA und Japan in der Produktivität und Innovationsdynamik bis 2010 überwinden. Das Ergebnis war so niederschmetternd, dass im Nachfolgeprogramm „Europa 2020 – eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ auf Superlative wie „wettbewerbsfähigste“ oder „innovativste“ Region verzichtet wurde. Die Zielindikatoren betrafen die Steigerung von Forschung und Entwicklung, Beschäftigung und Erwerbsbeteiligung, die Reduzierung der Armut sowie Klimaziele. Der letzte verfügbare Ergebnisbericht von 2019 wies zwar Fortschritte auf einigen dieser Gebiete aus, vom Erreichen der Ziele konnte jedoch auch hier keine Rede sein.

Ein viertel Jahrhundert nach Lissabon legt Mario Draghi, vormals Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und danach für ein Jahr Italiens Ministerpräsident, einen Bericht über die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union vor. Als wichtigster weltwirtschaftlicher Wettbewerber gilt neben den USA nicht mehr Japan, sondern – wen wundert es – China. Die beiden Vergleichsländer wuchsen laut Draghi in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich schneller als die Gruppe der 27 EU-Länder (EU-27). Der Abstand des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in konstanten Preisen zu den USA stieg von 17 auf 30 Prozent. Werden Kaufkraftparitäten zugrunde gelegt, nahm der Abstand von 4 auf 17 Prozent zu. Bei letzterem Wert hat sich China längst an die Spitze gesetzt. Dieses Land liegt im Niveau der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität zwar noch weit zurück, weist aber auch hier eine außergewöhnliche Steigerung auf. Bis etwa 2000 hatte die EU-27 einen Aufholprozess in der Arbeitsproduktivität auf über 90 Prozent im Vergleich zu den USA hingelegt, seitdem aber zehn Prozentpunkte verloren.

Trotz des hohen Niveaus der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) und einer Reihe von Spitzenleistungen liegt der Durchschnitt der EU-27 sowohl in der FuE-Intensität (FuE-Ausgaben in Relation zum BIP) wie dem Wachstum dieser Ausgaben, mehr aber noch in der Innovationsdynamik, der kommerziellen Umsetzung von FuE-Ergebnissen, hinter den Wettbewerbern zurück. Im Bereich der modernsten Hochtechnologie von Information und Kommunikation sind die beiden Vergleichsländer weit vor den Europäern platziert. Bei der Investitionsquote sowohl bei privaten als auch bei öffentlichen Investitionen hinkt Europa – besonders auch Deutschland – seit Jahren hinterher. Die Draghi-Studie räumt auch mit dem weit verbreiteten Irrglauben auf, die öffentlichen Investitionen hätte in den USA eine geringere Bedeutung als in Europa.

Obwohl Draghi die großen wirtschaftlichen und innovativen Potenziale der EU-27 heraushebt, fällt sein Fazit hinsichtlich des Stands bei Produktivität, Innovation und wirtschaftlicher Dynamik im Großen und Ganzen deprimierend aus. Die Herausforderungen, vor denen die Gemeinschaft stehe, seien existenzieller Natur und ohne eine wirtschaftspolitische Wende vor allem bei den Investitionen drohe ein „langsamer Todeskampf“. Kern der von ihm vorgeschlagenen Strategie einer radikalen Wende ist die Verstärkung gemeinsamer, koordinierter und abgestimmter Anstrengungen der EU-27 in drei Richtungen: Am wichtigsten seien die kollektiven Bemühungen, die Innovationslücke zu den USA und China zu schließen. Europa stecke in einer statischen Industriestruktur fest und entwickle zu wenig neue Wachstumsmaschinen und internationale Champions. Das zweite Aktionsgebiet sieht Draghi in der Schaffung eines gemeinsamen Plans für die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Würden die Anstrengungen auf diesem Gebiet nicht koordiniert, bestünde die Gefahr einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums. Und schließlich ginge es drittens um die Schaffung von mehr Sicherheit und mehr Unabhängigkeit vor allem bei kritischen Rohstoffen und digitalen Technologien. Die europäische Verteidigungsindustrie müsse ihre Zersplitterung überwinden.

Draghi schlägt nicht nur eine Stärkung der EU schlechthin vor, sondern plädiert für eine neu ausgerichtete, gemeinsame Industrie- und Innovationspolitik mit einer gewaltigen Investitionsoffensive zur Steigerung der Mittel für Forschung, Entwicklung und Innovation. Der Investitionsanteil am EU-27-BIP müsse von 22 auf etwa 27 Prozent um fast 800 Milliarden Euro erhöht werden. Das beträfe private und staatliche Investitionen sowie europäische Fonds. Zu diesem Zweck sei die Aufnahme von Gemeinschaftsschulden ein gangbarer Weg.

Natürlich sind viele der von Draghi und seinem Team ausgebreiteten Fakten auch in ihrer Detailliertheit neu und informativ. Auch sein Focus auf gemeinsame Anstrengungen und eine Investitionsoffensive weist manch neuartige Nuancen bezüglich einer europäischen Wirtschaftspolitik auf. Aber insgesamt mutet es doch irgendwie altvertraut an und ähnelt den Appellen und Wunschkonzerten von Lissabon und Europa 2020. In Wirklichkeit geht die Tendenz der EU-27 aber heute kaum in Richtung einer koordinierten Industrie-, Innovations-, Klima- und Investitionspolitik. In vielen Mitgliedsländern wurden nationalistische und europaskeptische Kräfte stärker und haben teilweise Regierungsverantwortung. Eine stärkere Integration und koordinierte Wirtschaftspolitik ist unter diesen Umständen kaum zu erwarten und eine kreditfinanzierte Investitionsoffensive stößt vor allem im „Musterschüler“ Deutschland auf politische Ablehnung. „Mehr Wettbewerb statt mehr Brüssel“ oder „Technologieoffenheit statt staatliche Industriepolitik“ lauten die Devisen oft. Es wäre nicht verwunderlich, würde auch die neue Initiative unter die Räder der EU-Maschinerie und nationaler Interessen geraten und letztlich versanden.

Als die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2023 die Draghi-Studie ankündigte, sprach sie davon, Europa werde seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, „whatever it takes“. Das war natürlich als Reminiszenz an das legendäre Draghi-Wort in seiner Zeit als EZB-Präsident gedacht, aber es offenbart doch auch eine gewisse Ausrichtung der aktuellen Wirtschaftspolitik. Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, „egal was es kostet“? Die Studie erwähnt zwar die Notwendigkeit, die für Europa angeblich typische soziale Inklusion zu erhalten, bezieht das aber vorwiegend auf eine breite Bildungsbeteiligung. Andere soziale Fragen und Divergenzen spielen keinerlei Rolle.

Der Begriff der „Wettbewerbsfähigkeit“ bezieht sich zwar auf Europa als Ganzes, aber konkret geht es fast ausschließlich um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Die zwei Bände der Studie bedienen in dieser Hinsicht alle üblichen Erwartungen und Interessen der Privatwirtschaft und ihrer Verbände. Diese waren in hohem Maße in die Vorbereitung des Papiers einbezogen; Sozialverbände, Gewerkschaften oder Vertreter der Zivilgesellschaft hatten kaum eine Stimme. In einer Einschätzung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz ist zu lesen, Draghis Ansatz spiegele sich bereits in vielen konkreten Maßnahmen der Bundesregierung wider. Was dies bedeutet, lässt sich anhand der „Zeitenwende-Politik“ beobachten. Es wird zwar der höchste Sozialhaushalt aller Zeiten gefeiert, aber gleichzeitig geraten immer mehr Kommunalhaushalte aufgrund fehlender Mittel in finanzielle Schieflagen, worunter Infrastruktur, Soziales, Bildung, Gesundheit, Pflege und Kultur zu leiden haben.

Draghis Forderungen nach zusätzlichen 800 Milliarden Euro zugunsten der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist ganz bestimmt keine Agenda zugunsten des Sozialstandorts. Was Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit „whatever it takes“ konkret bedeutet, lässt sich auch beim VW-Konzern beobachten: Schließung von Standorten, Beschäftigungsabbau, Forderungen nach höheren Arbeitszeiten, Aufkündigung von Sozialabkommen. Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis heißt: Auf Kosten der Belegschaften und der breiten Bevölkerung. Das Zurückbleiben Europas in der Wettbewerbsfähigkeit hat übrigens für die oberen 10 Prozent der Europäer keine große Auswirkung gehabt. Ihr Vermögen hat sich laut Europäischer Zentralbank in den vergangenen zehn Jahren von 5 auf 10 Billionen Euro verdoppelt.