27. Jahrgang | Nummer 18 | 26. August 2024

Außenpolitische Wahrnehmungen

von Erhard Crome

Die westliche Obsession, die Welt zerfalle wieder in zwei feindliche Lager – auf der einen Seite „Demokratien“ des Westens, auf der anderen „Autokratien“, vor allem China, Russland, Iran – begrenzt die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands, der EU und der USA immer stärker. Die von der derzeitigen Bundesregierung verkündete „wertegeleitete“ Außenpolitik wird in der weiten Welt zunehmend als Mischung aus Doppelzüngigkeit, Heuchelei und Anmaßung wahrgenommen; international gewichtige Staaten vermeiden es, mit der deutschen Außenministerin überhaupt zu reden.

Früher war es umgekehrt: Große Mächte im Niedergang brauchen geschickte, kenntnisreiche Außenpolitiker, um die Nöte des Unausweichlichen möglichst lange hinauszuzögern. Das Osmanische Reich schaffte das zweieinhalb Jahrhunderte lang. Der Niedergang des Westens wird schneller gehen. Gleichwohl gibt es lesenswerte Versuche, dem gegenzusteuern und das Perzeptionsproblem zu thematisieren. Der Titel des Buches von Johannes Plagemann und Henrik Maihack bringt es auf den Punkt: Hauptproblem ist „die Ignoranz des Westens“. Plagemann ist Politikwissenschaftler am GIGA-Institut für Asienstudien in Hamburg und hatte zuvor eine Vertretungsprofessur für China/Ostasien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Maihack hat ebenfalls promoviert und leitet seit 2021 das Afrika-Referat der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES); vorher war er zehn Jahre lang für die FES im Globalen Süden tätig, so in Indien, Bangladesch und Kenia.

Seit dem Ukraine-Krieg Russlands wird unter der Losung „Zeitenwende“ in Deutschland verstärkt über Außenpolitik diskutiert. Für die Staaten des Globalen Südens ist dies keine Zeitenwende; sie erfahren die globalen Krisen schon seit Langem konkret und generationenübergreifend. Die Ukraine ist nicht der einzige Fall von Krieg und Vertreibung. Äthiopien und Eritrea hatten „im Zuge der Kämpfe im äthiopischen Bundesstaat Tigray mehr Soldaten mobilisiert als die Ukraine und Russland“. Der mörderische Krieg im Sudan – der in dem hier in Rede stehenden Buch nur im Nachwort und in seinen Anfängen im April 2023 erwähnt wird – tobt inzwischen über ein Jahr und hat noch größere Opfer gefordert: Das Land ist verwüstet, ungezählte Menschen wurden getötet, verwundet oder vergewaltigt; acht Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen, 1,8 Millionen von ihnen suchten in unsicheren Nachbarländern Zuflucht, 18 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht.

Perspektive des Südens ist: „Warum werden afrikanische oder asiatische Flüchtlinge an den Grenzen der EU abgewiesen oder ertrinken im Mittelmeer, während ukrainische Flüchtlinge aufgenommen werden? Diese als rassistisch wahrgenommene Abweisung dominierte zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine die Nachrichten in vielen Ländern des Globalen Südens. Und all das sind Fragen, die wir uns im Westen selbst stellen müssten“, betonen die Autoren. Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Ländern, die sich „entweder neutral oder Russland-freundlich zum Krieg in der Ukraine geäußert haben“. Nur die Hälfte der G20-Staaten beteiligt sich an den westlichen Sanktionen, auch in Asien jenseits von Südkorea, Japan und Singapur sowie Australien und Neuseeland niemand.

Aus Sicht des Südens sind die „Ursünden“ des Westens nicht Faschismus und Militarismus, „sondern der Sklavenhandel und der westliche Imperialismus als Ganzes“. Insofern ist „der Westen“ die Gruppe industrialisierter Staaten, die ihren Reichtum „maßgeblich durch Sklavenhandel, Kolonialismus, Imperialismus und die Ausbeutung fossiler Rohstoffe vorfinanziert haben“. „Eine vom Westen dominierte Welt wird nicht als Verheißung, sondern als tendenziell ungerecht angesehen.“ Der Begriff des Globalen Südens als Gegenstück zum Westen stellt eine bewusste Abkehr von den Bezeichnungen „Dritte Welt“ oder „Entwicklungsländer“ dar. Die Staaten des Globalen Südens sind diverser als der Westen. Sie sind „blockfrei“, nicht in einem ideologischen Sinne aufgrund eines gemeinsamen Forderungskatalogs oder einer gemeinsamen Identität, sondern „pragmatisch“, weil so die außenpolitischen Optionen zunehmen, die Autonomie schaffen, Abhängigkeiten reduzieren und Resilienz erhöhen. In diesem Sinne gehört China ebenfalls zum Globalen Süden, nimmt jedoch angesichts Wirtschaftskraft und politischer Durchsetzungsstärke eine Sonderstellung ein. Russland, andere Staaten Osteuropas, Neuseeland und Australien sowie die anderen ostasiatischen Industriestaaten gehören dagegen nicht zum Globalen Süden. Der Westen ist mit einer Mehrheit von Staaten konfrontiert, die nicht mehr bereit ist, in Washington, Paris oder Brüssel erdachte Prinzipien und Rezepte der internationalen Politik umzusetzen.

Plagemann und Maihack problematisieren zielstrebig den Terminus „Multipolarität“. Er bedeute zunächst, dass kein Land oder Block mehr „eigene Regeln im Alleingang durchsetzen kann“. Im Westen sieht man hier vor allem Einflussverlust, im Globalen Süden Gewinn an Autonomie. Deshalb falle es im Westen so schwer anzuerkennen, „dass man es mit einer neuen, post-westlichen Weltordnung zu tun hat“. Auch der Versuch, eine „Wiederbelebung von Bipolarität“ zu behaupten, ist Ausdruck einer vereinfachenden Weltsicht, die man bereits kennt. Das übersieht jedoch nicht nur „die Brüche im vermeintlich geeinten Westen“, sondern auch die zunehmende Bedeutung der Süd-Süd-Beziehungen. Insofern müsse der Westen anerkennen, dass die Zusammenarbeit im BRICS-Format nicht notwendig eine Abkehr vom Westen bedeutet. Der relative Verlust an internationaler Gestaltungsmacht des Westens ist unumkehrbar. Zugleich wird der Aufbau von Partnerschaften in einem multipolaren Wettbewerb aufwendiger.

Mit dem Beginn des multipolaren Zeitalters ist die Vorstellung einer stets voranschreitenden, risikoarmen Globalisierung an ein Ende gekommen. Das reine „Bewahren der internationalen Ordnung in ihrer jetzigen Form ist keine Option mehr“. Die Autoren halten dafür, dass eine multipolare Welt für EU-Europa attraktiver ist als für die USA, weil die EU dabei ein eigener Pol sein kann. Am Ende plädieren sie dafür, dass nicht nur für die EU, sondern auch für Deutschland die Abwesenheit von Blöcken im Kontext der Multipolarität außenpolitische Chancen biete. Man könne „eigenen Interessen als Brückenbauer zwischen dem Westen und dem Globalen Süden gerecht“ werden. Globale Herausforderungen wie die Klimakrise oder die Bekämpfung des Hungers werden in einem „Klub der Demokratien“ nicht gelöst werden können. Es gelte, „in die für Multipolarität typischen pragmatischen und themenorientierten Allianzen“ zu investieren, die den Globalen Süden bereits seit längerem prägen. Das Fazit lautet: „Demokratisierung der internationalen Politik wird nicht ohne die Mitsprache von Autokratien zu haben sein.“ Im Klartext: Das ist ein Plädoyer für friedliche Koexistenz statt Regime-Change-Politik im Namen westlicher Demokratie. In gewissem Sinne gehört auch dieser Band in die Abteilung: Sozialdemokratische Dehnübungen (Blättchen 13/2024; 17/2024).

An einer Stelle jedoch bekunden Plagemann und Maihack geschichtspolitische Ignoranz. So wird – aus der Sicht eines teilnehmenden Beobachters – ein Festtag in Mosambik am 25. Juni 2009 zur Feier der Unabhängigkeit und der antikolonialen Kämpfer beschrieben. Dazu heißt es, die Feierlichkeit schien „merkwürdig gestrig zu sein, mit ihren anti-kolonialen Parolen und der sozialistischen Bildsprache aus Kalaschnikow und Hacke, wie sie sich auch auf der Flagge des Landes wiederfindet. Erinnerungen an die DDR und ihre politische Folklore, nicht demokratischer Aufbruch.“

In Mosambik und Angola herrschte das portugiesische Kolonialregime. Das von weißen Siedlern beherrschte Südrhodesien (Simbabwe) sowie Apartheid-Südafrika und das besetzte Namibia bildeten einen weißen, antikommunistischen Block. Die DDR unterhielt engste Kontakte zu den Befreiungsbewegungen dieser Länder, darunter zur FRELIMO in Mosambik, dem ANC Südafrikas und der SWAPO Namibias. Deren Siege wurden von der DDR gefördert, auch durch Ausbildungsleistungen für bewaffnete Kämpfer. Die BRD dagegen unterstützte das Apartheid-Regime in Südafrika und die anderen Kolonialherren, solange es ging. DDR und BRD standen auf verschiedenen Seiten des Kampfes. Insofern wäre es aus Sicht einer aufgeklärten deutschen Außenpolitik heute – im Sinne des beschworenen Brückenbaus zum Globalen Süden – klüger, sich positiv auch auf das Erbe der DDR-Afrikapolitik zu beziehen, als es ignorant zu verhöhnen.

Johannes Plagemann/ Henrik Maihack: Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens. Verlag C.H. Beck, München 2023, 249 Seiten, 18 Euro.