Am 28. August 1749 „mittags mit dem Glockenschlage zwölf“ wurde Johann Wolfgang von Goethe geboren. Zweihundertfünfundsiebzig Jahre ist das nun her und das Interesse an seinem Werk, vor allem aber an seiner Lebensgeschichte scheint ungebrochen. Denn ganz abgesehen von der unüberschaubaren Anzahl von Spezialuntersuchungen – wie viele Biographien mögen allein im deutschsprachigen Raum bis heute über ihn geschrieben worden sein?
Die jüngste Neuerscheinung kommt von Thomas Steinfeld. Warum auch er sich dieser Aufgabe gestellt hat, fasst er so zusammen: „Wenn [Goethe] an etwas lag, so war es der Mensch, der Einzelne, dem die Wunder der Natur und der Kunst aufgehen sollten. Diesen Goethe darzustellen, wider seine Erhebung zum ewigen Helden der deutschen Kultur, wider seine Verklärung zum Botschafter des Guten und Schönen, wider seine Verkleinerung zu einer nur aus historischen Gründen interessanten Gestalt, ihn als den aufgeschlossenen (vor allem im kleinen Kreis), freien, universal gebildeten, gelegentlich widersprüchlichen, manchmal abgründigen, oft isolierten, stets aber hellen Geist zu erkennen, der er gewesen sein muss: Darum soll es in dieser Biographie gehen.“
In geradezu romanhafter Manier, lebendig und mitreißend, folgt Steinfeld dem Lebensweg seines Protagonisten. Gekonnt verbindet er die Beschreibungen des Alltags mit dem Blick auf die Arbeit des Schriftstellers, des Staatsbeamten oder des Wissenschaftlers. Er kennt seinen Goethe sehr genau und er schreibt über ihn wie jemand, der selbst dabei gewesen ist. Hatte doch schon Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ gefordert, dass die Hauptaufgabe der Biographie darin bestehen solle, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“ und dass herauszuarbeiten sei, „in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt“. Steinfeld zeigt uns Goethes Leben und Werk als ein abgeschlossenes Universum, sei es in literarischer und allgemein künstlerischer Hinsicht, in Dingen der Naturforschung oder in seinen amtlichen Tätigkeiten. Aus „Dichtung und Wahrheit“ (einer, nebenbei gesagt, für Biographen höchst unzuverlässigen Quelle) wird bei ihm Wahrheit und Dichtung. Was immer Goethe tat, so Steinfeld, trug „die unverwechselbaren Spuren des Menschen, der es hervorbrachte“. Was im Übrigen auch für die Vorhaben gilt, mit denen er Schiffbruch erlitt.
Wenn Steinfeld eingangs von „Verklärung“ spricht, bezieht er das nicht allein auf die Goethe schon früh zugeschriebene und seither als Gemeinplatz fast einhellig akzeptierte Bedeutung als Dichterfürst, sondern vor allem auf dessen nur selten objektiv betrachtete Stellung am Weimarer Hof. „Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine; / Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur, was er vermag.“ Mit diesen freundlich-koketten Worten hatte Goethe bereits im Frühjahr 1790 in den später anonym veröffentlichten „Venezianischen Epigrammen“ die politisch-praktische Beschränktheit seiner Wahlheimat umrissen. Steinfeld erinnert demgegenüber daran, dass uns der Weimarer Hof des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts seitens der deutschen Kulturgeschichtsschreibung seit fast zweihundert Jahren als „ein überzeitliches Modell“ präsentiert wird. So konnte sich in weiten Kreisen die Vorstellung verfestigen, dass der regierende Carl August seinen Geheimrat schalten und walten ließ und somit Goethe derjenige gewesen sei, der die politischen Geschäfte des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach führte. Doch ganz so war es nicht! Stefanie Freyer hat es in ihrem von Steinfeld zitierten Aufsatz „Weimars Mythos auf dem Prüfstand“ (2015) auf den Punkt gebracht: „Dichterruhm wog am Hof weit weniger als hohe Geburt.“
Thomas Steinfelds Buch liefert einen unverstellten, von überlieferten Auffassungen und Vorurteilen befreiten Blick auf Goethe und eine der wichtigsten Epochen der deutschen Literaturgeschichte. Fazit: Unbedingt empfehlenswert!
Thomas Steinfeld: Goethe – Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024, 784 Seiten, 38,00 Euro.
Schlagwörter: Biographie, Goethe, Mathias Iven, Thomas Steinfeld, Weimar