27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Unterwegs in Usbekistan – lückenhafte Depeschen*

von Alfons Markuske, notiert in Samarkand

 

Der Arme isst Plov,

der Reiche isst nur Plov.

 

Usbekisches Sprichwort

 

Mit dem Nationalheros Usbekistans – Tamerlan, auch Timur Lenk (Timur der Lahme) genannt; von seinem bronzenen Reiterstandbild in Taschkent war bereits die Rede (siehe Blättchen 12/2024) – ist es so eine Sache.

Als dieser Mongolenfürst, von 1336 bis 1405, lebte, war an Usbekistan und ein usbekisches Volk noch nicht zu denken. Samarkand seinerseits hatte da unter wechselnden Namen bereits um die 2100 Jahre Stadtgeschichte hinter sich. Tamerlan gilt als Förderer von Wissenschaft und Kunst, doch vor allem war er ein äußerst erfolgreicher Eroberer. Er schuf eines der größten Reiche, die je bestanden. Es erstreckte sich, Vasallenstaaten einbezogen, von Südeuropa über das Mittelmeer bis Indien. Zu seiner Hauptstadt erkor er sich Samarkand. Dem nördlicheren Europa blieb ein Mongolensturm wie unter Dschingis Khan, einem seiner Vorgänger, allerdings erspart. Und das war gut so, denn an Grausamkeit stellte Tamerlan alles bis dahin Dagewesene noch in den Schatten. Einer muslimischen Quelle zufolge wurden im Jahre 1387 nach der Eroberung Isfahans durch Tamerlans Krieger 28 sogenannte Schädeltürme gezählt – errichtet aus den Häuptern Geköpfter auf bis zu 60 Meter Höhe, was auf etwa 70.000 Ermordete insgesamt schließen lässt. Und Städte hat Tamerlan viele erobert … Nationalhelden haben üblicherweise Derartiges nicht auf dem Kerbholz. (Obwohl – Richard Löwenherz, der Engländer legendär tapferer, weiser und guter König, ließ während des dritten Kreuzzuges gegen Ende des zwölften Jahrhunderts in Sichtweite des gegnerischen Lagers auch einfach mal knapp 3000 Kriegsgefangene kaltblütig köpfen, bloß um seinen muslimischen Widersacher Saladin einzuschüchtern.)

Vis-à-vis unserem Hotel in Samarkand – die Nekropole Sha-e Sende, ein einzigartiges Ensemble von etwa 20 Mausoleen ganz überwiegend timuridischer Adeliger – überwältigend schöne Grabbauten mit Torbögen und Kuppeln, errichtet aus Terrakotta-Ziegeln und verkleidet mit ornamentreichen kobaltblauen gebrannten Fliesen. In einem der Mausoleen, verborgen zwischen steinernen, durchbrochenen Fensterverkleidungen, hat ein Pärchen indischer Stare sein Nest gebaut und füttert seinen Nachwuchs. (In Buchara waren uns diese Vögel als lautstarke Krakeler am Himmel aufgefallen.)

Ein demgegenüber vergleichsweise bescheidenes Mausoleum hat man in der Innenstadt von Samarkand für den ersten postsowjetischen Herrscher des Landes errichtet – Islom Karimow. Der war 1989 als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans an die Spitze der damaligen Unionsrepublik gelangt und behauptete diese Position über die Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1991 hinaus bis zu seinem Tode 2016. Eine seiner beiden Töchter hatte dem bei autoritären Herrschern nicht unüblichen Usus, sich aus öffentlichem Vermögen schamlos privat zu bedienen, offenbar etwas zu opulent gefrönt. Sie wurde noch zu Papas Lebzeiten inhaftiert, 2017 rechtskräftig zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und befindet sich noch immer in staatlicher Obhut.

Das schönste und größte muslimische Gotteshaus Zentralasiens – ein usbekisches Portal spricht von einer Kathedralmoschee – ließ Tamerlan zu Ehren seiner Ehefrau im Zentrum von Samarkand errichten – Bibi Khanum. Mitten im Innenhof eine steinerne Buchstütze jener typisch orientalischen Art, wie man sie sehr handlich, doch aus Holz auf Basaren erstehen kann – nur hier von wenigstens anderthalb mal zwei Metern Kantenlänge und gut mannshoch; darauf ein aufgeschlagener Koran von passenden Dimensionen. Die Aufstellung soll Ulugh Beg, ein Enkel Tamerlans und zeitweise ebenfalls Sultan in Samarkand (siehe ausführlicher Blättchen 16/2024), veranlasst haben.

Das eigentliche Herz Samarkands schlägt auf dem Registan-Platz, dem wohl berühmtesten städtebaulichen Ensemble Zentralasiens. Die besonders hohen Fassaden der aus farbigen Backsteinen bestehenden und mit ebensolchen Fliesen geschmückten Eingänge zu den drei Medresen, die den Platz einrahmen, die mächtigen jadegrünen Kuppeln auf den zugehörigen Moscheen und zahlreiche über und über mit Ornamenten geschmückte Türme ergeben wahrlich ein ungemein imposantes Ganzes. Wenn der Komplex in abendlicher Dunkelheit aber überdies farbig angestrahlt wird, dann lässt diese Performance die Grenze zum Kitsch meilenweit hinter sich. Dem täglichen Zustrom an Touristen und auch Einheimischen gerade in diesen Stunden tut das gleichwohl keinen Abbruch. Im Gegenteil.

An den Fassaden der Gebäude – wie bereits zuvor an weiteren religiösen Bauwerken, die wir während der Reise besichtigt haben – erinnern immer wieder Swastiken daran, wie wenig originell die deutschen Faschisten waren, die dieses in Asien schon tausend Jahre vor Christus nachweisbare Glückssymbol für ihr Hakenkreuz missbrauchten.

Welche grandiosen Leistungen in der Sowjetunion zur Restauration und Rekonstruktion sowie Bewahrung all der in diesen Reisenotizen beschriebenen Altertümer vollbracht worden sind, erschließt sich in einer der Medresen am Registan-Platz, in der Bildstrecken historischer Fotos deren Zustand noch in den 1930er Jahren dokumentieren: Die Aufnahmen erinnern an jene vom Dresdner Zwinger nach den Bombenangriffen im Februar 1945, nur dass im Falle Samarkands der Zahn der Zeit und menschliche Vernachlässigung während vergangener Jahrhunderte die Übeltäter waren.

Apropos Restauration und Rekonstruktion: Unser auch archäologisch beschlagener einheimischer Reiseführer Akmal, der in früheren Jahren selbst an Ausgrabungen teilgenommen hatte, informiert uns darüber, dass die farbigen Ziegel und Fliesen der Fassaden, dort wo sie wiederhergestellt worden sind, auch vom Laien erkannt werden können – anhand der feinen Risse in der Glasur, die sich aufgrund der extremen Temperaturunterschiede des hiesigen Kontinentalklimas (zwischen 40 Grad plus im Sommer und bis zu 20 Grad minus im Winter) bereits nach wenigen Jahren herausbilden. Nur die ursprünglichen Erbauer sind in der Lage gewesen, eine quasi atmende Glasur herzustellen, die bis heute frei von Rissen ist. Das Geheimnis des Herstellungsverfahrens sei, so Akmal, trotz intensiver Forschungen bis auf den heutigen Tag nicht gelüftet. Darüber hinaus hätten originale Farb-Ziegel und -Fliesen eine deutlich ausgeprägtere Farbtiefe im Vergleich zu der eher flachen ihrer neuzeitlichen Klone. An einem der Mausoleen der oben erwähnten Nekropole Sha-e Sende, an dessen Fassade sich originale neben rekonstruierten Bauelementen befinden, haben wir die Probe aufs Exempel gemacht und Akmals Aussagen vollauf bestätigt gefunden.

Auf dem Weg zum ebenfalls in der Innenstadt von Samarkand gelegenen Mausoleum Tamerlans passieren wir zunächst ein überlebensgroßes Standbild Karimows. Es wirkt, wie Herrschermonumente all überall sehr häufig, so uninspiriert, als hätten der oder die Schöpfer zumindest andeuten wollen, dass hier eine verordnete Pflichtaufgabe auf eine einer solchen angemessene Art und Weise erledigt worden sei.

Die (ebenfalls restaurierte und rekonstruierte) Grablege von Karimows geschichtlichem Vorgänger ist, wie könnte es anders sein, ebenfalls höchst imposant. – Übrigens haben sowjetische Wissenschaftler um den Anthropologen M. M. Gerasimow die Gebeine Tamerlans im Frühjahr 1941 exhumiert und danach nicht nur festgestellt, dass der Mongolenherrscher mit lediglich 1,72 Metern lichter Höhe alles andere denn ein Recke war, sondern auch, dass er seinen Beinamen der Lahme zu Recht trug: Tamerlan hinkte. – Muslimischer Aberglaube brachte den wenig später, am 22. Juni 1941, erfolgenden deutschen Überfall auf die Sowjetunion ebenso mit dieser Exhumierung (gleich Grabschändung) in Zusammenhang wie die erneute Bestattung der Gebeine nach muslimischem Ritus im darauffolgenden Jahr mit der kurz danach erkämpften Kriegswende in Stalingrad (Winter 1942/43).

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Usbekistans Landschaften sind von endlosen Wüstengebieten ebenso geprägt wie von den teils im Mai noch oder auch ganzjährig mit Schnee bedeckten Gipfeln der Hochgebirgszüge des Pamirs und des Tienschans. Entlang der Bahntrassen, die wir während der Reise passieren, wechseln aber auch bewässerte Baumwollfelder mit Obstplantagen, Reis- und Weinanbau. Letzterer nicht in Hanglagen, sondern durchgehend ebenerdig. Wilde Gebirgsflüsse sind zu sehen, mal ein gewaltiger Stausee und im vom Tienschan eingerahmten Ferganabecken sattes Grün bis zum Horizont. Die Bahnstrecke von Taschkent bis Margilan, dem Einfallstor in das Becken, ist von Strommasten gesäumt, auf denen die ausladenden Nester von Weißstörchen schon mal zwei- und dreistöckig übereinander gebaut sind. Ein über 19 Kilometer langer Eisenbahntunnel nötigt Respekt vor der Leistung der Erbauer ab. Die Strecke ist keine Schnellbahntrasse; es verkehren normale Züge. Der unsere könnte von außen mal eine Reinigung vertragen, am Fahrkomfort im Inneren hinge´gen gibt es bis hin zu den sauberen Toiletten nichts zu bemängeln.

Während unseres Aufenthaltes im Lande Mitte Mai blühen Rosen, Ginster, wilde Tulpen, die Kastanien, Klatschmohn, Malven, Granatapfelbäume und zahlreiche weitere Pflanzen. Verzehrreif sind einheimische Aprikosen, Süßkirschen, Freiland-Erdbeeren, die auf den Basaren auch noch so verführerisch duften wie Senga Sengana vor Jahrzehnten im Obst- und Gemüseladen meiner Eltern. Dazu Freiland-Tomaten, die im Unterschied zu deutscher Kaufhallenware dem Gaumen schmeicheln, sowie blaue und weiße Maulbeeren, die zwar ebenfalls auf den Basaren feilgeboten werden, aber häufig einfach am Wegesrand zu pflücken sind und die zugleich darauf verweisen, dass Usbekistan einer der größten Naturseideproduzenten der Welt ist.

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Plov, die orientalische und russische Langkornreispfanne mit diversen Gemüsen (vor allem Zwiebeln und Möhren) sowie reichlich Fleisch, ist das usbekische Nationalgericht schlechthin. In Samarkand wird unsere immerhin knapp 30 Personen zählende Reisegruppe an einem Abend von der Familie unseres Reisebusfahrers eingeladen, die ein großzügig dimensioniertes Anwesen etwas außerhalb der City bewohnt. Gemeinsam mit den Gastgebern werden Zutaten vorbereitet. Mehr als nur eine Handvoll geschälter Knoblauchzehen, die der Speise im Ganzen beigegeben werden, erregt besondere Aufmerksamkeit. Gekocht wird im offenen Kessel. Anschließend wird das üppige Mahl –noch bereichert durch weitere Köstlichkeiten der usbekischen Küche – unter freiem Himmel eingenommen. Wer danach nicht satt ist, den locken ebenfalls reichlich dargebotene Süßigkeiten …

Usbekistan, so unser Fazit, ist unbedingt eine Reise wert.

 

PS: Plov oder auch Pilaw kann man in einschlägigen Restaurants auch in Deutschland genießen. Wobei etwa das Anastasia in der Berlin-Friedrichshainer Samariterstraße mit seiner vorzüglichen usbekisch-russischen Küche deutschen Geschmackspräferenzen insofern Rechnung trägt, dass der Koch auf die Verwendung von Lamm- oder Hammelfleisch verzichtet und stattdessen auf Kalbfleisch zurückgreift.

 

Bisher erschienen: Taschkent, Blättchen 12/2024; Chiwa, Blättchen 13/2024; Buchara I, Blättchen 14/2024; Buchara II, Blättchen 15/2024, Samarkand I, Blättchen 16/2024.