27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Unterwegs in Usbekistan – lückenhafte Depeschen

von Alfons Markuske, notiert in Taschkent

Anfang Mai 2024 – wir sind gespannt auf unser erstes Reiseziel – die usbekische Hauptstadt Taschkent. Wie sich die Metropole heute präsentiert, ist sie im Wesentlichen nicht älter als 58 Jahre, denn am 26. April 1966 hatte ein Erdbeben mit Epizentrum direkt unter der Stadtmitte die damals eine Million Einwohner heimgesucht. Aufgrund der Spezifik des Bebens war die Anzahl der Todesopfer extrem niedrig, doch fast die gesamt Bausubstanz Taschkents – mehr als 14 Quadratkilometer Wohnfläche, 236 Verwaltungsgebäude, rund 700 Einrichtungen des Handels und der Gastronomie, 26 kommunale Unternehmen, 181 Bildungs-, 36 Kultur-, 185 medizinische sowie 245 industrielle Einrichtungen – wurde zerstört. Der komplette Wiederaufbau wurde – auch dank internationaler Hilfe – bis 1970 abgeschlossen. Seither, so hatten wir in Vorbereitung unserer Reise einem ausführlichen Bericht der Berliner Zeitung entnommen, stehen „entlang der Magistralen […] Plattenbauten. Es sind die schönsten der Welt.“

*

Der immerhin sechsstündige Direktflug von Frankfurt am Main nach Taschkent in einem Airbus A-320 ist in der Economy Class trotz freundlich-routinierter Passagierbetreuung durch Uskekistan Airlines und selbst ohne adipöse Sitznachbarn kein wirkliches Vergnügen. Dafür sorgen schon mal die mit zunehmender Flugzeit immer (gefühlt) klebrigere Air Condition und die minimalistischen Örtlichkeiten fürs Sanitäre. Trotzdem gilt das Modell inzwischen als ausgereift angesichts von lediglich 41 Totalverlusten mit 1128 Todesopfern (Stand: November 2022) seit seiner Indienststellung 1987, bei insgesamt 11.223 ausgelieferten Maschinen der A-320-Familie (Stand: Dezember 2023).

In Taschkent erwarten uns dann allerdings keine jahreszeitlich durchaus möglichen 30 Grad Celsius, sondern nur knapp über 20, bei leichtem Wind und stark bewölktem Himmel. Das entspannt sofort, und das ist auch nötig, denn es zeigt sich, dass nicht nur unser Reiseveranstalter die Maschine gebucht hatte, sondern etliche weitere ebenfalls. Entsprechend ist das touristische Gewimmel auf der Suche nach dem richtigen einheimischen Reiseleiter. Doch auch der wird gefunden, das Gepäck in einen Bus verladen, dieser geentert und ab geht es in Richtung Hotel.

Unser Reiseleiter, nennen wir ihn Akmal, ist Usbeke und beherrscht, so wird er uns bald mitteilen, neben Deutsch noch etliche weitere Sprachen. Das nötigt uns Bewunderung ab, denn in unserem Idiom kann er, wie sich rasch zeigt, selbst scherzen und ironisch sein. Was bei Fremdsprachen allgemein als Ausweis hoher Sprachfertigkeit gilt.

Gleich während der Busfahrt durch die abendliche und farblich deutlich mit mehr als nur einem Hauch von tausendundeiner Nacht illuminierte Hauptstadt – erste informatorische Schnellbesohlung durch Akmal: 80 Prozent der Usbeken seien islamischen Glaubens, doch das Land insgesamt säkular. (Tatsächlich werden uns in städtischen öffentlichen Räumen Frauen in Burka fast nie und vor allem jüngere selbst gänzlich ohne Kopftuch sehr häufig begegnen.) – Die Usbeken seien sehr gastfreundlich. Die Kriminalität bewege sich landesweit um Null. – In Geschäften und auf Basaren zahle man am besten mit US-Dollar oder Euro, denn anderenfalls seien die Preise bei einem Umtauschkurs von eins (Euro) zu knapp über 13.000 (Som, wie die Landeswährung heißt) nichts für schwache Kopfrechner. – Offiziell zähle Taschkent über drei Millionen Einwohner, doch tatsächlich dürfte noch eine weitere Million hinzukommen. Im Übrigen sorge der Staat durch Wohnraumbereitstellung dafür, dass es keine Obdachlosen gäbe. (Was wir dem Augenschein nach in den anschließenden zwei Wochen bestätigt finden sollten.)

Zu den Plattenbauten entlang der Magistralen, die der Bus auf dem Weg zu unserem Hotel in der Nähe des einer startenden Sojus-Rakete nicht unähnlichen Fernsehturms (mit dem Gardemaß von 375 Metern das höchste Gebäude des Landes) nimmt, erzählt Akmal, dass er mit seiner Familie in einem solchen wohne. Mit dünnen Wänden und schlechter Außenisolierung. Man rieche immer, was der Nachbar koche und wisse überdies, in welcher Nacht dessen Frau schwanger geworden sei. Im Sommer (bis zu 40 Grad plus) brauche man keine Sauna, im Winter (bis zu 20 Grad minus) keinen Kühlschrank, und die lediglich 2,20 Meter niedrigen Decken machten das Wechseln von Glühbirnen zum Kinderspiel …

Als es während der Busfahrt zu tröpfeln beginnt, informiert Akmal: Regen sei in Usbekistan, wo an 300 Tagen im Jahr die Sonne scheine, etwas äußerst Seltenes. Insofern muss der Touristenpulk aus dem Airbus wohl überwiegend aus Regengöttern bestanden haben, denn kaum sind wir im Hotel angelangt, schüttet es nicht nur die ganze Nacht, sondern auch an den Folgetagen bis ins 650 Kilometer entfernte Chiwa kommt noch so einiges runter.

Taschkent, darüber staunen wir bei unseren Touren durch die Stadt ein ums andere Mal, ist trotz seines dürren Kontinentalklimas eine über und über grüne Stadt. Straßenbäume und bunte Blumenrabatten allenthalben. Zahlreiche großzügige Parks. Das nötige Wasser liefert das nahegelegene Tienschan-Gebirge, und ein unterirdisch verlegtes flächendeckendes Bewässerungssystem bietet der Trockenheit Paroli.

Auffällig ist die Sauberkeit der Stadt: keine Pappbecher und Plastikflaschen, keine Kippen und Kaugummis, auch keine Graffiti vermüllen oder verunzieren den öffentlichen Raum. Ob dieses angenehme Ambiente ebenso wie die geringe Kriminalität womöglich mit den politischen Verhältnissen im Lande zusammenhängt, wollen wir wissen. Doch dazu will Akmal sich nicht äußern. Mehr als ein „Usbekistan ist eine Demokratie ohne Opposition.“ ist ihm nicht zu entlocken. Doch falls das eine mit dem anderen zu tun haben sollte, dann dürften die genannten Folgeerscheinungen kaum dazu angetan sein, die Bevölkerung von deren Obrigkeit zu entfremden.

Von den Magistralen, die sternförmig auf den Amir Temur Xiyoboti, den zentralen Platz von Taschkent, zulaufen, ist die Amir Temur Avenue zehnspurig. Als unser Reisebus links blinkt, um an einer dafür nicht speziell ausgewiesenen Stelle ohne Ampelregelung aus dem fließenden Verkehr auf der innersten Spur auf die Gegenfahrbahn zu wenden, und anhalten muss, um im dort ebenfalls flüssigen Fahrgeschehen eine Lücke abzupassen, stehen sofort drei PKWs neben uns – und zwar nicht etwa längs in Reihe, sondern jeweils parallel in Höhe unseres Busfahrers. Als sich eine Lücke auftut, findet die gleichzeitige vierfache Wende dann so unaufgeregt statt, wie man das in Mitteleuropa allenfalls vom Tanz der kleinen Schwäne oder vom Synchronschwimmen kennt. Zugleich hätte das allgemeine usbekische Fahrverhalten als dynamisch zu bezeichnen, das Zeug zur Untertreibung des Jahres. Andererseits – nirgendwo verbeulte Autos oder gar Hinweise auf Verkehrsunfälle …

Auf dem heutigen Amir-Temur-Platz stand im späten 19. Jahrhundert zunächst ein Denkmal für den deutschstämmigen General Konstantin von Kaufmann, der in zaristischen Diensten 1867 zum ersten Generalgouverneur von Russisch-Turkestan (entspricht den heutigen Ländern Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan) ernannt worden war. Ihm folgten Denkmäler von Stalin und von Karl Marx, bis 1993 schließlich der Mongolenführer Temur Taragai ibn Barlas (in Europa geläufiger unter den Namen Timur Lenk und Tamerlan) samt Pferd in Bronze und Überlebensgröße auf den Sockel gehoben wurde. Obwohl selbst kein Usbeke, gilt er als Nationalheros. Was angesichts der Grausamkeit seiner Herrschaft auch Fragen aufwirft. Mehr davon werden wir in Samarkand, der ehemaligen Hauptstadt seines Riesenreiches (vom Mittelmeer bis Indien), erfahren.

An den Amir-Temur-Platz an schließt sich die größte Fußgängerzone Taschkents. Der – im Volksmund – Pepsi-Boulevard, weil Hunderte, nachts beleuchtete Logos der Brauseherstellers das Areal verschandeln.

Im Anschluss an diese Zumutung rechter Hand die palastgroße Kunstgalerie von Usbekistan. Gerade läuft eine vom Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen organisierte Fotoausstellung der im Frühjahr dieses Jahres verstorbenen Helga Paris. Und dann staunt der Autor nicht schlecht – über Fotos von seiner Heimatstadt Halle an der Saale aus den 1970er und 1980er Jahren, die er zuvor noch nie gesehen hatte.

Anschließend geht es mit dem Bus zur kleinen Telyashayakh-Moschee im Bereich der früheren Altstadt von Taschkent, von der das Beben von 1966 praktisch nicht übriggelassen hat. Dort ist eine der vier (von ursprünglich sechs) noch erhaltenen Urschriften des Korans zu besichtigen – zusammen mit älteren sowie zeitgenössischen Ausgaben des heiligen Buches aus vieler Herren Länder.

Wird fortgesetzt.