Wird in Polen das wichtigste Ereignis im Zweiten Weltkrieg gesucht, steht der Warschauer Aufstand weit oben, wenn nicht an erster Stelle. Je jünger das befragte Publikum, desto eindeutiger das Ergebnis. Den herausragenden Platz in der Erinnerung wird dem am 1. August 1944 befohlenen Waffengang kein anderes Kriegsereignis je streitig machen. Und doch könnte der Streit, sobald die historische Bewertung einsetzt, unter den Polen kaum heftiger sein. Das vor allem deshalb, weil nirgends sonst in der jüngsten Zeitgeschichte wegen der politischen Konsequenzen so deutlich das Polen davor und das Polen danach geschieden ist.
Der Aufstand, das sei gleich eingeräumt, hatte nur geringe Auswirkung auf den tatsächlichen Kriegsverlauf, der Kampf an der Ostfront zwischen Roter Armee und Wehrmacht wurde ohne große Rücksichten auf den Aufstand in Warschau entschieden. Doch für die polnische Seite änderte sich in wenigen Wochen alles. In den Nachkriegsplänen Stalins war die Londoner Exilregierung der Polen ein handfestes diplomatisches Hindernis, ein Dorn im Auge, zudem führte die mit der Armia Krajowa (Landesarmee) zu Hause im besetzten Polen einen starken militärischen Arm, eine Untergrundarmee, geübt wie diszipliniert im Widerstand. Zwei Punkte forderte Moskau: Polens Westverschiebung mit einer feststehenden sowjetisch-polnischen Grenze im Osten als Ausgangspunkt und einem noch näher zu bestimmenden Grenzverlauf im Westen; außerdem eine gesellschaftliche Ordnung, die mit der in Vorkriegspolen bricht, um jeder antisowjetischen Ausrichtung die Grundlage zu nehmen. Stalins Alliierte in Washington und London schluckten nach Stalingrad die künftige sowjetische Westgrenze zu Polen, versuchten bei anderen Fragen, die Türen noch offen zu halten. Nach der Aufdeckung des sowjetischen Kriegsverbrechens von Katyn im März 1943 ausgerechnet durch die Deutschen, kam es zum unvermeidlichen diplomatischen Bruch zwischen Moskau und Exilpolen. Moskau warf dem treuen Verbündeten der Westalliierten vor, deutsche Propaganda zu verbreiten und ein antisowjetisches Kesseltreiben anzuheizen, ausgerechnet in einer entscheidenden Phase des Krieges.
Churchill gelang es, den Ministerpräsidenten der Londoner Exilregierung im Sommer 1944 zu überzeugen, nach Moskau zu fahren, um in direkten Gesprächen mit Stalin die ungeklärten und störenden Dinge im bilateralen Verhältnis im Interesse des gemeinsamen Kampfes gegen Hitlerdeutschland aus dem Weg zu räumen. Stanisław Mikołajczyk traf am 31. Juli 1944 in Moskau ein, reiste am 9. August wieder ab. Inzwischen war die Rote Armee auf der rechten Weichselseite bis an die Stadtgrenze Warschaus vorgerückt, die Deutschen leisteten heftigen Widerstand und stoppten den Vormarsch. Schaut man heute mit dem ruhigen Blick auf die folgenden Tage, so mutet vieles an wie beim Pokerspiel, wobei das Blut in den Adern gefriert.
Der Aufstand der Armia Krajowa gegen die deutsche Besatzung hatte zunächst sichtbaren Erfolg, größere Teile der Innenstadt Warschaus wurden befreit, die deutschen Truppen schienen überrascht gewesen zu sein, machten den Eindruck, sich zurückzuziehen. Der Anfangserfolg sollte zusätzlicher Trumpf in den Händen Mikołajczyks sein, wenn in Moskau über Nachkriegspolen geredet wird. Und doch war dem Londoner Lager der Polen von Anfang an klar, dass sie ohne die rasche und massive Unterstützung der Roten Armee gegen die Deutschen verlieren würden, sollte die Wehrmacht sich nicht vollständig aus dem linksufrigen Teil der polnischen Hauptstadt zurückziehen. Stalin ließ den polnischen Ministerpräsidenten erst am 3. August zu sich vor, stellte seinerseits die härtesten Bedingungen. Mikołajczyk solle überlaufen zu dem am 22. Juli im Rückraum der Roten Armee in Chełm bzw. Lublin eingesetzten Polnischen Nationalen Befreiungskomitee mit seiner Armia Ludowa (Volksarmee), solle Chef einer provisorischen Regierung werden, die mit der sowjetischen Seite eng zusammenarbeite. Die Annahme des Angebots wäre der Kapitulation gleichgekommen, stattdessen schlug Mikołajczyk vor, nach der Befreiung Warschaus unter seiner Führung eine gemeinsame polnische Regierung zu bilden, an der auch das Nationale Befreiungskomitee entsprechend beteiligt wäre. Ein zweites Zusammentreffen zwischen Stalin und Mikołajczyk am 9. August war so kurz wie ergebnislos.
Warschau blieb im Kampf gegen die Deutschen in den Straßenschluchten Warschaus alleine, die Stadt bezahlte den heroischen Kampf mit einem wahnwitzigen Blutzoll. Auf einen gefallenen Kämpfer kamen neun getötete oder ermordete Zivilisten – über 20.000 polnische Soldaten und mehr als 180.000 Zivilisten. Die deutsche Seite verzeichnete bei der blutigen Niederschlagung des Aufstands über 20.000 Gefallene. Die Kämpfe zogen sich bis in die ersten Herbsttage hin, schließlich kapitulierten die Reste der Armia Krajowa, die von den Deutschen am Schluss wie eine reguläre Armee behandelt wurde – statt Standgericht also Kriegsgefangenschaft. Am Kampf in Warschau waren auch Einheiten der Lubliner (also der kommunistisch-sowjetfreundlichen) Seite beteiligt, die beispielsweise an der Weichsel übersetzen konnten. Die Deutschen verlangten von der Armia Krajowa nach der Kapitulation die Auslieferung dieser Kämpfer – vergeblich.
Die Kapitulation in Warschau ist gleichzusetzen mit der völligen politischen und diplomatischen Niederlage des Londoner Exillagers. Von nun an zog Stalin nahezu ungestört an der polnischen Schnur, allerdings ist die nachfolgende Geschichte auch ein nicht aufzuhaltender Prozess der patriotischen Färbung von Polens Kommunisten. Ein unangenehmer Stachel immerhin in Stalins Nachkriegsspiel. Katyn und die brutale Zerschlagung der Kommunistischen Partei Polens im Jahre 1938 wirkten auf ihre Weise. Fast ein halbes Jahrhundert wird Polen an der sowjetischen Seite bleiben, am Ende verliert Moskau aber das Spiel in Polen. Der Untergang der Sowjetunion veränderte die Koordinaten in den Relationen zwischen Moskau und Warschau erheblich; die Würfel werden nun rasch fallen – für Polens neue Westeinbindung.
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