27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Stippvisite in Naumburg und Freyburg*

von Hans-Peter Götz

Selbst ohne Dom wäre Naumburg eine Stippvisite wert. Das Städtchen ist im Vergleich zur Zeit vor fast 50 Jahren, als der Autor einige Zeit am Ort lebte, prächtig herausgeputzt. Insbesondere gilt dies für den historischen Marktplatz, über den, anders als seinerzeit, keine Uralt-Straßenbahn mehr verkehrt. (Die ist allerdings aus der Innenstadt zum etwas auswärts gelegenen Bahnhof immer noch auf Strecke.)

Zwar gibt es auf dem Markt die Sortimentsbuchhandlung samt Antiquariat und Antiquitätenladen von Erwin Kohlmann (siehe Blättchen 4/2012) schon lange nicht mehr, doch die Fassade jenes Hauses, in dem sich das Geschäft einst im Erdgeschoss befand, ist tipptopp saniert. Das gilt nicht minder für das nach einem verheerenden Brande zwischen 1517 und 1528 wiedererbaute Rathaus, mit kursächsischem Wappen von 1612.

An einem lauen Abend des Jahres 1978 saß zu späterer Stunde im dunklen ersten Geschoss des Rathauses, an einem geöffneten Fenster und neben seiner damaligen Gattin der Autor dieses Beitrages. Vor dem Rathaus war eine Bühne aufgeschlagen, und auf dem illuminierten Marktplatz selbst ging kein Apfel zu Boden – Abschlusskonzert zur 950-Jahr-Feier Naumburgs. Es spielte City, und als beim Titel „Am Fenster“ Georgi Gogows Geigenklänge von den Häuserwänden und über die Köpfe echoten, war Gänsehaut das Mindeste, was angesagt war.

In den schräg gegenüber dem Rathaus gelegenen oberirdischen Gewölben des Schlösschens am Markt – 1543 an Stelle eines vormaligen Kaufhauses errichtet, im Westflügel die ehemaligen Amtsräume von Nikolaus von Amsdorf – residierte vor 50 Jahren die Kreisredaktion der Freiheit, des SED-Blattes des Bezirkes Halle an der Saale. Heute – Tourist Information.

Direkt hinter dem Schlösschen gleich noch ein Déjà-vu – Sankt Wenzel, die Stadtkirche. Seit Jahrhunderten ein Unikum insofern, als die Kirche der Kirche, der über 50 Meter hohe Kirchturm hingegen der Stadt gehört. Letztere bestellte traditionell den Türmer. Der wohnte vor 50 Jahren oben auf dem Turm grundsätzlich mietfrei, musste dafür jedoch zu festgelegten Zeiten den Turm für Besucher geöffnet halten. Die bescheidenen Eintrittsgelder durfte er einstreichen. Einen Behelfsaufzug für Waren des täglichen Bedarfs an der Außenfront des Turmes gab es zwar, doch erklommen werden musste derselbe per Pedes. Woher dem Autor diese Details bekannt sind? Als er, jungverheiratet, dereinst in Naumburg wohnungssuchend war, wurden dem Paar Wohnung und Funktion des Türmers angetragen. Doch die Gattin war froher Erwartung in fortgeschrittenem Stadium, so dass sich das Experiment dieserhalben nicht recht empfahl.

Ein Blick in die Kirche mit ihrem einschiffigen Chor und ihrem seltsam gedrungenen dreischiffigen Langhaus lohnt in jedem Fall. Der spätgotische Bau, Fertigstellung 1426, weist seit 1724 ein barockes Interieur auf. Ins Auge sticht die riesige Orgel von Zacharias Hildebrandt, ein Juwel barocker Orgelbautradition und 1746 von Johann Sebastian Bach und Gottfried Silbermann höchst selbst abgenommen. Seit lange wird sie wieder bespielt; mittwochs um 12:00 Uhr für eine halbe Stunde gar bei freiem Eintritt.

In Sankt Wenzel sind neben einigen Originalen aus der Cranach-Werkstatt zwei moderne Arbeiten von Roland Lindner zu sehen, zeitgenössischer Künstler im nahe gelegenen Hollsteitz. Insbesondere die Installation „un-begreif-bar“ 2022), in der der Mensch offenbar zum nunmehr wehrlosen Opfer einer von ihm zwar geschaffenen, aber nicht beherrschten Umwelt geworden ist, besticht durch Idee, Material (Bronze, Panzerglas) und Komposition. Und der Kontrast zum gut erhaltenen, ebenfalls im Inneren von Sankt Wenzel zu findenden Epitaph August von Leubelfings, Page des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf, könnte nicht größer sein. Der König fiel bekanntlich am 6. November 1632 in der Schlacht bei Lützen. Der Page aus altem niederbayerischem Adel und nur 19- oder 20-jährig (das genaue Geburtsdatum ist unbekannt) wurde bei selbiger Gelegenheit „lediglich“ schwer verletzt, gelangte noch bis Naumburg und folgte dort seinem König am 15. November nach.

Nur wenige Fußminuten sind es von Sankt Wenzel bis zum Holzmarkt – der Platz diente einst zur Lagerung und Trocknung von auf der Saale geflößten Baumstämmen. Dort sitzt heute in Bronze ein lebensgroßer und sichtlich entspannter Nietzsche (ein Alterswerk von Heinrich Apel, eingeweiht 2007), dem noch nicht anzusehen ist, dass er ab 1890 als zunehmend geistig Umnachteter in die Obhut seiner Mutter ins Haus Weingarten 18 zurückkehren wird, wo er bereits einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Vom Nietzsche mit wenigen Schritten steht man vor der Fassade eines imposanten Gebäudes, in dem sich früher der Gasthof „Goldener Harnisch“ befand. Eine Tafel weist aus, dass neben Goethe, der insgesamt dreimal in Naumburg weilte, 1813 ebenfalls dort Napoleon Quartier genommen hatte.

Wiederum nur einen Katzensprung entfernt, erreichen wir das Marientor – das einzige der vormals sechs Naumburger Stadttore, das im frühen 19. Jahrhundert nicht abgerissen wurde. Fortschritte im Bereich Artillerie hatten die Bollwerke sicherheitspolitisch obsolet werden lassen. Die trutzig-wehrhafte Doppeltoranlage mit dreigeschossigem Wachturm ist allerdings auch sehr beeindruckend. Zu DDR-Zeiten hatte im Tordurchgang unter dem Wachturm in den wärmeren Jahreszeiten die Naumburger Puppenbühne ihre Spielstätte. Die Zuschauer saßen im ruhigen Innenhof des Komplexes. Heute betreibt das Naumburger Theater an selbiger Stelle seine Sommerspielstätte. Durch Einwurf eines Euros direkt an der Einlasspforte des Marientores öffnet sich dieselbe und lässt Besucher ein, die ohne jede Beaufsichtigung über Treppen und durch Wehrgänge sowie Räumlichkeiten streuseln können. Vom Dach des Wachturmes bietet sich ein Rundblick über das Saale-Städtchen.

*

Von unserem Hotel in Wethau vor den Toren Naumburgs aus ist es am nächsten Tag per Byke eine sehr schöne Tour über den Saale-Unstrut-Radweg nach Freyburg. Die Strecke führt überwiegend direkt an den Flussufern entlang. Nach „der Saale hellem Strande“ hält man an den erdig trüben Gewässern zwar vergeblich Ausschau, doch durch das üppige frische Grün der Landschaft Anfang Juni, durch das nahezu allgegenwärtige Vogelgezwitscher, häufig dominiert von Kuckucksrufen, und durch das Kreisen zahlreicher Greifvögel am Himmel (der Rote Milan ist im klaren Tageslicht gut zu erkennen) ist die Fahrt einfach Lebensfreude pur.

Kurz vor Freyburg – links des Radweges die Unstrut, rechts erheben sich Weinberge – ein Hinweisschild: Max-Klinger-Haus. Es geht steil bergauf. Vorsichtshalber befragen wir daher per Smartphone Tante Google und siehe da – geöffnet erst ab 14:00 Uhr. Da sind wir zu früh dran. Und das erweist sich als Glückstreffer, denn weiter geht es nun bis Freyburg, wo wir kurz nach 11:00 Uhr unsere Räder vor der Stadtkirche Sankt Marien, anschließen, um das Gotteshaus in Augenschein zu nehmen. Die spätromanische, dreitürmige Basilika stammt – wie der Naumburger Dom – aus dem 13. Jahrhundert und wurde architektonisch in enger Anlehnung an diesen errichtet.

Eine Infotafel am Eingang teilt mit: Geöffnet bis 12:00 Uhr. Super! Kaum sind wir drin, erhebt sich ein älterer Herr von einer Bank, bewehrt mit einem Stock zum Gehen, doch nicht minder zum Zeigen, wie sich wenig später herausstellen wird. Der spricht uns an, und ehe wir uns noch recht versehen, kommen wir schon wieder in den unerwarteten Genuss einer Führung, die sich als nicht weniger sachkundig und witzig erweist als die vom Vortage im Dom.

Wir erfahren unter anderem, dass der Anfang von Luthers Kirchenliedtext „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr […]“durchaus wortwörtlich zu nehmen war: bei Annäherung von Feinden zog man sich in die dickmauerige Stadtkirche zurück und schloss das massive, nach innen öffnende hölzerne Eingangsportal. Neben diesem, etwa in halber Portalhöhe, ist im Inneren rechts und links ins Mauerwerk je ein tiefer quadratischer Schacht geschlagen, um den Zugang mittels eines massiven Balkens wirksam verrammeln zu können. Die hohen gotischen Fenster im Chor der Kirche widersprechen diesem Ansatz nur scheinbar, denn sie wurden erst bei einem Umbau im 15. Jahrhundert nachgerüstet.

Auch das Äußere des Westchores der Kirche wurde darauf angelegt, dem Bösen zu wehren, das besonders aus dieser Himmelsrichtung gewärtigt wurde: im Westen geht die Sonne unter und dann kriecht das Übel aus seinen Löchern. Dem sollte durch entsprechende, teils fratzenhafte Figurinen, Schlusssteine und ähnliches quasi der Spiegel vorgehalten werden, um es versteinern zu lassen und damit unwirksam zu machen …

Bei dem freundlichen Führer handelt es sich um Hans-Joachim Jasiulek, der bis zu seiner Berentung Hausmeister auf Schloss Neuenburg war, dem Stadtschloss hoch über Freyburg. Er wurde schon als Knabe zu DDR-Zeiten unter der Obhut des damaligen Museumsdirektors an archäologischen Grabungen beteiligt und kehrte nach einer Lehre als Maurer zu seiner Leidenschaft und nach Schloss Neuenburg zurück. Später hat er dann unter anderem die Sonnenuhr an der Freyburger Kirche wieder in Funktion gesetzt.

Er begleitet uns nach seiner Führung noch bis zum Markt und empfiehlt uns das Restaurant Zum Künstlerkeller – wegen vorzüglicher deutscher Küche. Und tatsächlich – die Blutwurstpfanne mit Bratkartoffeln und geschmorten Äpfeln ist ein Genuss!

Der wird anschließend auf dem Markt aber noch getoppt. Im Eis-Café Merle gibt es das beste Cassis-Eis nördlich von Florenz, wo wir vor Jahren mal das allerbeste aßen!

Auf der Rückfahrt hat dann das Klinger-Haus geöffnet. 1903 hatte der 1920 verstorbene Leipziger Symbolist Max Klinger – Maler, Bildhauer und Radierer sowie ein bestens verdienender Star seiner Zeit und eine europäische Berühmtheit – einen Weinberg in Großjena, direkt an der Unstrut, erworben, um dem Trubel der Großstadt bei Bedarf den Rücken kehren zu können. Dort oben, hoch über dem Fluss, richtete er sich außer einem komfortablen zweigeschossigen Wohnhaus auch ein separates Atelier speziell für seine Radierungen ein.

Wir besichtigen zunächst die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene, höchst geschmackvolle Ruhestätte des Künstlers und seiner Gattin – am Zugang der Anlage mit marmornen Porträtskulpturen der beiden auf Stelen sowie mit der von Klinger selbst geschaffenen Bronzeskulptur „Athlet“ direkt auf dem Grab. Das war Klingers ausdrücklicher Wunsch.

Auf dem benachbarten Weinberg, den Klinger ebenfalls erworben hatte, lädt heute ein hübsches Café mit vorzüglicher Aussicht bis hinüber zum Naumburger Dom und Sankt Wenzel zum Verweilen ein. Nach einem stärkenden Capuccino wechseln wir ins Klinger-Haus.

Dort werden wir über Leben, Liebschaften und Wirken Max Klingers umfassend informiert. Dessen künstlerische Nähe zu Zeitgenossen wie Arnold Böcklin und Alfred Kubin fasziniert uns. Gegenwärtig zeigt das Museum Klingers zehn Blätter umfassenden Zyklus von Federzeichnungen „Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet“, der von Schillers Ballade ebenso inspiriert ist wie von einer frühen unerfüllten Aufwallung Klingers, eine Frau betreffend.

Zu bewundern sind darüber hinaus unter anderem zwei raumhohe dunkelgrüne Öfen mit weißen Figurinen in reinstem Jugendstil, deren Kacheln Klinger eigenhändig geformt hat.

Auf der Rückfahrt gelingt es uns mit Hilfe unserer Pedelecs, auch noch den steilen Anstieg zur Burg Schönburg zu bewältigen, von wo aus ein weiter Blick auf die durch das Wethautal mäandernde Saale zu werfen ist.

*

Die Altstadt von Naumburg ist vom Wenzels-, Jakobs-, Marien-, Post- sowie Lindenring umschlossen, die am Kramerplatz ihren Start- und Zielpunkt finden. Auf dem Lindenring kann man nicht nur preiswert parken, sondern von diesem aus führt auch der kurze Steinweg direkt zum Dom. Auf diesem, daran erinnern wir uns vom Vortage von unserem Gang vom Dom in die Altstadt, betreibt ein Brater Thüringer Würste seinen Grill. Das wäre doch der geeignete Snack, um die heutige, mindestens zweieinhalbstündige Rücktour nach Berlin über Mittag ohne kulinarische Einkehr an einer Tankstelle zu überstehen. Gesagt, getan. Die Bratwürste sind so lala. Doch die reisebegleitende langjährige Dame des Herzens des Autors flaniert beim Verzehr derselben den Steinweg entlang und entdeckt, was wir am Vortag übersehen hatten: das kleine Schaufenster der Galerie Görl (Kunst – Antiquitäten – Design) und in demselben die eher unprätentiöse Mitteilung „Wir führen Originale von Max Klinger.“ Die wollen wir sehen, finden jedoch nur zwei, die uns nicht besonders beeindrucken. Was den Autor reitet, dem Galeristen Markus Görl vor dem Verlassen des Geschäftes die durchaus aufdringliche Frage zu stellen, woher er die Klinger-Originale denn habe, muss wohl tiefenpsychologischer Klärung anheimgestellt werden. Der Galerist seinerseits ist jedenfalls nicht pikiert, sondern erklärt zum einen, dass er Klinger seit Jahrzehnten auf Auktionen erwerbe, sammle und auch wieder in Handel bringe, und präsentiert zum anderen einige Kataloge mit den Klinger-Schätzen, über die er verfügt. Diese Überraschung endet mit dem Erwerb der reichlich morbiden Klinger-Radierung „Auf den Schienen“ (Vom Tode, Erster Theil, Opus XI, Blatt 8).

*

Selten war eine Stippvisite von lediglich anderthalb effektiven Tagen so erlebnis- und ergebnisreich wie diese.

 

* – Teil I dieser Reisenotizen ist im Blättchen 14/2024 erschienen.