15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

Erwin Kohlmann – Verspäteter Nachruf

von Hans-Peter Götz

Es war ja keineswegs so, dass Autoren aus dem Westen in der DDR nicht verlegt worden wären – im Gegenteil: Böll, Hemingway, Sartre, Moravia, Remarque und viele andere hatten ihre Auflagen. Allerdings waren die, obwohl man heute weiß, dass die DDR-Lizenznehmer nicht selten heftig mehr druckten, als mit den Lizenzgebern vereinbart war, gemessen an der Nachfrage immer zu niedrig. Das galt übrigens für nicht wenige sowjetische Schriftsteller – Tendrjakow, Rasputin, Schukschin, um nur drei zu nennen, – und DDR-Autoren wie Christa Wolf, Volker Braun und andere nicht minder. Deren Bücher waren Surrogat für vieles, woran es in der DDR mangelte – für nicht geführte offene Diskussionen über die gesellschaftlichen Probleme im Lande und für die geringe alltägliche Wahrhaftigkeit der Presse ebenso wie für die stark eingeschränkte individuelle Meinungs-, Rede- und Reisefreiheit und manches andere mehr. Zugleich waren diese Bücher, weil knapp, Bückware, die unter dem Ladentisch lag, und dorthin griffen – „bückten sich“ – die Buchhändler nur für auserwählte Kundschaft. Gehörte man nicht dazu, war die Jagd nach entsprechenden Titeln ausgesprochen frustrierend. Ein „guter Draht“ zu einem Buchhändler hingegen …

Es muss ein Samstag (von Montag bis Freitag studierte ich in Potsdam) im Herbst 1975 gewesen sein, als ich zum ersten Mal auf dem Marktplatz von Naumburg stand und – das Rathaus zur Linken, das Schlösschen vor der Stadtkirche von Sankt Wenzel, von dem ich in meinen insgesamt fünf Naumburger Jahren nicht erfuhr, dass es eines war, im Rücken – des Schaufensters der Buchhandlung von Erwin Kohlmann und seiner Frau gewahr wurde. Was mich an neuen Orten damals stets am meisten interessierte, waren die Buchläden. Nicht dass die Auslagen und Regalbestände sich von Ort zu Ort großartig unterschieden hätten, aber bisweilen wurde der beständige Jäger und Sammler doch durch unerwartete Funde überrascht und erfreut. Einen Versuch war es immer wert, und bei den Kohlmanns schon deswegen, weil das Geschäft auch eine antiquarische Abteilung beherbergte. Das verdoppelte gewissermaßen die Chance auf den Erwerb ersehnter Autoren und Titel.
Ob meine erste Visite bereits von irgendeinem Erfolg gekrönt war, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Meine Standardfrage „Haben Sie …?“ richtete sich in der Regel auf Titel von Autoren wie den eingangs erwähnten und führte ebenso in der Regel zu Verneinungen. Es war eigentlich nie etwas vorrätig – zumindest nicht für jemanden mit dem Malus eines Lauf- oder doch in jedem Fall unbekannten Neu-Kunden. Und meine Anschlussfrage, wann denn dieses oder jenes vielleicht möglicherweise …, wurde ein ums andere Mal mit einem Schulterzucken des Nichtwissens quittiert. Das wird bei den Kohlmanns nicht anders gewesen sein.
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Natürlich noch nicht gewusst habe ich seinerzeit, dass Erwin Kohlmann:
– der in DDR äußerst seltenen Spezies der privaten Buchhändler angehörte, die es noch schwerer als die staatlichen Buchhandlungen hatten, von den ewig unzureichenden Auflagen der begehrten Autoren ein Deputatchen auf, respektive unter ihre Ladentische zu bekommen;
– nach 1945 Aufträge seiner Mutter, Lebensmittel für die Familie auf dem Schwarzen Markt einzutauschen, nicht immer befolgt, sondern auch schon mal das wertvolle Tauschgut zum Erwerb eines historischen Kartenspieles verausgabt hatte, woraus im Laufe der Jahre eine beachtliche Sammlung resultierte, die der DDR manche begehrte Devise bescherte, weil sich Reprints aus dieser Sammlung, die Erwin Kohlmann später in einer Reihe „Historische Kartenspiele“ herausgab, sehr gut in den Westen exportieren ließen;
– nicht nur mit Büchern handelte, sondern auch ein jahrzehntelanger erfolgreicher Sammler von Erstausgaben war – der Travenschen in der Büchergilde Gutenberg der 20er Jahre ebenso wie diverser Werke Kästners und Tucholskys, um nur einige prominente Beispiele zu nennen;
– zusammen mit anderen gleich gesinnten Buchenthusiasten die Pirckheimer Gesellschaft gegründet hatte und über seinen Antiquariatsbuchhandel zum Beispiel dem Pirckkeimer-Bücherfreund Werner Klemke des Öfteren seltene Erstausgaben besorgte, wodurch er selbst im Gegenzug in den Besitz manch seltenen Klemke-Werkes gelangte, darunter sehr hübsche Originale der berühmten Deckblätter des legendären Magazins mit dem nicht minder legendären schwarzen Klemke-Kater;
– auch ein Liebhaber von Antiquitäten war, wobei in diesem Falle nicht von einfach altem Trödel die Rede ist, sondern zum Beispiel von barockem Porzellan und von zum Teil noch älteren Gläsern, die die Kohlmanns allerdings nicht in Vitrinen verstauben ließen, sondern durchaus als das nutzten, wofür sie einmal gedacht waren, als (noble) Alltagsgegenstände nämlich, was in einen Gast, der erfuhr, dass die Tasse, die er gerade zum Munde führte, ein sächsisches Produkt aus der Zeit Augusts des Starken war, durchaus einen Moment ehrfurchtsvoller Schockstarre fahren lassen konnte.
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All dies erfuhr ich im Laufe der Zeit und manches erst angelegentlich eines Jahre später erfolgenden Besuches im Naumburger Domizil der Kohlmanns. Wovon ich jedoch sehr schnell einen Eindruck gewann, dass war der höchst erfreuliche Sachverhalt, das beide Kohlmanns nicht nur mit Büchern handelten, sondern diese auch lasen – und Zeitgenössisches dabei durchaus an vorderer Stelle –, so dass sie auch höchst kompetente Gesprächspartner zum Thema Literatur waren. Für mich damals noch jungen Studierenden wurden sie darüber hinaus zu Ratgebern, die mir den Weg zu manchem Autor und manchem Buch erschlossen, der sich mir sonst womöglich nicht eröffnet hätte. Heinar Kipphardt gehört in diese Abteilung – und insbesondere sein „März“, den ich bis heute mit auf die Insel oder ins Exil nehmen würde, selbst wenn die Auswahl sich auf zehn Titel zu beschränken hätte.
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Jener ersten Samstag-Visite folgten regelmäßige weitere. Ich erarbeitete mir gewissermaßen einen Wiedererkennungswert bei den Kohlmanns, und diese honorierten meine Hartnäckigkeit – wenn auch nicht durch Bückware, so doch immerhin, indem ab und an das Wort an mich richteten. Wir kamen ins Gespräch – über Gott und die Welt und auch über Bücher. Heute bin ich mir fast sicher, dass ich damit so etwas wie einem Kohlmann-Kunden-Eignungstest unterzogen wurde, denn mit bestimmten Kunden war Erwin Kohlmann, nun sagen wir mal – eigen.
So eröffnete er mir in einem späteren, fortgeschritteneren Stadium unserer Beziehung seine grundsätzliche Aversion gegen einen speziellen Typ weiblicher Buchladenbetreter. Er nannten diesen Typ „Löckchen-Kunden“ und meinte damit Frauen – etwa ab vierzig aufwärts – mit onduliertem oder schwer dauergewelltem Kopfhaar, deren literarisches Interesse sich auf genau zwei Arten von Büchern beschränkte: Blumen- und Hunde-Bücher. Wahrscheinlich war Erwin Kohlmann Geschäftsmann genug, um den Verkauf auch solcher Bücher nicht grundsätzlich zu verweigern, obwohl ich mir da nicht völlig sicher bin. Es könnte auch sein, dass sich seiner Auffassung nach die Bezeichnung BUCH für bestimmte Inhalte eigentlich verbot und dass es ihn als gestandenen Buchhändler überdies beleidigte, wenn dergleichen auch noch in seinem Laden nachgefragt wurde. Hinzu kam: Wenn es in der DDR zwei Arten von Büchern gab, bei denen die Auflagen gemessen an der Nachfrage noch sehr viel unzureichender waren als bei den eingangs erwähnten Autoren, dann waren dies, man ahnt es schon – Blumen- und Hundebücher!
An jenem Samstagmorgen, als Erwin Kohlmann mir Einblick in seine Kundentypologie gewährte, betraten unmittelbar im Anschluss an seine Ausführungen zwei Damen das Geschäft, die haargenau dem soeben skizzierten Typ entsprachen. Möglicherweise war der Blick des Buchhändlers bereits auf die beiden gefallen, als sie noch die Auslagen durchs Schaufenster inspizierten, und dies hatte ihn in Erwartung des, wie er aus langjähriger Erfahrung wusste, nun zwangsläufig Folgenden zu seinen Erläuterungen animiert. Es lief dann wie nach Drehbuch:
„Haben Sie nicht etwas Schönes mit Blumen?“
„Leider nein.“
„Und über Hunde?“
„Desgleichen.“
Und weg waren sie wieder.
Der Kohlmann-Kunden-Eignungstest, zu dem offenbar nicht jeder zugelassen wurde, begann, ich erwähnte es bereits, mit Gesprächen über Gott und die Welt und auch über Bücher. Das war gewissermaßen Stufe eins. Die muss ich bestanden haben, denn irgendwann folgte Stufe zwei: Ungefragt empfahl Frau Kohlmann mir eines Tages das Buch eines ungarischen Autors, das und den ich bis dato noch nicht zur Kenntnis genommen hatte – „Das verschenkte Leben des Ferenc Makra“ von Ákos Kertész. Ich kaufte und las es, und es gab mir zu denken und war von daher anschließend ein guter Gesprächsstoff im Buchladen. (Ein Buch übrigens, das man auch heute noch empfehlen kann, wenn es darum geht zu zeigen, dass gesellschaftlich verordneter Konformismus und individuelle Selbstentfaltung einen im Wortsinne tödlichen Gegensatz darstellen können.)
Keine Ahnung, welche Figur ich auf Stufe zwei gemacht habe, aber ganz schlecht kann sie nicht gewesen sein, denn was folgte, war nicht Stufe drei, sondern eher schon so etwas wie eine Weihe, eine Vor-Aufnahme in den Kreis der Auserwählten. Ich hatte mir längst jenes stereotype Fragen nach Autoren wie den eingangs erwähnten abgewöhnt, da es nicht lohnte, der Kohlmanns Zeit mit dem Verneinenmüssen wegen Nichtvorrätigkeit zu vergeuden, als wiederum Frau Kohlmann an mich herantrat, ein Buch in der Hand, und mit einer gewissen Beiläufigkeit sagte, als wäre dies das Normalste von der Welt, sie hätten da gerade einen Titel hereinbekommen von Böll, Hemingway, Sartre …, ob mich dieser interessierte. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mich weder an Autor noch Titel erinnern kann. Aber das Ereignis an sich ist als überwältigend in Erinnerung geblieben. Die Tür zum Paradies hatte sich geöffnet, und sie schloss sich, solange mein Naumburger Intermezzo währte, nie mehr – im Gegenteil. Zunächst kam es immer mal wieder vor, dass sie oder er an mich herantraten, ein Buch in der Hand …, und irgendwann wurde ich schließlich vom Laden in den rückwärtigen Bereich gebeten. Dort lag auf einem Tisch ein Druckerzeugnis, von dem ich bis dahin zwar gerüchteweise gehört hatte, dessen ich aber noch nie angesichtig geworden war, geschweige denn, dass ich es in Händen gehalten hätte: das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Leipziger Ausgabe*. Darin wurden in wöchentlichem Rhythmus alle Neuerscheinungen sämtlicher DDR-Verlage versammelt. Und neben dem Börsenblatt lag ein Bleistift … Ich trat in den Kreis der Auserwählten ein.
*

1980 verließ ich Naumburg. Erwin Kohlmann ist 2001 verstorben. Ich habe ihn bis zu seinem Tode nicht wiedergesehen.

P.S.: Auch in den antiquarischen Kohlmannschen Beständen wurde ich immer wieder fündig. Einen Kauf allerdings habe ich mir aus finanziellen Gründen versagt. Irgendwann war die 20-bändige deutsche Pitaval-Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert im Angebot – bis auf einen fehlenden Band komplett und in ausgezeichnetem Zustand! Keine Erstausgabe und daher mit etwas über 200,- Mark der DDR ausgesprochen preiswert. Allerdings nicht für einen Studenten mit monatlich unter 200,- Mark Stipendium (inklusive Leistungsstip).
Den Verzicht habe ich lange bedauert. Bis heute bin ich nie wieder auf ein solches Angebot gestoßen.

* – Dass man das Börsenblatt seinerzeit ganz einfach abonnieren konnte, war nicht bis zu mir durchgedrungen.