Die Reden von Amtspersonen kommen uns allen wohl ziemlich stereotyp vor. Dabei sind die Politiker besonders stolz in der Annahme, sie hätten ihre Zuhörer mitgenommen. Hoppla, fragt sich da der Germanist, wohl auch der einfache Mensch, was mögen sie damit gemeint haben? Heißt mitnehmen nicht auf die Wache bringen, gefangen setzen, abführen, festnehmen und dergleichen? Und das sollte ein Politiker doch wissen.
Aber der ist unschuldig, hat nur anders gedacht und eben mitnehmen nicht für einen kriminellen, sondern beinahe fast schon durchgeistigten Vorgang benutzt. Ganz friedlich wollte er nämlich die Zuhörer mitnehmen zu seinen mehr oder weniger interessanten Ideen, sie aufrütteln, sich für die Ziele des Redners einzusetzen.
Man weiß nicht, was man bei dieser Bedeutungsmanipulation vom kriminell induzierten zum ideellen Mitnehmen mehr bewundern soll, die verbale Unbefangenheit oder den Mut zum Besonderen. Das drückt sich bei abholen, einen ebenso gern benutzten Begriff, ganz deutlich aus. Man will die Menschen nicht nur mitnehmen, sondern sogar abholen, und wagt sich tapfer mitten hinein ins Publikum zu den Zögernden, noch nicht ganz Überzeugten. Fragt sich nur, wohin? Dieses abholen ist ja nicht als soziale Hilfe in der Not gedacht, sondern als kräftige Unterstützung oder vielleicht besser Nötigung in Glaubens-und Verhaltensfragen. Und wer so liebenswürdig abgeholt wird, schuldet dem Abholer Dank, müsste eigentlich dessen Partei wählen …
Zu den Mitnehmern und Abholern gesellen sich sprachlich gern die Davonausgeher, die Umsetzer und Nachvollzieher. Was man nicht alles nachvollziehen kann, ohne etwas tun zu müssen! Natürlich könnte man auch etwas länger nachdenken, versuchen zu analysieren, zu begreifen zu verstehen oder gar zu therapieren. Stattdessen wird immer häufiger „Das kann ich nicht nachvollziehen.“ und dabei nicht selten ziemlich unsinnig. Wenn einer zum Beispiel die ständigen Verspätungen der Deutschen Bahn nicht nachvollziehen kann, dann soll er es doch lassen. Er muss es ja nicht!
Ich andererseits kann und will nicht nachvollziehen, warum das Wörtchen umsetzen eine noch steilere Konjunktur erlebt. Bei Umsetzen denke ich an gymnasiale Zeiten, als schlechte Schüler in der Klasse nach vorne und gute nach hinten umgesetzt wurden. Heutzutage besteht bei den tausend Plänen, die von Brüssel oder Berlin ausgeheckt werden, keine große Gefahr, dass sie tatsächlich verwirklicht werden. Meist wird solange darüber palavert, bis keiner mehr weiß, um was es eigentlich gehen sollte.
Merkwürdig auch, dass die Zeitgeister, Politiker und Medien ständig Vielfalt verkünden, tatsächlich aber bis ins letzte Provinzblättchen Einfalt zelebrieren. Bei der kürzlichen Jahrhundert-Hochwasserkrise hieß es in jedem Kommentar unisono: „Die Lage ist angespannt.“. Selbst wenn diese schon aussichts- oder hoffnungslos schien, war sie weder gefährlich, bedrohlich oder unbeschreiblich, sondern lediglich angespannt. Mich erinnert diese „Gleichschaltung“ fatal an das Propagandadeutsch unter Joseph Goebbels im Dritten Reich, als nach gewaltigen Bombenangriffen in allen Medien „nur leichter Sachschaden“ zu lesen war.
Inzwischen gibt es zwar ein ARD- Wetter-Kompetenzzentrum, aber leider noch immer kein Sprachkompetenzbüro. Das hätte möglicherweise so unsinnige Spielereien mit dem Sprachgut wie Krisenmodus verhindern können, eine Wortschöpfung, die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) gar zum Wort des Jahres (2023) kürte, statt darum zu kümmern, dass die Sprache im „Land der Dichter und Denker“ nicht immer weiter verhunzt wird.
Der stillose Umgang mit der deutschen Sprache hat auch durch die Genderei übel zugenommen, besonders eifrig geübt von zeitgeistbeherrschten Menschen jüngerer Natur, die ohnehin meist nur noch in Schlagworten miteinander verkehren. Ihnen käme wahrscheinlich ein Bestseller wie „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick so überflüssig vor wie ein Kropf. Aber auch der ebenso fleißig wie penetrant gendernde öffentlich-rechtliche Rundfunk interessiert sich wohl kaum mehr für das, was Mario Andreotti, Sprachprofessor an der Universität St. Gallen über die Bedeutung der Sprache sagt: „Unsere Sprache bestimmt nicht nur unser Denken und Handeln, sondern weitgehend auch […] unsere Weltsicht. Wer sich sprachlich nicht oder nur ungenügend äußern kann, wird seine Gedanken nicht ordnen und findet auch keine klare Sicht auf seine Existenz in dieser Welt.“
PS: Angesichts der hier nur skizzierten Misere sind Bemühungen wie jene der „Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres“ gar nicht hoch genug zu schätzen. Für 2023 fiel deren Wahl auf Remigration, was die Jury mit begrüßenswerter Klarheit folgendermaßen begründete: „Das Wort ist in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien sowie weiteren rechten bis rechtsextremen Gruppierungen zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden“ und werde „rechter Kampfbegriff, beschönigende Tarnvokabel und ein die tatsächlichen Absichten verschleiernder Ausdruck gebraucht“.
Schlagwörter: Deutsch, Gendern, Jürgen Brauerhoch, Sprache, Unwort, Wort des Jahres, Zeitgeist