27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Wenn das Volk nicht mehr so wählt, wie es soll …

von Horst Poldrack

Die Wahlen vom 09. Juni 2024 haben dem herrschenden Parteienblock einen heftigen Denkzettel gegeben. Wenn die Regierungskoalition bundesweit gerade einmal ein Drittel der Stimmen erreicht, wenn eine Neugründung wie das BSW aus dem Stand stärker als die etablierte FDP wird und in Sachsen und Thüringen doppelt so viele Stimmen erhält, wie Grüne und SPD zusammen, dann kommt das einem Erdbeben gleich.

Immerhin konnte die Union von der Schwäche der Ampelregierung profitieren und im Westen eine Mehrheit erreichen, aber im Osten landete die CDU abgeschlagen hinter der AfD. Auch die etablierten konservativen Parteien haben in wesentlichen Fragen, die die Menschen bewegen, keine echte Alternative zur Ampel-Politik zu bieten. Zumindest nicht in den Augen der meisten Wähler im Osten, was Themen wie den Krieg in der Ukraine, das Verhältnis zu Russland, Migration, Klimaschutz oder den neoliberalen Umbau der Gesellschaft betrifft. Die CDU ist zwar mit Plakaten in den Wahlkampf gegangen, auf denen zu lesen war „Machen statt Gendern“, aber das war vielen Wählern dann doch zu wenig und überdies vielleicht etwas zu populistisch.

Auch die CDU wird als Teil des neoliberalen Lagers gesehen, mit dessen politischen Grundkurs viele Bürger gerade im Osten nicht einverstanden sind. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, ist es ja gerade der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter, der vehement für immer weitere Waffenlieferungen eintritt und sich damit – so die Sicht vieler Ostdeutscher – für die Verlängerung eines Krieges engagiert, der die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung heraufbeschwört.

Es stellt sich die Frage, was steht eigentlich auf dem Denkzettel, den die Wähler der Politik gegeben haben? Glaubt man den Leitmedien, dann haben die Wahlen einen allgemeinen Rechtsruck in der Gesellschaft zutage gefördert. Der Wahlerfolg der AfD im Osten wäre nach dieser Lesart darin begründet, dass viele Wähler verkappte „Nazis“ sind und aus Protest oder aus Gesinnung rechtsradikal wählten, letzteres wegen einer geistigen Grundhaltung, die sie „natürlich“ aus der DDR-Diktatur in die bundesdeutsche Demokratie mitgebracht hätten. In dieses Horn stoßen geförderte Auftrags-Studien zum Autoritarismus der Ostdeutschen seit langem. Ich halte das für eine gravierende und kontraproduktive Fehleinschätzung. Die Sache ist komplexer und auch anders.

 

Es gibt in Deutschland keinen dramatischen Rechtsruck, sondern ein wachsendes Unbehagen der Bürger mit dem progressiv-neoliberalen Modernisierungskurs der Ampel

 

Die Wahlen haben keineswegs einen Rechtsruck in Deutschland zutage gefördert, sondern vielmehr den gewachsenen Dissens gegen die herrschende Politik offengelegt. Viele Wähler, die der Ampelregierung ihre Stimme verweigert haben, wehren sich per Votum gegen den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und gegen eine Regierungspolitik, die sie für stümperhaft und unerträglich halten. Zugleich ist deutlich geworden, dass junge Menschen nicht per se Sympathien für neoliberale Werte und postmoderne Parteien haben. Viele der Neu- und Jungwähler haben ihr Kreuz nicht bei den Grünen, sondern bei Parteien rechts der etablierten Mitte gemacht. Die Jungen wenden sich in weiten Teilen (minus 23 Prozent) von Parteien wie den Grünen ab, nicht deshalb, weil die Grünen für Klimaschutz eintreten, sondern weil man den Grünen diese primäre Kompetenz nicht mehr zuspricht und weil die Partei heute eher mit Kriegspropaganda und Gender-Lifestyle in Verbindung gebracht wird. Auch die Annahme, dass die Jugend quasi von selbst vom Geist des progressiven Neoliberalismus erfasst werde und Parteien wie den Grünen mit der Zeit gesellschaftliche Mehrheiten verschaffe, stimmt offenbar nicht.

 

In Deutschland vollzieht sich derzeit ein Wandel der politischen Kultur. Es formiert sich ein mentaler Konservatismus, der gegen den neoliberalen Zeitgeist aufbegehrt

 

Die Wahlen haben gezeigt, dass sich die politische Kultur in Deutschland verändert, jedoch nicht in dem Sinn, dass rechtsextreme Positionen in die Mitte der Gesellschaft wandern. Vielmehr bildet sich ein neuer Konservatismus heraus, der vom Widerstand gegen die Ampel-Politik katalysiert wird und der besonders in Ostdeutschland eine breite soziale Basis findet. Es ist ein spezifischer Konservatismus, der dem neoliberalen Modernisierungsprojekt mit seiner Kultur des Individualismus und seinen „progressiven Chimären“ wie Gendern und Wokeness ablehnend gegenübersteht. Dieser neue konservative Mindset ist weniger rechtsorientiert, sondern hat eher einen sozialen und demokratischen Kern. Er ist mit Werten wie soziale Gleichberechtigung, Gemeinschaftlichkeit und Gerechtigkeit verbunden und nicht zuletzt mit Präferenzen für Demokratie, auch in Ostdeutschland. Es ist nicht so, dass die Leute im Osten keine Demokratie wollen, sie haben nur eine andere Vorstellung davon.

Die Idee einer funktionierenden Demokratie ist im Osten nicht so stark mit dem Wirken von Parteien verknüpft wie im Westen, sondern stellt auf die unmittelbare Mitwirkung des Bürgers und die Herrschaft des Volkswillens ab, worauf der Soziologie Steffen Mau kürzlich hingewiesen hat. Es ist kontraproduktiv, wenn man die Ostdeutschen als demokratiebehinderte Spezies behandelt und ihnen erklären will, oft noch mittels geförderter, respektive finanzierter Kampagnen, dass die Demokratie eine gute Idee ist. Das erzeugt eher Irritationen, Frustration und das Gefühl von Demütigung. Denn der Osten ist in weiten Teilen nicht rechtsextremer als der Westen, sondern unzufriedener mit der politischen Entwicklung und deren Ausuferungen. Wenn viele Ostdeutsche heute die AfD wählen, dann nicht deshalb, weil die Partei rechts ist, sondern obwohl sie rechts ist. Die Mehrheit der Ostdeutschen ist weder rechtsradikaler oder extremistischer als Westdeutsche, aber sie hat gewiss mehr Dissens mit jenem Komplex von Neoliberalismus und Linksliberalismus, der im Namen von Freiheit und Fortschritt die Grundfesten der bisherigen Lebensweise umstülpen will.

Viele Ostdeutsche hadern mit der um sich greifenden Deregulierung der Gesellschaft, und sie sind unzufrieden mit dem politischen Grundkurs der Regierung. Dieser Dissens konnte in den letzten Jahren von der AfD vereinnahmt und dominiert werden, weil die etablierten Parteien dieses Feld der AfD überlassen haben. Darin besteht das Versagen des „demokratischen Parteienblocks“, insbesondere der Linken, die einmal die Volkspartei im Osten war. Mit dem Eintritt des BSW in die politische Arena hat sich die Lage verändert. Jetzt gibt es auch ein linkes Angebot für den konservativen Protest.

 

Der staatstragende Komplex von Manipulation, Propaganda und Informationspolitik verliert an Wirkung. Im Osten nähern wir uns einer Art von „medialer Herdenimmunität“. Viele Bürger haben mittlerweile ein generelles Misstrauen gegenüber allem, was von den Leitmedien und der Politik verkündet wird

 

Wenn man bedenkt, dass die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird, wenn man den chaotischen Wahlkampf und den vermeintlichen Spionage-Skandal um die Spitzenkandidaten Krah und Bystron in Betracht zieht, dann ist es erstaunlich, dass die AfD bei der Europawahl bundesweit noch vor der Kanzlerpartei auf Platz zwei landet und in Ostdeutschland sogar stärkste Kraft wird. Der rechtsradikale Ruf, der die AfD umgibt, schreckt viele Bürger offenbar nicht davon ab, diese Partei zu wählen. Weder das rechtsextreme Ansehen noch die medialen und politischen Kampagnen, die dieses Narrativ zu verstärken suchen, haben der Partei massiv Stimmen gekostet.

Im Vergleich zu Umfragen von 2023 hat sie sieben Prozent verloren. Die Medienkampagnen kommen nicht mehr durch. Es gibt eine Brandmauer zwischen dem Block der etablierten „demokratischen Parteien“ und der AfD, aber inzwischen gibt es auch eine tiefe Kluft zwischen Teilen des Volkes auf der einen Seite und den regierenden Parteien auf der anderen. Die AfD ist die Partei, die von dieser Entfremdung zwischen Regierung und Teilen des Volkes am meisten profitiert, denn es ist ihr gelungen, dem Protest eine Stimme zu geben und sich auf die Seite des frustrierten Demos zu stellen.

Hinzu kommt, dass es dem herrschenden Lager an inspirierenden Leitfiguren mangelt, die einen emotionalen Draht zum Bürger herstellen. Wenn weder der Kanzler noch die Außenministerin und auch nicht der Wirtschaftsminister, sondern der Verteidigungsminister der beliebteste Politiker ist, dann spricht das dafür, dass es an der Spitze keine „echten“ Identifikationsfiguren mehr gibt. Die Lage ist kritisch. Viele Bürger setzen inzwischen voraus, dass sie von der Politik und den Medien betrogen und manipuliert werden, sie hören nicht mehr hin und schalten auf Abwehr. Je häufiger eine Botschaft von den Medien verkündet wird, desto größer sind das Misstrauen und die Skepsis. Das System der Manipulation und Propaganda hat sich irgendwie festgefahren und in einer Falle gefangen. Es ist eine „Fake-News-Industrie“ entstanden, die immer mehr Menschen dazu bringt, den vier Eckpfeilern der öffentlichen Meinungsbildung zu misstrauen: den Massenmedien, den politischen Eliten, den kulturellen Protagonisten und den akademischen Experten. Damit ist ein fataler Verlust an eigener Urteilsbildung des Citoyens verbunden: Viele Menschen sind nicht mehr in der Lage, zwischen Fakten, Meinungen und Fiktionen zu unterscheiden.

Für den Normalbürger ist es in Anbetracht der Informationsüberflutung schwierig geworden, Falschinformationen zu erkennen und sich eine qualifizierte Meinung zu wichtigen Ereignissen zu bilden. Bei der Meinungsbildung ist er auf Expertise und „Fachleute“ angewiesen, aber genau diese „Experten“ sind es auch, denen er misstraut und von denen er glaubt, dass sie ihn desinformieren. Und je mehr die offiziellen Medien mittels interessengeleiteter Befragungen, gelenkter Talk-Shows und Expertisen die Meinungen der Bürger in Richtung einer bestimmten Diktion zu formen versuchen, desto größer wird das Unbehagen beim Bürger. Und je mehr Politik und Medien jene Menschen, die sich erlauben, eine andere beziehungsweise eigene Meinung zu haben, als rechts(extrem) und rückständig hinstellen oder gar in die Nähe von nationalsozialistischen Tendenzen rücken, desto größer wird die Entfremdung zwischen Oben und Unten. Kein Wunder, dass sich in der Bevölkerung medien- und expertenfeindliche Haltungen ausbreiten. Es sind besonders Menschen in den traditionellen Mittelschichten, die Aversionen gegen das herrschende politische und mediale Kartell und die zahllosen systemloyalen Experten aus den Denkfabriken entwickeln.

 

Wenn der Bogen der Propaganda überspannt wird und das einförmige Einerlei der „Wahrheitsverkündungen“ auf massive Abwehr stößt

 

Wenn früher galt, dass eine Lüge zur Wahrheit wird, wenn man sie nur oft genug wiederholt, so hat sich das heute in das Gegenteil verkehrt: eine als Wahrheit verkündete Information gilt vielen als Lüge, je öfter sie von jenen Leitmedien wiederholt wird, denen man grundsätzlich misstraut. Es hat sich ein Generalmisstrauen gegenüber allem breitgemacht, was von den Eliten und ihren Sprachrohren verkündet wird. Dieser Prozess ist fatal und mit einer sich beschleunigenden Umstellung der Mentalitäten „auf den Kult der Lüge“ verbunden, meint der spanische Journalist und Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet. Es ist zu befürchten, dass durch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz dieser „mentale Lügen-Kult“ weiter verstärkt wird. Denn in Zukunft werden diejenigen, die die künstliche Intelligenz kontrollieren, auch die Wahrheit kontrollieren und die Lüge, die als Wahrheit inszeniert wird. Kritische Denker wie Ramonet sehen in dieser tiefgreifenden Veränderung der „Art und Weise, wie wir kommunizieren und Informationen konsumieren“ einen Hauptgrund für die Schwächung der Demokratie. Wir stehen gewissermaßen an einem „mentalen Wendepunkt“. Über allem, was das System als Information verbreitet und als „Wahrheit“ verkündet, liegt der Generalverdacht der Lüge. Das Problem dabei, viele der Informationen, die von den Leitmedien verbreitet werden, sind seit geraumer Zeit so schlecht und daher offensichtlich frisiert, dass sich der Eindruck von Manipulation geradezu aufdrängt. Der springende Punkt ist nicht, dass der Verfassungsschutz und die Qualitätsmedien die AfD als rechtsextreme Bewegung einstufen und die Partei dennoch von vielen Menschen gewählt wird. Der springende Punkt ist, dass viele Menschen diesen Einschätzungen und Narrativen nicht mehr glauben, weil sie den Erzeugern dieser Informationen nicht trauen und all das mit Skepsis aufnehmen, was von dort kommt. Der springende Punkt ist nicht minder, dass das Unbehagen mit Parteien wie der AfD geringer ist als die Ablehnung und die Entfremdung zu den etablierten Parteien, die für sich reklamieren, als einzige für Demokratie und Menschenrechte einzustehen. So etwas nennt man wohl mentale Systemkrise.

Ausdruck dieser Krise ist, dass die „Demokratie im Westen“ an Zuspruch in der Bevölkerung verliert und die öffentlichen Medien als „staatstragende Institutionen“ in Verruf geraten sind. Besonders bei den Mittel- und Unterschichten schwindet das Vertrauen in das „demokratische Ideal“.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Es ist nicht die Demokratie, sondern es ist das Konstrukt der gemanagten Postdemokratie, das aus dem Ruder läuft und an dieser Misstrauens-Misere schuld ist. Es geht nicht darum, das derzeitige System der inszenierten Mediendemokratie zu verteidigen, sondern darum, eine funktionierende Demokratie wiederherzustellen, in der die Interessen des Wahlvolkes respektiert werden und in der sich aufgeklärte Bürger ihre eigene qualifizierte Meinung bilden (können) sowie aktiv am politischen Leben beteiligen. Das wird ein steiniger Weg. Die Demokratie hat viele Feinde, den rechten und linken Extremismus, die Verwahrlosung von Teilen der Gesellschaft, wahrscheinlich auch „ausländische Dienste“, die mit Spionage und Desinformation versuchen, „Einfluss auf demokratische Staaten zu nehmen und Wut und Hass zu säen und oder zu verstärken“ (Nancy Fraser). Aber der vermutlich mächtigste Gegner der Demokratie steht im Inneren und agiert aus dem Schaltzentrum der Gesellschaft. Es sind jene Netzwerke zwischen politischen Eliten, Staat, transnationalen Konzernen und Denkfabriken, die sich die Demokratie zur Beute gemacht haben und sie für ihre Zwecke missbrauchen.

 

Ein „weiter so“ ist gefährlich, vor allem für das neoliberale Lager

 

Wer Teile des Volkes, die gegen die herrschenden Eliten und deren Politik aufbegehren, als Nazis denunziert, der verharmlost nicht nur den Nationalsozialismus, der trägt auch dazu bei, dass sich Menschen von der offiziellen Politik weiter abwenden. Wer Wähler braun anmalt, weil sie mit der Politik unzufrieden sind und sich schlecht regiert fühlen, der verstärkt die Kluft zwischen Eliten und Volk.

Menschen vergessen viel, gerade in Zeiten der Informationsüberflutung. Aber es gibt Dinge, die vergessen die Wähler nicht so schnell. Dazu zählen die Demütigung und die als Wahrheit verkündete Lüge. Nach den Wahlen ist vor den Wahlen. In einer demokratischen Gesellschaft sind Wahlen ein wichtiges und probates Medium, durch das die Bürger ihre Wünsche, aber auch ihren Unmut zum Ausdruck bringen können. Es gehört zur Demokratie, dass die Herrschenden die Botschaften der Wähler inhaltlich verarbeiten und nicht nur über besseres Marketing nachdenken. Denn bei den nächsten Wahlen kann es ärger zugehen und das ganze politische Gefüge könnte ins Rutschen kommen. Es wird sich in den nächsten Monaten zeigen, ob und wie die bürgerliche Demokratie diese Nagelprobe besteht. Oder ist da etwas dran an dem Zitat, das Kurt Tucholsky zugeschrieben wird? „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“

 

Dr. habil. Horst Poldrack, Jahrgang 1950, Studium der Philosophie in Leipzig. Später unter anderem Research Fellow am Center for the Philosophy and History of Science in Boston 1981/82 und an der Akademie der Wissenschaften in Moskau 1986/87. Zuletzt bis 2011 als Trainer/Coach für Führungskräfte in China tätig. Der Autor lebt in Leipzig.