Wenn es Mai wird, gibt es im Lande Brandenburg was zu sehen. Seit 1999. An einem Wochenende zeigen bildende Künstler aller Geschlechter, was sie so produzieren. Das ist Mustermesse und gewaltige Heerschau, abzulesen schon am Personenregister: Der Katalog nennt weit über tausend Namen. Allein die Vielzahl zwingt zur Beschränkung. Unmöglich, die übers weite Land verstreuten Kunstproduktionsstätten aufzusuchen. Am besten, man konzentriert sich auf Orte, an denen sich viele Kunstschaffende zusammenfinden, um Tür an Tür zu malen, zu zeichnen, Steine zu behauen, Blech zu biegen, Papier zu falten, Schnüre zu knoten, zu töpfern, zu batiken, zu formen und zu performen …
Auf also beispielsweise nach Groß Glienicke in die Döberitzer Heide, auf halbem Wege zwischen Spandau und Potsdam im Havelland gelegen. Wer sich ein wenig mit der Historie auskennt: In dieser Gegend befindet sich seit über zweihundert Jahren ein Truppenübungsplatz. Dessen Fläche wurde reduziert, als die Sowjets 1992 aus Dallgow-Döberitz abzogen. Jetzt sind das an die 5000 Hektar Naturschutzgebiet, nur auf einem reichlichen Zehntel dieses Areals wird weiterhin scharf geschossen und Bundeswehr-Räder mahlen den märkischen Sand. So überrascht denn nicht, dass der Musentempel in der Waldsiedlung Neues Atelierhaus Panzerhalle heißt.
Die Waldsiedlung ist weitab vom Schuss und besteht aus einigen Backsteinbauten, übriggebliebenen Kasernen, und einem sogenannten Villenpark mit etwa zweihundert nicht ganz billigen Parzellen und Eigenheimen. Im restaurierten Kasernenkomplex aus den zwanziger Jahren arbeitet das Landesumweltamt, es gibt ein Seniorenheim und eine Flüchtlingsunterkunft. Und das Atelierhaus Panzerhalle, was insofern eine irreführende Bezeichnung ist, als es sich um einen zweigeschossigen Flügel im Kasernenblock 5 handelt. (Die Panzerhalle, in der man sich in den frühen Neunzigern zusammenfand, war 2007 abgerissen worden.)
In Haus 5 trampelten einst tausende Soldatenstiefel treppauf und treppab, was man den ausgetretenen Steinstufen ansieht. Da und dort hängt noch eine Sirene an der Wand und an jedem Fenster die handschriftliche Aufforderung, es nachts zu schließen: „Bis Anfang Oktober Fledermauseinflug“.
Eingangs kann man auf mehreren Schautafeln die Historie der nunmehr entmilitarisierten Landschaft und die Intentionen des 1998 gegründeten Fördervereins Atelierhaus Panzerhalle e. V. studieren.
Die Ateliernutzer, die Besucher mit Nüssen, Kuchen, Möhrchen oder Bonbons erwarten, präsentieren sich und ihre Kunstwerke. Die sind von unterschiedlicher Qualität, das gilt auch für das handwerkliche Können. Ein reichliches Dutzend Künstlerinnen fragt auf einem Faltblatt, ob sie „angesichts von Krieg, Pandemie, Klimawandel, Identitätskrise, weltweitem Demokratieschwund“ einfach weitermachen können wie bisher. Was sie vorher gemacht haben und in welcher Identitätskrise sie sich befanden, weiß ich nicht. Aus der rhetorischen Frage schließe ich jedoch, dass sie nunmehr etwas anders machen wollen. Sich stärker an der Wirklichkeit reiben, gesellschaftliche Themen und nicht den eigenen Nabel bearbeiten? Gar politisch werden?
Belege dafür finden wir in den zwei Etagen kaum. Als ich vor einem Gemälde stehe, auf dem ein Frachter auf blauen Wellen schaukelt, erzählt die Malerin, sie sei auf dem Schwarzen Meer unterwegs gewesen, wo ihr dieses Schiff begegnet ist, in dem, so vermutete sie, ukrainisches Getreide durch den Bosporus befördert wurde. Ukrainisches Getreide, Sie verstehen?
Ach ja. Woran sehe ich das? Und das ist also politisch?
Aber ja doch …
Auf dem Gang treffen wir auf eine Besuchergruppe, die interessiert vor einer Galerie steht und andächtig lauscht. Fotos und Devotionalien an der Wand gehören der Künstlerin, die jedes Element aus ihrem Familienalbum wortreich und lautstark kommentiert. Gestus und Beschreibungen passen zu einer pensionierten Kunsterzieherin aus dem Westen Berlins auf Selbstfindungstrip, aber ich bin vielleicht Opfer meiner Vorurteile. Im ersten Bilderrahmen steckt ein bestickter Stoff, dazu steht in schöner Schrift: „Das ist die ‚schöne Bluse aus Bulgarien’. Mutter trug sie, als ich gezeugt wurde.“ Drei Bilderrahmen weiter: Kinderwagen vor Trümmerlandschaft. „Der Russe kommt. 1945“. Hm, was ist daran Kunst? Die kalligrafische Beschilderung?
Wir stecken da und dort unsere Nasen in Zimmer, die als Ateliers deklariert sind. Draußen an der Tür steht der Name, drinnen findet man eine Werkstatt oder ein Wohnzimmer vor, je nachdem, wer hier tätig ist. In nahezu jedem Raum steht ein Sofa. Kunstmachen strengt augenscheinlich an, weshalb man sich öfter ausruhen muss. Wir laufen an Pflastersteinen in Schweinedärmen vorbei, an dekorativen Papierarbeiten und bunten Studien, manche Türen sind verschlossen. „Bitte nicht stören“ steht unter einer Collage, auf der eine blaue Katze mit Zipfelmütze schreitet. L’art pour l’art eben. In einem Rahmen schließlich ein Dutzend Köpfe an der Flurwand, farbige Radierungen, beigefügt eine Erklärung, die die skurrilen Antlitze ideologisch auflädt: „Frühstück an der Mauer und die Stasi war dabei. Eine künstlerische Auseinandersetzung über Freundschaft in der Diktatur.“ Wo verläuft die Grenze zwischen politischer Kunst und mainstreamtauglicher Agitation?
Wir verlassen ein wenig verwirrt das Atelierhaus Panzerhalle und fahren weiter nach Potsdam. Neben dem Turm der Garnisonkirche steht das ehemalige Rechenzentrum aus DDR-Tagen, das dem Kirchenneubau weichen sollte, aber durch kollektiven Widerstand gerettet wurde. Im nunmehrigen Kunst- und Kreativhaus RZ gibt es über zweihundert Räume, die von etwa dreihundert Kreativen genutzt werden. Zumindest bis 2026. Danach muss man sehen, was wird. Die preisgünstigen Ateliers verteilen sich über fünf Etagen, in den Treppenfluren hängen farbige Porträtfotografien jetziger und früherer Mieter. Gleiche Situation wie in der Panzerhalle. Aber nicht nur die größere Menge neugieriger Besucher und Künstler macht den Unterschied. Es geht quirliger und professioneller zu. Allerdings dominiert auch hier Dekoratives. Kein Banksy, keine Provokation. Gesellschaftliche Reibung, politische Signale sind kaum feststellbar oder derart verquast-verschlüsselt, dass man die Botschaft kaum wahrnimmt. Kermit, der Frosch aus der Muppet Show, in Serie und im Zeitgeist: mal mit gestrecktem rechtem Arm, mal als Clown, mal als abgehobener Neureicher … Ein serieller Witz halt.
In einem Raum sehe ich nur Bäume auf Leinwand und Papier. Das sei doch provokant und gesellschaftskritisch, reagiert die Künstlerin auf meine vorsichtige Einlassung, dass nach meinem Eindruck die Entpolitisierung in der bildenden Kunst auffällig zugenommen habe.
Das müsse ich doch sehen! Ich sehe nur grüne Bäume, antworte ich in orthodoxer Einfalt. Ob ich schon mal in Süditalien gewesen sei, in der Region Basilikata, wo ihr Mann herkomme. Dort herrsche apokalyptische Trockenheit wegen des Klimawandels.
Und dagegen schwingen Sie protestierend Ihren Pinsel und malen darum grüne Bäume? lasse ich meiner Ironie freien Lauf. Sie lächelt, weil sie mich so missversteht wie ich ihre Botschaft.
Vom Hof dringt der Gesang eines dadaistischen Chores herauf. Hübsch hier. Und alles so schön bunt und kreativ. Unten umrunden wir den Würfel der DDR-Moderne, an dessen Sockel Kunst am Bau zu sehen ist. Wie Walter Womackas Bauchbinde am Berliner Haus des Lehrers zeigen hier achtzehn farbige Mosaiken den technischen Fortschritt und den optimistischen Aufbruch in eine neue Zeit. Anders als am Alex befindet sich der Betrachter auf Augenhöhe mit den dargestellten Personen. 1977, gerade einmal fünf Jahre alt, wurde der Zyklus von Fritz Eisel unter Denkmalschutz gestellt. Diese Entscheidung wurde 1991 explizit bestätigt und rettete möglicherweise das ganze Haus vorm Abriss, denn das Gebäude selbst ist nicht geschützt und sollte wie andere Zeugnisse der DDR-Moderne getilgt werden.
Auf einem der drei mal drei meter dreißig großen Bilder findet sich ein Zitat von Karl Marx aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58, einer Vorarbeit zum „Kapital“. Ausgerechnet dieses Bild ist den Blicken verborgen. Abgedeckt. Natürlich um es zu schützen, während an der Garnisonkirche gebaut wird. Aber man kennt den Marx-Spruch hinter der Plane. „Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion – materieller oder geistiger. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiedenen Zweige der Produktion bleibt erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“
Okay, sagt mein Mann. Wir produzieren also noch immer genug Weizen, damit auch solche Kunstwerke, wie wir sie heute sahen, hergestellt werden können. Soll doch jede und jeder nach seiner Fasson selig werden. Wir sind schließlich in Preußen.
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