von Gabriele Muthesius
Wer immer noch meint, dass Geheimdienste in demokratisch verfassten Staaten eine Daseinsberechtigung, wohl gar eine Mission („Schutz der Demokratie“) zu erfüllen haben, der lese Peter-Ferdinand Kochs jüngst erschienenes Buch „Enttarnt“. Und wer sich davon nicht eines Besseren belehren lässt, der darf fürderhin zu Recht das Gütesiegel „Unbelehrbar“ für sich in Anspruch nehmen, denn was der Autor da an Geheimdienstgeschichte, -geschichten und -geschichtchen aus dem deutschsprachigen Raum ausbreitet, ergibt ein wahrhaft gruseliges Pandämonium.
Zu den besonderen Scheußlichkeiten zählt dabei der Sachverhalt, dass sowohl die Organisation Gehlen wie auch der aus ihr hervorgegangene Bundesnachrichtendienst (BND) ohne jegliche moralische Skrupel Personal rekrutierten, das sich seine Qualifikation und seine beruflichen Meriten in einschlägigen Körperschaften des Dritten Reiches erworben hatte, ob sie nun Reichssicherheitshauptamt (RSHA), SD, Gestapo, Abwehr oder anders hießen. In den 50er Jahren und darüber hinaus arbeiteten laut Koch bis zu 200 ehemalige Angehörige des RSHA für die Organisation Gehlen und den BND. Dazu gehörte zum Beispiel SS-Oberscharführer Karl-Josef Silberbauer, nachmals Polizeiangehöriger in Wien, dessen Name wohl längst in Vergessenheit geraten wäre, hätte er nicht als SD-Scherge im August 1944 in Amsterdam Anne Frank und ihre Familie verhaftet und der Mordmaschine des Holocaust überantwortet. Ironie der Geschichte: Unter den in den BND integrierten Alt-Kadern waren auch etliche, die zuvor in sowjetischer Gefangenschaft „umgedreht“ worden waren und nun für Moskauer Dienste arbeiteten. So Ex-SS-Obersturmführer Heinz Felfe, beim BND zum Zeitpunkt seiner Enttarnung sinnigerweise Leiter des Referats „Sowjetunion“ („Gegenspionage“); ihm vertraute der Gründer und erste BND-Chef Reinhard Gehlen – selbst ein Alt-Kader: von 1942 bis 1945 Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“ des deutschen Generalstabs – blind, und zwar so sehr, dass Gehlen andere BND-Mitarbeiter, die Verdacht gegen Felfe äußerten, als „Landesverräter“ hinter Schloss und Riegel bringen ließ. Im Übrigen war der BND mit seiner Praxis, bevorzugt ehemalige Nazis zu rekrutieren, kein Ausnahmefall sondern eher die Regel; dazu Autor Koch: „SS-Angehörige, Todesurteile fällende NS-Richter, Hitler vergötternde NS-Journalisten, NS-Ärzte, NS-Offiziere oder NS-Bürokraten – die Bundesrepublik Deutschland trat stillschweigend das braune Erbe an …“
Kochs Buch ist eine aufschlussreiche Lektüre nicht zuletzt deshalb, weil er an Denkmälern rüttelt – etwa an dem des Magazins Spiegel als Flaggschiff des investigativen Journalismus in der Bundesrepublik. So hatte der Nimbus des Spiegel seinen Ursprung in einer 1949/50 publizierten 29-teiligen Serie mit dem Titel „Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“. Das Material dafür hatte im Wesentlichen der ehemalige SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner geliefert, und die Serie selbst war weniger investigativ als vielmehr ein Stück beschönigender Vergangenheitsbewältigung, denn es wurde „zugleich nebenher ein… Teil der SS von ihren NS-Verbrechen ‚gereinigt’“. Und das blieb kein singulärer Fall. Das Magazin kooperierte mit weiteren Tätern aus der Nazi-Zeit oder eröffnete diesen gar Chancen für eine Nachkriegskarriere. Als Informant agierte laut Koch zum Beispiel auch SS-Brigadeführer Franz Alfred Six, im SD für Propagandaaktionen in Sachen „Judenfrage“ zuständig. Durch Six wiederum kamen die SD-Kameraden und SS-Hauptsturmführer Horst Mahnke und Georg Wolff zum Spiegel. Der eine, Mahnke, schaffte es bis zum Ressortchef Internationales/Panorama, der andere wurde Auslandschef und stellvertretenden Chefredakteur des Magazins. Damit nicht genug: „Über den Spiegel betrieben SS-Angehörige ihre öffentliche Rehabilitierung …“ Auch Spiegel-Gründer Rudolf Augstein selbst erwarb sich in diesem Zusammenhang höchst zweifelhafte Meriten. Ernst Kaltenbrunner etwa, der Nachfolger Heydrichs an der Spitze des RSHA und in Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher gehängt, war in der Charakterisierung von Augstein ein „Mann mit Manieren“ und ein „glänzender Logiker“. Zugleich denunzierte der Spiegel Zeitgenossen, die den Amerikanern beim Aufspüren von Nazi-Funktionsträgern behilflich waren, und erreichte dabei, so Koch, „das Niveau des ‚Stürmer’“.
Mit dem Vermögen zum Investigativen war es im Übrigen auch ein paar Jahre später noch nicht weit her. So brachte der Spiegel im Jahre 1954 eine Titel-Story über Reinhard Gehlen. Im Vorfeld war es zu einer von Mahnke vermittelten Begegnung zwischen Autor Hans Detlev Becker und Gehlen gekommen, der sich nach der Veröffentlichung ausdrücklich beim Autor bedankte. Der allerdings war Gehlens eigener Legendenbildung so weit auf den Leim gegangen, dass sich der Spiegel viele Jahre später von maßgeblichen Inhalten des betreffenden Beitrags quasi selbst distanzierte – in einer Serie „Pullach intern“, an der als damaliger Spiegel-Redakteur auch Peter-Ferdinand Koch mitwirkte.
Apropos Spiegel und Organisation Gehlen sowie BND: Praktisch bis weit in die 60er Jahre hinein bediente und benutzte man sich gegenseitig. Dabei überließ Gehlen nichts dem Zufall – Mahnke beispielsweise stand hauptberuflich auf seiner Gehaltsliste. Kooperiert haben beide Seiten auch bei einem Beitrag des damaligen Redakteurs und späteren Regierungssprechers Conrad Ahlers mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ im Oktober 1962; der Beitrag erschien erst, nachdem er vom BND abgesegnet worden war. Und er löste die legendäre Spiegel-Affäre aus, die zu einer Razzia der Bundesanwaltschaft in der Spiegel-Redaktion, zur Verhaftung von Ahlers und Augstein und nachfolgend zur ersten Staatskrise der BRD und zum Sturz des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß führte. Die Affäre beförderte im Übrigen die Nähe des Nachrichten-Magazins zum BND weiter: „Jeder Redakteur wollte mit Pullach irgendwie verschmelzen, jeder. Denn nur dort gab es die ‚heißen Geschichten’. Wer geheimdienstliches Material exklusiv in Händen hielt, durfte fortan mit Gehaltserhöhungen rechnen.“
Das andere Monument, an dem Autor Koch rüttelt, ist das des langjährigen Chefs der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA), Markus Wolf. Der habe bei der Rekrutierung von Top-Spionen, so im Fall des Verfassungsschützers Klaus Kuron, keineswegs immer das ihm zugeschriebene geheimdienstliche Genie gezeigt. Und Aufbau sowie Leistungsfähigkeit der HVA schreibt Koch ganz wesentlich dem in der Öffentlichkeit kaum bekannten Stellvertreter Wolfs, Hans Fruck, zu – verurteilter kommunistischer Widerständler im Dritten Reich und MfS-Führungskader der ersten Stunde. Fruck war auch der „Erfinder“ der „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) genannten Formation, die unter Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski für die DDR dringend benötigte Devisen beschaffte und Geschäftspartner im Westen geheimdienstlich abschöpfte: „Ein Konzept, das sich als nachrichtendienstlicher Klassiker herausstellen sollte.“
Als wenn auch nicht auslösendes, so doch verstärkendes Moment für die geheimdienstliche Tätigkeit der DDR benennt Koch im Übrigen die historische Entwicklung: „Mit Errichtung der DDR im Oktober 1949 fielen antikommunistische Rechthaber aus dem Westen in Massen in den deutschen Rumpfstaat ein, aufgestachelt von rund 50 geheimdienstlichen Organisationen … Sie alle wollten dasselbe: Ulbrichts Gebilde in die Knie zwingen … Die ‚Expansion’ des MfS war lediglich die Reaktion auf diese gigantische Invasion.“
Peter-Ferdinand Koch: Enttarnt. Doppelagenten: Namen, Fakten, Beweise, Ecowin Verlag, Salzburg 2011, 472 S., 24,90 Euro
Schlagwörter: BND, Peter-Ferdinand Koch, Reinhard Gehlen, Rudolf Augstein, Spiegel