27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Zeitenwende chinesisch

von Wolfram Adolphi

Am 7. März 2024 brachte die chinesische Website chinatoday.com.cn in ihrem deutschsprachigen Teil „China heute“ eine kurze Meldung des Inhalts, dass der chinesische Außenminister Wang Yi „im Rahmen der zweiten Tagung des 14. Chinesischen Nationalen Volkskongresses (NVK)“ gegenüber der Presse erklärt habe, dass „der Aufbau einer Gemeinschaft der Menschheit mit geteilter Zukunft […] von einer chinesischen Initiative zu einem internationalen Konsens geworden“ sei.

China habe „von der bilateralen zur multilateralen, von der regionalen zur globalen Ebene und von der Gesundheit bis zum Internet und den Ozeanen […] mit Dutzenden von Ländern und Regionen in einer Vielzahl von Bereichen verschiedene Formen der Gemeinschaft mit geteilter Zukunft aufgebaut“, und dieses Herangehen sei „in den Resolutionen der UN-Generalsversammlung sowie in den Resolutionen und Erklärungen multilateraler Mechanismen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und der BRICS-Länder mehrfach festgeschrieben worden“. Als Grundregel der „Gemeinschaft der Menschheit mit geteilter Zukunft“ gelte, „dass alle Länder, unabhängig von ihrer Größe und Macht, gleichberechtigt am Prozess der Multipolarität teilnehmen, ihre Rechte wahrnehmen und eine Rolle spielen“ können. „Geteilt“ ist folglich im Sinne des englischen „shared“ – also im Sinne von „gemeinsam“ – zu verstehen und nicht im Sinne von „divided“.

In einer zweiten Meldung zur gleichen Pressekonferenz wird Wang Yi mit der Auffassung zitiert, dass die „Weltlage […] sich tiefgehend gewandelt“ habe und China sich „angesichts des komplizierten internationalen Umfelds […] entschieden zur Kraft des Friedens, der Stabilität und des Fortschritts in der Welt“ entwickele. In diesem Sinne habe es 2023 „Lösungen für verschiedene Krisen und Herausforderungen angeboten“ und „Beiträge zur Förderung des Weltfriedens und der Entwicklung geleistet“.

Zu zwei Ländern äußerte sich Wang Yi im Einzelnen. „China und Russland“, meinte er, hätten ein „neues Paradigma für die Beziehungen zwischen Großmächten geschaffen, das sich völlig von der alten Ära des Kalten Krieges unterscheidet“. Beide Seiten würden „das internationale System mit den Vereinten Nationen als Kernstück schützen und regionale und globale Sicherheit und Stabilität aufrechterhalten“. Und an die USA gerichtet formulierte er die Forderung, „Chinas Entwicklung objektiv und rational zu betrachten und ihre Verpflichtungen in Wort und Tat einzuhalten.“

Die Äußerungen des Außenministers spiegeln das Grundverständnis der chinesischen Führung, wonach nicht – wie es in den Führungen von NATO, EU und Deutschland gesehen wird – der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 für eine Zeitenwende stehe, sondern vielmehr das Ende der Ost-West-Blockkonfrontation 1989/90. Da – in den Jahren 1989/90 – sei aus der bipolaren Welt eine multipolare geworden, habe ein fundamentaler Umbau der Welt begonnen, mit dem die Dominanz einzelner Staaten oder Militärblöcke zu Ende gehe.

Der deutsche Machtblock mit der ihm angehörenden Leitmedienwelt hat sich entschieden, solcherart Weltbetrachtung nichts abgewinnen zu wollen. Er ist davon überzeugt, dass er dem Entstehen der in China und vielen anderen Ländern konstatierten und gewollten Multipolarität mit Ausrufung einer neuen Blockkonfrontation zu begegnen habe. Es stünden sich jetzt – so diese Lesart der Welt – die Pole „Demokratie“ und „Autokratie“ als Blöcke gegenüber, China gehöre zum Block der „Autokratie“, und darauf müsse die „Demokratie“ mit beschleunigter Aufrüstung, Stärkung und Erweiterung der NATO, Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU und „Unabhängigmachung“ der Wirtschaft antworten. Die Begleitmusik dazu sind Pflege des westlichen Überlegenheitsdünkels auf der einen und Produktion von ins Maßlose ausgreifenden Feindbildern auf der anderen Seite.

Nun denn. Das kann man machen – aber es ist der alte Wein in alten Schläuchen, und derweil  dreht sich die Welt ungerührt weiter. Sie sieht völlig anders aus als vor 69 Jahren, da der globale Süden auf der Konferenz von Bandung 1955 als Bewegung der Nichtpaktgebundenen unter Einschluss der VR China das erste Mal kompakt seine Stimme für Frieden und Blocküberwindung erhob. Das konnte der damals ökonomisch haushoch überlegene, den weit überwiegenden Teil der Erde politisch und militärisch beherrschende Westen noch dreist ignorieren.

Jetzt aber sind der Anteil des Westens an der wirtschaftlichen Gesamtleistung der Weltbevölkerung und der des globalen Südens an dieser Gesamtleistung auf etwa gleichem Niveau – der Anteil des Westens in absteigender, der des Südens in aufsteigender Kurve. Und alle gemeinsam sind als Menschheit bedroht vom Klimawandel und einer Ressourcenknappheit, die längst auch Wasser und Luft erfasst hat – wobei die Folgen beider Entwicklungen im globalen Süden schneller und härter zu spüren sind als anderswo.

Es ist daher hohe Zeit, die chinesischen Vorschläge für die Welt zur Kenntnis zu nehmen und in diesen menschheitlichen und weltpolitischen Rahmen zu stellen. „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ forderte der chinesische Revolutionär und Reformator Deng Xiaoping, der 1978 die umfassende Modernisierung Chinas einleitete, und das scheint nützlich auch fürs Begreifen dieser Zeit: Auf das Ende der Blockkonfrontation 1989/90 reagierten die USA und die NATO 1991 mit dem Krieg gegen den Irak und 1999 mit dem Krieg in Jugoslawien; von 2001 bis 2021 führten sie zwanzig Jahre lang unter der Flagge „Krieg gegen den Terror“ Krieg in Afghanistan mit dem Ergebnis, dass es Afghanistan schlechter geht als zuvor und ein Ende des Terrors nicht abzusehen ist. Und groß ist die Zahl der weiteren Kriege und Probleme, für die die neue Blockkonfrontation keinerlei Lösungen bereithält: Nahost, Jemen, Syrien, Libyen, Irak, Sudan, Mali, das Schicksal der Kurden, die Zukunft Zentralasiens. Und China? Das statt auf Blockkonfrontation auf eine „Gemeinschaft der Menschheit mit geteilter Zukunft“ setzt? Es war und ist an keinem dieser Kriege beteiligt.

Müsste das nicht auch in Europa als Chance gesehen werden? Nein, sagt der Machtblock, China stehe im Ukrainekrieg auf der falschen Seite. Tut es das? Es hat Vorschläge zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes und Aushandlung eines dauerhaften Friedens unterbreitet, die sich auf eine nüchterne Würdigung der geopolitischen Dimension des Konflikts und der Interessenlagen der beteiligten Seiten gründen. Ein solches Herangehen galt selbst in der Blockkonfrontation des Kalten Krieges als normal. Und es muss auch jetzt wieder normal werden, denn sonst werden die Kriege endlos sein.

Die Welt dreht sich. Das zu begreifen, ist der Westen ihr schuldig.