27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Die fragwürdige Schelte der Professoren

von Wolfgang Schwarz

Putin-Brandbrief erschüttert SPD

Headline BILD (26.03.2024)

 

Historiker rechnen mit der Russlandpolitik der SPD ab

Headline Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.03.2024)

 

William Ury ist Professor an der Harvard Law School in den USA. International bekannt wurde der Konfliktforscher und Verhandlungsexperte durch das sogenannte Harvard-Konzept zum Konfliktmanagement, das als Methode unter anderem in den Camp-David-Verhandlungen eingesetzt wurde. Die führten bekanntlich zum Frieden zwischen Ägypten und Israel, der inzwischen 45 Jahre Bestand hat.

Ury selbst war in den vergangenen Jahrzehnten als internationaler Vermittler bei der Beendigung des Bürgerkrieges in Kolumbien ebenso tätig wie zwischen der russischen und der tschetschenischen Regierung und bei anderen Konflikten.

In die Schlagzeilen geriet der Havard-Professor, als US-Präsident Joe Biden jüngst öffentlich mit Urys neuestem Buch – „Possible: How We Survive (and Thrive) in an Age of Conflict“ („Möglich: Wie wir in einem Zeitalter des Konflikts überleben [und gedeihen]“) – gesichtet wurde. Kurz vor dessen jüngster Rede an die Nation.

Zur Frage, wie eine nukleare Eskalation zwischen Russland und dem Westen abgewendet werden könnte, vertritt Ury diese Auffassung: „Die erste Regel lautet: Wenn man ein Problem mit seinem Nachbarn hat, kappt man nicht die Telefonleitung. Und genau dazu neigen wir. Doch die Wahrheit ist: Je mehr Konflikte wir haben, desto mehr müssen wir in internationalen Angelegenheiten miteinander reden.“

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In die Schlagzeilen hierzulande geriet dieser Tage ein Brandbrief vom 20. März 2024 an den Parteivorstand der SPD. Verfasser: fünf der SPD angehörende Professorinnen und Professoren, von denen allerdings nicht bekannt ist, dass sie über praktische Erfahrungen im internationalen Konfliktmanagement verfügten.

Nach Medienberichten initiiert hat den Offenen Brief Martina Winkler, Historikerin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Besondere politische Brisanz jedoch erhielt das Schreiben durch die Mitunterzeichnung von Heinrich August Winkler (nicht verwandt mit der Initiatorin). Der sei „einer der wichtigsten Historiker des Landes“, „Historiker-Koryphäe“, „einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Gegenwart“ (O-Ton Süddeutsche Zeitung und zwar in einem einzigen Beitrag vom 27.03.2024) sowie seit 60 Jahren selbst Mitglied der SPD. Er soll die ihm unterbreitete Fassung des Offenen Briefes, wie die FAZ erfahren haben will, „sogar verschärft haben“.

Zu Beginn lesen die Verfasser Bundeskanzler Olaf Scholz die Leviten: Im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine sei „die Abstimmung mit den Verbündeten unzureichend“. Es sei „nicht hilfreich, öffentlich und noch dazu unabgestimmt zu erklären, was Deutschland auf keinen Fall zur Unterstützung der Ukraine tun werde“. Das bezieht sich übereinstimmender Interpretation in den Mainstreammedien zufolge vor allem auf Scholzens klare Ansage: „Als deutscher Bundeskanzler werde ich keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden.“ Das war unmittelbare Reaktion auf Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der auch den Einsatz westlicher Bodentruppen aufseiten Kiews nicht ausgeschlossen sehen will. Macron hatte dies, um in der Diktion der Briefschreiber zu bleiben, „öffentlich und noch dazu unabgestimmt“ auf einer Ukraine-Konferenz in Paris erklärt. Verwunderlich ist daher, dass die fünf Professoren ihren Vorwurf einer unzureichenden Abstimmung an Scholz statt an Macron richten. Völlig ignoriert wird in deren Brief in diesem Zusammenhang überdies Scholzens Begründung: „Wir wollen nicht, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato wird.“ Dieses Eskalationsrisiko sehen die Briefschreiber entweder nicht – das wäre dann jene „Realitätsverweigerung“, die sie dem SPD-Vorstand in ihrem Schreiben vorwerfen – oder sie nehmen es sehenden Auges in Kauf. Eine Bewertung dazu folgt am Ende des vorliegenden Beitrags.

Als nächster bekommt der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, sein Fett weg. Dass der „von einem ‚Einfrieren‘ des Ukraine-Konflikts gesprochen“ habe, sei „besonders fatal“, weil dies „faktisch eine Beendigung zugunsten des Aggressors bedeuten würde“. Der Gedanke, dass mit einem Einfrieren zunächst einmal die Bevölkerung und die noch verbliebene staatliche und wirtschaftliche Substanz der Ukraine vor immer weiterer Schädigung durch den Krieg zu schützen wären, scheint nicht im Rahmen des Wahrnehmungsvermögens der Briefschreiber zu liegen.

Die monieren des Weiteren, dass innerhalb „der SPD […] eine ehrliche Aufarbeitung der Fehler der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte“ fehle, vielmehr werde „die Tradition der Bahr’schen Außenpolitik nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten“.

Nun ja, der SPD-Ko-Vorsitzende Lars Klingbeil kann mit diesem Vorwurf nicht gemeint sein. Der erklärt im Ergebnis seiner Aufarbeitung der Russland-Politik der SPD ein ums andere Mal, es gehe jetzt darum, in Europa Sicherheit vor (sprich gegen) statt mit Russland zu organisieren. (Die sicherheitspolitische Unsinnigkeit eines solchen Ansatzes muss hier nicht nochmals dargelegt werden – siehe ausführlich Blättchen 4/2023.)

Eine „ehrliche Aufarbeitung der Fehler der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte“ allerdings setzte einen selbstkritischen Blick auf diese Jahrzehnte und die Anerkenntnis voraus, dass mit den NATO-Osterweiterungen die Vereinbarungen der Charta von Paris von 1990 und Ansätze zur Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zugunsten einer Verschiebung der militärischen Infrastruktur der NATO in Richtung Russland ad acta gelegt wurden – eine Entwicklung, zu der auch die wechselnden SPD-Führungen keinen Gegenkurs gefahren haben und die zu einem maßgeblichen Faktor der sukzessiven Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wurde.

Eine Zäsur in dieser langjährigen Abwärtsspirale war die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2007. Horst Teltschik – er leitete die MSC von 1999 bis 2008 – erinnerte sich in seinem 2019 erschienenen Buch „Russisches Roulette“ folgendermaßen: „Das öffentliche Echo auf die Rede Putins war außerordentlich negativ und hält sich zum großen Teil bis heute. Bereits die erste spontane Wortmeldung aus dem Publikum, die – wie so oft – von Josef Joffe kam, Herausgeber der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘, gab den Tenor vor. Er wollte provozieren und fragte den russischen Präsidenten, ob diese Rede bedeute, dass wir vor einem neuen Kalten Krieg stünden. Diese pauschale und zugespitzte Bewertung bestimmte in der Folge die Diskussion im Saal und am nächsten Morgen teilweise bis in den Wortlaut hinein die Schlagzeilen fast der gesamten Presse. Es war kein Wille spürbar, positive Aussagen des russischen Präsidenten hervorzuheben und zu unterstreichen. Genug Gelegenheit dazu hatte die Rede durchaus gegeben. Und kein Politiker kündigte in der Diskussion die Bereitschaft an, sich über die strittigen Themen zusammensetzen zu wollen und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Putin hatte sie ja alle angesprochen.“ (Allerdings, diese Feststellung gehört nicht minder zur historischen Wahrheit: Putin hat seinen außen- und sicherheitspolitischen Apparat nach seiner Münchner Philippika nicht damit beauftragt, nunmehr intensiv politisch-diplomatisch daran zu arbeiten, Verhandlungen mit dem Westen über die strittigen sicherheitspolitischen Fragen in die Wege zu leiten. Erst im Dezember 2021 wurden den USA und der NATO entsprechende Vertragsentwürfe unterbreitet. In ultimativer Form …)

Dergleichen Sichtweisen und Erkenntnisse sind Sache der fünf Briefschreiber allerdings nicht, wie deren Formulierung vom romantisierenden Hochhalten der Bahr’schen Außenpolitik hinreichend deutlich macht. Die Idee, dass der Niedergang des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland und schließlich der Ukraine-Krieg eher durch ein Zuwenig denn ein Zuviel an Bahr’scher Außenpolitik auch vonseiten der SPD mitverursacht worden sind, liegt offensichtlich ebenfalls außerhalb des Wahrnehmungsvermögens der Briefschreiber.

Am Ende von deren Schreiben wird der SPD-Vorstand expressis verbis dazu aufgefordert, „endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu benennen“. Von Warnungen wie jenen der CIA, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Nuklearwaffen durch Russland „auf 50 Prozent oder sogar noch höher“ steige, sollte die Ukraine versuchen, die Krim zurückzuerobern – die New York Times hatte kürzlich darüber berichtet – lassen sich die Briefschreiber augenscheinlich nicht beeindrucken.

Johannes Varwick, seit März 2013 Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg, ist zu dem Fazit gelangt, die Kritik der Briefschreiber habe „nicht nur jedes Maß verloren, sie zeugt auch von einer geradezu hasardeurhaften Risikobereitschaft“. Dieser Einschätzung schließt sich der Autor des vorliegenden Beitrages ausdrücklich an. Wenn Varwick allerdings hinzufügt, dass er eine derartiges Verhalten „für kaum möglich gehalten hatte“, folgt ihm der Autor nicht. Die fünf Professoren stehen vielmehr in einer bereits seit über 100 Jahren auch zur SPD gehörenden Traditionslinie: Am „4. August 1914 geschah […] im Reichstag, was bis Ende Juli unvorstellbar gewesen war: Die SPD-Fraktion erklärte ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten“ (Der Spiegel).