27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Zu kurze Arme

von Erhard Crome

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einer Phase hegemonialen Übergangs. Hegemonialmächte und Imperien als große Mächte im Zenit ihrer Macht agieren anstelle des nicht vorhandenen Weltstaates und nehmen eine internationale Ordnungsfunktion wahr. So zumindest die Lehre von den internationalen Beziehungen. Kreuzt sich die Abstiegsphase der einen großen Macht mit der Aufstiegsphase einer anderen, kommt es zum imperialen bzw. hegemonialen Übergang. Der bringt zusätzlich Unruhe in die Staatenwelt, kann friedlich verlaufen oder kriegerisch.

Ein friedlicher Übergang bedarf historischer Voraussetzungen. In der britischen Marineführung und Regierung wurde in den 1920er Jahren die Entwicklung der Marine der USA als Bedrohung der britischen Vorherrschaft zur See angesehen. Selbst Winston Churchill, damals britischer Finanzminister, schrieb 1928, ein Krieg zwischen Großbritannien und den USA wäre zwar „töricht und katastrophal“, aber nicht „undenkbar“. Am Ende war es beider Kampf gegen Hitlerdeutschland, der sie auch im Zweiten Weltkrieg zu Verbündeten machte. Danach war Großbritannien zu schwach, einen dritten Pol darzustellen, wie es Churchill noch auf der Potsdamer Konferenz 1945 erhoffte, und musste sich nach der Logik des Kalten Krieges in das US-amerikanisch beherrschte Machtgefüge einordnen.

Der Ausgang des heutigen globalen Machtkampfes ist noch nicht ausgemacht. Der Wechsel vollzieht sich zunehmend unfriedlich. Er ist durch den Abstieg der USA als globale Hegemonialmacht gekennzeichnet, der zugleich ein Abstieg des Westens ist. Davon ist auch die EU und damit Deutschland betroffen. Dass nun China als Supermacht an die Stelle der USA tritt, wie im Westen zuweilen gefragt wird, geht von falschen Annahmen aus. Es entsteht ein globales „Konzert der Mächte“. Hier ringen mehrere mächtige Zentren um Macht und Einfluss bzw. global um eine Neuverteilung der Macht. Da es die alte „ordnende“ Hegemonialmacht nicht mehr gibt, eine neue nicht in Sicht ist, und das „Konzert“ ohnehin ein Gefüge ständiger Machtkonkurrenzen ist, ist die derzeitige Welt eine der Instabilitäten. Hier befindet sich die EU in einer tendenziell prekären Lage.

In der Welt des 21. Jahrhunderts haben wir es mit fünf unterschiedlichen Großmächten, einer „Pentarchie“ zu tun, wie einst im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die USA haben nach wie vor eine der größten Volkswirtschaften der Welt und verfügen über die mächtigste Militärmaschinerie. Weder die eine noch die andere versetzt sie jedoch in die Lage, der Welt nach Belieben ihren Willen aufzwingen zu können. Politisch, wirtschaftlich sowie technologisch und auch militärisch agieren China und Indien auf einer vergleichbaren Ebene. Die EU wirtschaftlich bisher ebenfalls, militärisch nicht; dagegen Russland militärisch, aber wirtschaftlich nicht.

Es existiert ein Machtgefälle, bereits zwischen den fünf Machtpolen und der nächsten Reihe, zu der die BRICS-Staaten Brasilien und Südafrika zu rechnen sind sowie Staaten wie Japan, Südkorea, Großbritannien, die Türkei, Indonesien, Iran oder Saudi-Arabien. Die Zahl der Kriege, global betrachtet, ihre Härte und Schärfe nehmen zu. Das kurze „unipolare“ Zeitfenster, da die USA im Zenit ihrer Macht standen, hat sich geschlossen, ein neues nicht geöffnet. Inzwischen will selbst Venezuela, ein Staat der dritten oder vierten Reihe in der globalen Machthierarchie, weite Teile eines Nachbarlandes – Guyana – annektieren; was sofort die USA und Brasilien auf den Plan rief, die sich eigentlich machtpolitisch in Gegensatz zueinander befinden.

Dass China, Russland, Indien, die USA und die Europäische Union „die Weltordnungsmächte des 21. Jahrhunderts“ sind, meint auch Herfried Münkler in seinem Ende 2023 erschienenen Buch „Welt in Aufruhr“. Er sieht in ihnen die Kandidaten des „Direktoriums“ der Weltordnung. Die politischen Eliten der fraglichen Mächte dürften jedoch „keine gravierenden Fehlentscheidungen treffen“ und müssten „die erforderlichen Schritte machen, um den ihnen möglichen, aber keineswegs sicheren Platz in einem System der globalen Vormächte einzunehmen“. Das größte Risiko bestehe für die Europäische Union, dass sie „wegen notorischer Schwäche aus dem Club der Fünf ausscheiden muss“. Sie hat keine wirkliche zentrale Regierung und ist in sich ein imperiales Gefüge mit Zentrum und Peripherie. Daher bestehe stets die Gefahr, dass sie „sich bei anstehenden Richtungsentscheidungen nicht festzulegen vermag oder dass infolge von Entscheidungen die zentrifugalen Tendenzen die Oberhand gewinnen“, wie etwa angesichts der Debatten um die Kriegsunterstützung der Ukraine immer wieder zu sehen ist. Außerdem müsse sich „die Europäische Union aus einem umtriebigen Regelgeber und Regelbewirtschafter in einen machtpolitisch handlungsfähigen Akteur“ verwandeln.

Die Grenzen der Regelbewirtschaftung wurden deutlich sichtbar, als Ende vorigen Jahres der brasilianische Präsident Lula da Silva in Europa weilte und Deutschland einen Besuch abstattete. Er wie Kanzler Scholz betonten die Bedeutung des Abschlusses eines Handelsabkommens zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay (weitere Staaten sind assoziiert). Über den Vertrag wird seit über zwanzig Jahren verhandelt, das wäre die weltgrößte Freihandelszone. Allerdings wurden von der EU im Frühjahr 2023 Forderungen zum Wald- und Klimaschutz in Lateinamerika nachgeschoben, die mit dem Freihandel nichts zu tun haben. Aus der Sicht der Südamerikaner stellt das eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten dar. So liegt der Vertrag weiter auf Eis. Die EU ist nicht mächtig genug, ihre Ansinnen machtpolitisch durchzusetzen. Im Februar 2024 fiel in der EU das sogenannte „Lieferkettengesetz“ durch, bei dem die europäischen Unternehmen verpflichtet werden sollten, auch bei den Lieferanten der Lieferanten in der weiten Welt zu überprüfen, dass keine Kinderarbeit genutzt und das Klima nicht belastet wurde.

Vor einigen Jahren hatte Münkler auf die verschiedenen „Machtsorten“ verwiesen, die in den internationalen Beziehungen zentral sind. Dazu gehören politische, wirtschaftliche und militärische Macht. Die politisch-diplomatischen Möglichkeiten der Mächte hängen davon ab, wie sich die politische mit der wirtschaftlichen und / oder der militärischen Macht kombiniert. Das erste Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges war durch einen sichtlichen Rückgang des militärischen Faktors in der internationalen Politik gekennzeichnet. Die Zunahme des politischen Einflusses der EU und Deutschlands war eine Folge dessen.

Die USA haben seit Obama stärker auf das Militärische gesetzt und in der NATO durchgesetzt, dass die Mitgliedsstaaten mindestens zwei Prozent ihres BIP für militärische Zwecke ausgeben. Die derzeitige Bundesregierung hat sich dem Kurs der Biden-Administration der USA im Ukraine-Krieg gegen Russland untergeordnet, die Sprengung der Nordstream-Gasleitungen stillschweigend hingenommen und sich ostentativ an den Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland beteiligt. Damit wurden die seit Jahrzehnten geschaffenen energiepolitischen Grundlagen des Industrie- und Exportmodells Deutschland und des Wohlstands seiner Bevölkerung ruiniert und eine sozial- und wirtschaftspolitische Lohn-Preis-Spirale inganggesetzt. Das unterminiert den sozialen und politischen Frieden im Land und reduziert die außenpolitischen Spielräume Deutschlands und der EU weiter.

Der US-hörige Kurs, mehr als die vielbeschworenen zwei Prozent für die Bundeswehr und deren Bewaffnung auszugeben, wird diesen Prozess beschleunigen. Zudem ist es eine mondsüchtige Idee, Deutschland könnte mit den großen Mächten des 21. Jahrhunderts militärisch mithalten. Dieser Zug wurde am 8. Mai 1945 von den Gleisen genommen. Für Weltpolitik sind die deutschen Arme zu kurz.