27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Gilgi – eine von uns“ – Berliner Ensemble / „Bad Kingdom“ – Schaubühne

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BE: Bubikopf, Beruf und Lust auf freie Liebe

„Hier ist ein Talent!“, rief Kurt Tucholsky. Gemeint war Irmgard Keun mit ihrem Debüt-Roman „Gilgi – Eine von uns“. Das war anno 1932. Irmgard, gerade 26 Jahre, setzte sofort nach mit dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“. Und war fortan gefeierter Star der Kulturszene der Weimarer Republik. Ein früher Ruhm von kurzer Dauer. Ab 1933 regierten die Nazis, trieben die Keun ins Exil, verboten ihre Bücher.

Denn was zu Weimar, zur aufschießenden Moderne bestens passte, nämlich Keuns mit praller Wirklichkeit gesättigte Romane über kühne Frauen mit Bubikopf, Berufstätigkeit und Lust auf freie Liebe, mit Pochen auf Selbstbestimmtheit und selbstverdientes Geld, das passte – nach 1933! – überhaupt nicht. Keun geriet in Vergessenheit. Erst in den späten 1970er Jahren wurde sie wiederentdeckt: Neuauflagen, der Marieluise-Fleißer-Preis 1981. Doch all das half ihr nicht auf. Ein Jahr später starb sie – Depressionen, Alkohol.

Wie hoch beglückt wäre sie, hätte sie erleben dürfen, wie jetzt im rappelvollen BE Katharina Thalbach ihren Erstling „Gilgi“ mit einer szenischen Lesung zum literarisch-theatralen Ereignis machte.

Das Erstaunliche, wie diese Gilgi als „eine von uns“ noch heute überzeugt: bezaubernd charmant, schlagfertig, sarkastisch, unverwüstlich – trotz schmerzlicher Schicksalswendungen. Diese Gilgi, eine Stenotypistin aus einfachen Verhältnissen, die eigentlich Gisela heißt und gerade 20 Jahre alt ist, sagt: „Ich will was, kann was und leiste was.“ Sie glaubt nicht an Wunder und ist „keine sentimentale Gans“, aber gern „richtungslos verliebt“. Und schert sich wenig um abgesagte Frauenrollenmodelle oder Moralvorstellungen. Sie ist aber auch keine knallige Emanze, sondern ein mutiges, zartfühlendes Wesen, das bei aller Lebenslust nicht wegschaut von der Not und vom Leid jenseits der Kinos, Restaurants und Tanzlokale.

Diese Gilgi passt zu Katharina. Man hört und schaut ihr gebannt zu, wie sie – tolle Komödiantin – die vielfach wechselnden Stimmungslagen, die feinen Schattierungen im Text stimmlich und gestisch genau modelliert und moduliert – mit gehörigem Witz und gebotenem Ernst.

Das alles auf einem Podest auf der Vorbühne. Ihr Script souverän in der Hand, vor oder neben der Nase, agiert Thalbach zwischen Tisch, Stuhl, Sofa, Kleiderständer, dem stummen Diener für kleine Kostümierungen mit blauem Hütchen, Trenchcoat und goldenem Seidentuch (Ausstattung: Janina Kuhlmann). Regisseur Oliver Reese hat das Ganze mit bewährt sicherem Griff für signifikante Wirkungen eingerichtet. Und Jörg Gollasch lieferte den Soundtrack – feinst gesponnen.

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Schaubühne: Elende Egomonster

Hinten eine Ritterburg wie im Computermärchenspiel. Vorn drehbare Podeste für die Show-Acts eines Nachtclubs, für ein Filmstudio oder eine psychotherapeutische Praxis. Rechts üppige Fliederbüsche, links ein Konzertflügel und hoch oben noch eine Galerie fürs Heimkino. Alles getaucht in fahles Dämmerlicht. Ein beklemmendes, nüchtern kühles Ambiente (Bühne: Katrin Hoffmann) für Falk Richters Parade psychotischer Einsamkeitsmenschen in seinem albtraumhaften Gegenwartsstück „Bad Kingdom“.

Was da unter Richters schwungvoll auf scharfe, böse, bittere und komische Pointen zielenden Regie durcheinander oder aneinander taumelt in jenem unwirtlichen Reich, sind lauter Königinnen und Könige, deren Kronen entsetzlich verrutscht sind: Durch die Unfähigkeit, sich auf ein Gegenüber einzulassen, um ihr Seelenleid zu heilen. – Liebe, das war früher. Jetzt ist Dating. Narzissmus und Gefühlsvertrocknung; die Grundkrankheiten postmoderner Gesellschaften im Digitalzeitalter, so Richters Krisenbefund.

Den illustriert nun die – auch sexuell – unerquicklich und grotesk miteinander verbundene Egotruppe aus dem Kreativmilieu mit ihren depressiven Geschichten, die sich wechselweise auf den vielen Schauplätzen des weiten Bühnenreichs abspielen; mal live, mal im Video.

Also: Da sind eine Beethoven spielende Pianistin, die obendrein zeitgenössisch komponiert, was keiner hören will, und eine Paartherapeutin, die selbst nach Therapie giert durch Patienten (beide Ursina Lardi). Dann ein echt betörend singender Popmusiker, der nichts als sein Soloalbum „I’m lost“ im Sinn hat (Martin Bruchmann); eine Influencerin (Hevin Tekin), die der Künstlerschaft ansagt, welche Posts gut sind fürs Business und welche schädlich; ein verschwiemelter Theaterautor und Sexdarsteller (Kay Bartholomäus Schulze). Sowie ein deppenhaft entnervter Filmregisseur (Marcel Kohler), dem die zynisch-coole Dramaturgin (Jule Böwe) das Script vor die Füße schmeißt, weil alle Figuren bloß „Bleistiftskizzen“ sind in dessen Film „Die Stunde, da wir nichts voneinander wissen wollten. 71 Fragmente der Einsamkeit“. „Will ohnehin keiner sehen“, ruft sie noch kaltblütig hinterher.

Hier und auch sonst immer wieder zeigt sich Richters (Selbst-)Ironie. – Ganz unterhaltsam. Wie auch die musikalische Feinabmischung dieser Show aus gefühlt weit mehr als 71 Szenen. Die aber wiederholen nur das im Kern immergleiche Elend der Psychos (mit Midlife-Krisen obendrauf). Dazu ein ellenlang verschwurbelter Schlussmonolog (Ursina Lardi zitiert Ariadne von Schirach) und auch noch die Pause – das alles treibt die Veranstaltung ins arg Längliche.

In Peter Handkes gleichfalls fragmentarischer Szenenfolge „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ von 1992 geht es ums einander Fremdsein durch Nichtwissen. Neuerdings ums Nichtwissen-Wollen. Wie das gekommen ist, bleibt Bleistiftskizze. – Übrigens: In Richters privat-familiärem, dabei tief ins Gesellschaftliche greifendem Analyse-Stück „The Silence“, zum Theatertreffen eingeladen (Theaterberlin vom 18. Dezember 2023), war das sehr anders. Wohl deshalb jetzt im Programmbüchlein auf 61 Seiten nachgereicht gleich sechs wissenschaftliche Essays zum Thema allgemeine Vereinsamung.

Aber: Das Ereignis im Königreich der Egomonster ist das grandiose Ensemble! Und Jule Böwe ist mit ihrem großen, heillos sarkastischen, dabei verzweifelt-tieftraurigen Monolog als von aller Welt verlassene Mittfünfzigerin sensationell. Ihr gehört die Krone des Abends.