26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „The Silence“ – Schaubühne / „Der geflügelte Froschgott“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / „Heute Nacht oder nie“ – Theater am Frankfurter Tor

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Schaubühne: Das Schweigen der Vergangenheit

Es geht sofort heftig zur Sache. Durch Ansagen, die uns, einem Trommelfeuer gleich, vor den Kopf knallen: „In meiner Familie“, sagt der Sohn, „haben wir nie gesprochen“ – über Gräueltaten des Vaters im Krieg; über sein außereheliches Verhältnis zur damals minderjährigen Mutter; über ihre entsetzliche Flucht aus Westpreußen; über ihr jahrelanges demütigendes Beiseiteschieben als heimliche Geliebte bis zur Heirat nach zwei Schwangerschaften und Scheidung des Vaters; über dessen von Mutter blind akzeptierte patriarchalisch harte Familienherrschaft; über erzieherische Strenge; Gehorsamspflicht („immer lieb sein“); über das permanente misstrauische Überwachen und Kontrollieren des Sohnes durch die Eltern; über ihre absurden Versuche, seine Homosexualität bekämpfen zu wollen; über das kalte Familienklima überhaupt …

Kurz gesagt: Der Sohn empfand sein Zuhause als Hölle. Als Hort überkommener und als Brutstätte von neuen Traumata. Nie wurde darüber gesprochen. Bis jetzt. – Jetzt wagte Falk Richter, der Sohn, Autor und Regisseur (Jahrgang 1969) mit seinem autobiographisch grundierten Stück „The Silence“ die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Eine zentrale Rolle dabei: Seine erstaunlich offenherzigen, zuweilen aufschreckend hart insistierenden Gespräche mit Mutter Doris – klar im Kopf und sehr sympathisch; filmisch aufgezeichnet von Lion Bischof.

Es ist eine mutige, weitgehend beklemmende, auch schockierende Reise ins Dunkel der eigenen Vergangenheit sowie die der Vorfahren. Eine Art Forschungs- und Findungsprozess: Was wurde mir angetan, was geschah mit mir, mit Falk Richter, und warum? Und was mit meinen Leuten?

Dabei weitet sich der persönliche, ja intime Blick aufs kleinbürgerlich elterliche Eigenheim im „fucking“ Buchholz/Nordheide mit seinen bedrückenden Geheimnissen und bösen, unausgesprochenen Wahrheiten ins Allgemeine. Auf die Zwangsjacke normierter Wohlanständigkeit, den auch politischen Konformismus, der keinen Platz hat für Störer. Auf dieses Korsett, das der von NS-Herrschaft, Krieg und Vertreibung traumatisierten Gesellschaft Halt und Kraft gab; in deren Formiertheit aber auch – nicht nur hinter den glatten neuen Fassaden – versteckt oder direkt Gewalt wucherte gegen alles, was da anders war, kritisch, nicht lieb.

Es ist diese Spannung von bestürzend privaten Innensichten und übers Private weit hinaus gehenden Draufsichten, die den 90-Minuten-Abend zum packenden Erlebnis macht. Ist die gekonnte, im postdramatischen Betrieb derart wirksam nur selten zu findende theatralische Montage; der raffinierte Wechsel der Perspektiven zwischen Dokumentation und Reflexion. – Was uns da bannt ist ein aufklärerisches Frage-, kein wohlfeiles Klage- oder Anklagestück. Und schon gar nicht billige Seelenstripperei.

Ein Glück für den Regisseur: Er fand für seine wahrlich nicht einfache Sache den einzigartigen Dimitri Schaad. Die deutsche Erstaufführung von „The Silence“ ist Schaads Schaubühnen-Einstand; für Richter war es nach Jahren die geglückte, gefeierte Rückkehr ans alte Haus.

Schaad, zuvor Protagonist am Gorki-Theater, auf Augenhöhe mit Kollegen wie Meyerhoff oder Eidinger. Geradezu sensationell! Beherrscht er doch wie selbstverständlich, also souverän spielerisch, den selbst im Komisch-Grotesken noch kühlen Erzählton sowie die Ausbrüche von Bitterkeit, Verzweiflung, Wut oder Vergeblichkeit. Faszinierend diese Wechsel zwischen hochkochenden Gefühlen und sachlicher, gleichwohl schmerzlich schonungsloser Analyse. Die auch nicht haltmacht vor der Frage, ob man sich selbst nicht allzu wichtig nimmt.

Wir wollen nicht verschweigen, dass die so schlagend gegenwartsnahe Vergangenheitsforschung sonderlich bei den Gesprächen von Sohn und Mutter offenlegt, was die von den Zeitläuften gebeutelte (oder deformierte) Elterngeneration für ihr Verhalten Entlastendes vorbringt. Nämlich: Ohne verdrängendes, ob nun böses oder Wunden stillendes Schweigen, hätte sie ihre Gegenwart wohl nicht leben können.

Mit dieser bedenkenswerten, auch um Nachsicht bittende, menschenfreundliche Aussage werden wir entlassen. Die bohrende Befragung der eigenen Biografie bleibt uns als dauerhaft nachhallende Herausforderung. Was für ein aufwühlendes Theaterereignis.

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DT-Kammer: Himmel, Hölle oder nix?

Nur mal so gefragt: Falls der Tod nicht das Ende ist, was käme danach? Geht es dort weiter, und wenn ja, in welchem Zustand? Und für wen? Und wenn es so wäre: kann ich meine Chancen aufs Jenseits erhöhen und ist das sinnvoll? Und wie viele Jenseits gibt es – in etwa?!

Tja, das sind so Sachen, mit denen sich die Menschheit seit Menschengedenken herumschlägt. Mit leider unbefriedigenden Ergebnissen. Sollte man sich vorbereiten aufs „Danach“ (brav sein, gute Taten listen)? Lohnt sich das überhaupt? Ist das „Danach“ wirklich besser, gerechter, komfortabler als das „Davor“? Oder kommt gar nix nach dem Tod. Dann freilich wäre auch eine jede Religion aus dem ohnehin irritierenden Überangebot sinnlos und die entsprechenden Götter arbeitslos. Auch, nur um ein Beispiel zu nennen, der nach Überlieferungen eklig glitschige geflügelte Froschgott aus der Fülle der Tiergötter, denen immerhin – weiß die Wissenschaft – neunzig Prozent aller Religionen huldigen.

Das erfährt man nebenbei in einer bis in den Aberwitz getriebenen menschlichen Befragung der mehr oder weniger lieben oder schleimigen Götter im Monologstück von Ingrid Lausund „Der geflügelte Froschgott“. Die Autorin wurde berühmt unter dem Pseudonym Mizzi Meyer als Drehbuchschreiberin für die mit Grimme-Preisen bedachte kultige ARD-Comedy-Serie „Der Tatortreiniger“.

Da ging es mit Sarkasmus und Pointenschärfe gleichfalls um den Tod; genauer gesagt: um die Beseitigung schmutziger Hinterlassenschaften mörderischen Tuns. Jetzt jedoch, eine Drehung weiter, wird’s philosophisch bei einer kecken „Neuberechnung der Unsterblichkeit“. Da wird in einem funkelnden Gedankenspiel lustvoll durchgewürfelt, wie das funktionieren könnte mit dem Ticket in die Hölle, ins Paradies oder ins Nichts. Zugleich wird wütend auf den Tisch gehauen, warum kein Gott, keiner der schier unendlich vielen, endlich mal Klartext spricht, um Schluss zu machen mit notorisch irdischem Gezweifel an der Unsterblichkeit. Oder am von wem auch immer beschworenen Alleinstellungsmerkmal der einen Gottheit. Warum nicht mehreren dienen; die Auswahl ist enorm?

Das mit Provokationen vollgestopfte Pingpong der hintersinnigen geschliffenen Sätze – sentimentale Sehnsuchtsrufe nach tröstlicher Transzendenz, aufklärerisch hingeknallte Skepsis – inszeniert FX (Franz Xaver) Mayr als virtuoses Duett mit den beiden grandiosen Sprechkünstlern Regine Zimmermann und Bernd Moss. Höchst unterhaltsam. Höchst bedenklich. Da steckt man die überflüssigerweise als Denkpausen gedachten esoterisch-therapeutischen Übungen eines elektromusikalisch umgurrten Gymnastik-Quartetts glatt weg. Staunt aber nicht schlecht über den plötzlichen Auftritt vom Sensenmann. Mit coolem Grinsen bittet er auf die Bühne zum Freibier. Wie das, jetzt Beten mit Bier? – Aber nein! Bloß bisschen locker Party zum Schluss. Wie nett vom Tod …

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TaFT: Toitoitoi für ein kleines neues, privates Theater

In der Frankfurter Allee 133 ums Eck vom Frankfurter Tor fand Johannes Hallervorden, der begabte Sohn vom berühmten Papa, ein hübsches, leerstehendes Laden-Theater mit 99 Plätzen, das die Vorher-Direktionen bankrott gespielt hatten. Schade, ist doch in der dicht besiedelten Wohngegend rund ums Frankfurter Tor kulturell eher wenig los. Da wäre das TaFT doch eine prima Ausgeh-Adresse quasi vor der Haustür, wo man kurz entschlossen fix hinkommt. Also zog Hallervorden den Vorhang wieder auf.

Hauptsache bei solch mutigem Unterfangen: das Programm stimmt. Annonciert wird wie allgemein üblich: „Schöne Momente schaffen“; Unterhaltsames „mit Anspruch“. Da ist, prominent besetzt, das komödiantische oder kabarettistische Kammerspiel; da sind Soloabende, gesprochene, gesungene; da macht Frau Puppendoktor Pille Spaß für die Kleinen. Jetzt, zum Jahresende, gibt’s Weihnachtliches sowohl literarisch mit Charles Dickens als auch glamourös mit Travestie-Künstler Megy B. Und an Silvester ein erstaunlich unüblich serviertes „Dinner for One. Was geschah wirklich?“. Es ist klar: Da grüßt das Brettl. Und wir winken zurück, drücken einem neuen Berliner Privattheater kräftig die Daumen. Freuen uns über den Mut Hallervordens sowie die Begeisterung, mit der er brennt für seine Sache.

Also Brettl, das kleine feine Format, was unbedingt mindestens gut gemacht sein muss. Wie beispielsweise diese Preziose klassischer Unterhaltungskunst: Die großartige Diseuse Manja Stein und der Entertainer Marc Rudolf singen und schwingen sich zwischen Frechsein und Melancholie mit Champagner und Absinth durch Welterfolge des unentwegt Hits komponierenden Mischa Spoliansky.

Der begnadete Künstler war ein Superstar der Berliner Chanson-, Schlager-, Revue- und Kabarettszene in den 1920ern und frühen 30ern. Gefeiert von den Bossen der Ufa, von Max Reinhardt, Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, von Marlene Dietrich („Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin“) oder von Jan Kiepura. Für den verführerischen Tenor schrieb er den Schmachtfetzen „Heute Nacht oder nie“. Übrigens, sonderlich dieser Ohrwurm beförderte anno 1933 die schnelle Ausgabe des britischen Passes für Spolianskys Emigration nach England.

Heute gibt er den Titel für die von Peter Fabers und Wolfgang Seppelt klasse ausgetüftelte Show mit Jürgen Beyer am Klavier. Bravo! Und: Toitoitoi für immerzu Theaterglück.

Gala-Vorstellung „Heute Nacht oder nie“ am 22. Dezember anlässlich des 125. Geburtstags von Mischa Spoliansky (1898, Belostock/Russland, – 1985, London).