27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Wie Mao in deutsche Köpfe kam (XII)

von Wolfram Adolphi

Im Jahre 1938 stoppten die japanischen Truppen ihren Vormarsch in China. Ein weiteres Vordringen schien nicht erforderlich. Die wirtschaftlich entscheidenden Gebiete Chinas waren unterworfen; die Kapitulation der Jiang-Jieshi-Regierung schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein; und es sollten Kräfte gespart werden für die geplante Expansion im Pazifik.

Das riesige chinesische Staatsgebiet war nun mehrfach geteilt. Im Nordosten – in der an die Sowjetunion, die Mongolei und Korea grenzenden Mandschurei – hatte Japan schon 1932 seinen 800.000 Quadratkilometer großen Marionettenstaat Manzhouguo geschaffen, und südlich davon hatten seine Truppen ein bis Shanghai, Nanjing und Wuhan am Yangzi-Fluss reichendes, von Nord nach Süd rund 2500 und von Ost nach West rund 1000 Kilometer messendes Territorium erobert, das man ab dem 30. März 1940 von dem übergelaufenen Guomindangführer Wang Jingwei regieren lassen würde. Da zudem auch die südlich des Yangzi am Gelben Meer gelegenen Hafenstädte Wenzhou, Fuzhou, Xiamen, Shantou und Guangzhou okkupiert und vom unbesetzten Festland abgeschnitten waren, lag der weitaus größte Teil der Rohstoffförderung, der Industrie und des Überseehandels Chinas in japanischer Hand.

Westlich des besetzten Gebietes erstreckte sich das der Jiang-Jieshi-Regierung verbliebene Territorium mit den großen, aber hunderte Kilometer voneinander entfernt an einer Nord-Süd-Eisenbahnlinie liegenden Städten Lanzhou, Chongqing (Regierungssitz) und Kunming und den westlich dieser Linie weitere 2000 Kilometer nach Westen sich erstreckenden dünn besiedelten Gebirgsregionen Tibet, Qinghai und Xinjiang.

Und am Ostrand dieses Gebietes, rund 1000 Kilometer in südwestlicher Richtung vom besetzten Beijing (damals: Beiping) entfernt, lag mit einer Ausdehnung von rund 300 mal 300 Kilometern im Grenzgebiet der Provinzen Shaanxi, Gansu und Ningxia das hier schon mehrfach erwähnte, am Ende des Langen Marsches 1935 errichtete Stützpunktgebiet der Gongchandang mit seiner Hauptstadt Yan’an. Dies war der Ort, der Japan die größten Sorgen bereitete, denn von hier aus entwickelte die Gongchandang nicht nur ihre auf dauerhaften Widerstand zielende Einheitsfrontpolitik, sondern auch eine Partisanenbewegung, die bald große Teile des besetzten Gebietes durchdringen sollte.

Die erste genauere Kunde in deutscher Sprache über das Gongchandang-Gebiet kam – wieder einmal – in der Exilpresse und dort – wieder einmal – vom vielbewährten Weltbühne– und Neue Weltbühne-Korrespondenten Asiaticus. Die Pariser Tageszeitung (Quotidien de Paris) brachte am 9. Juni 1938 einen Bericht von ihm, der unter der Überschrift „Chinas Musterprovinz“ stand und mit der Orts- und Zeitangabe „Yennan [Yan’an], Ende Mai“ versehen war.

„Ich sprach mit Mao-Tse-tung [Mao Zedong]“, steht in diesem Artikel, und das ist dann wohl das erste öffentliche deutschsprachige Zeugnis der Begegnung eines Deutschen mit Mao überhaupt. Dass es sie gab, diese Begegnung hat Asiaticus-Spezialistin Helga Scherner in ihrem Aufsatz „Asiaticus – eine Unperson?“ 2001 im Bochumer „Jahrbuch zur Ostasienforschung“ schon erwähnt. Dort ist aber nur von einem englischsprachigen Hinweis in der Zeitschrift Pacific Affairs die Rede – und nicht vom hier zitierten deutschsprachigen Text. Um einem möglichen Missverständnis aus dem Wege zu gehen: Es ist hier nicht die Rede davon, dass Asiaticus der erste Deutsche bei Mao gewesen wäre. Otto Braun zum Beispiel, ein von der Komintern entsandter Militärberater, arbeitete schon seit 1932 an Maos Seite. Während das aber nach außen geheim gehalten wurde, berichtete Asiaticus öffentlich – und war damit (höchstwahrscheinlich) der erste.

Der Bericht über die „Musterprovinz“ strotzt vor Zuversicht. Alle „Autorität“, schrieb Asiaticus, läge bei der „chinesischen kommunistischen Partei“ und der „achten Roten Armee“. Ihr „Prinzip“ sei „die Einheitsfront“, sei „die Idee, eine geeinte Nation gegen Japan zu stellen, eine geeinte Nation mit allen Waffen, allen Massen, allen Klassen und unter der Führerschaft der Kuomintang und der Kommunisten.“ In den Gesprächen mit Mao – Asiaticus nennt als dessen Funktion interessanterweise nur „Vertrauensmann des Militärkomitees der 8. Armee“ –, weiter mit den (namenlos bleibenden) „Leitern der kommunistischen Partei, der Gewerkschaften und anderer Organisationen“ sowie „mit den Vorständen der Regierungsbüros und vielen anderen“, sei immer wieder „die Treue zur Sache der Einheitsfront“ zu spüren gewesen und die Gewissheit, „dass es sich hier nicht um eine Taktik, sondern wirklich um den Sieg über einen nationalen Feind“ handele. Mit „eiserner ideeller Disziplin“ werde versucht, „den Spezialbezirk zu einer uneinnehmbaren Basis im antijapanischen Kampf zu machen“. Und dann noch einmal Mao direkt: „Mao-Tse-Tungs Motto für diese Arbeit lautet: schärfstes und intensivstes Arbeitstempo und entschiedene einheitliche politische Führung.“

Die Aussichten für den Fortbestand des Spezialbezirks, schrieb Asiaticus weiter, seien trotz „nächster Nachbarschaft bereits besetzten Gebiets“ gut. Es gebe „keine unmittelbare Gefahr der Invasion, da die 8. Rote Armee und die Partisanen in [den besetzten Provinzen] Shansi [Shanxi], Hopei [Hebei], Chahar [Chaha’er] in Verbindung mit […] den Truppen der Zentralregierung ständig die feindlichen Streitkräfte belästigen und angreifen, ihre Verbindungen stören und ihnen schwere Verluste beibringen“. „Über die Hälfte“ der Bevölkerung des Spezialbezirks sei „für Verteidigungszwecke militärisch vorbereitet“, so dass „im Fall eines Angriffs […] der Gegner auf eine Art Territorial-Armee von 300.000 Mann stossen [würde], für die die riesigen Gebirgsketten eine ausgezeichnete strategische Position“ böten.

Wird fortgesetzt.