26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Arme Länder in der Schuldenkrise

von Jürgen Leibiger

Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Umgang der Bundesregierung mit seinen kreditfinanzierten Sondervermögen für verfassungswidrig erklärt hat, streitet Deutschland wieder einmal über die Staatsverschuldung. Das Land hat jedoch kein ökonomisch begründetes Schuldenproblem, sondern ein politisches Problem, weil die Mehrheit des Bundestages im Jahr 2009 mit der sogenannten Schuldenbremse der Verfassungsänderung zu einer willkürlichen Begrenzung der Kreditfinanzierung öffentlicher Haushalte zugestimmt hat.

Dabei steht Deutschland im internationalen Vergleich alles andere als schlecht da. Mit einer Schuldenquote von rund 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist es weit weniger verschuldet als die meisten vergleichbaren Länder. Japan liegt mit 260 Prozent seit vielen Jahren an der Spitze, die USA weisen einen Wert von 121 Prozent und der Durchschnitt der Euro-Zone liegt bei 90 Prozent. All diese Länder weisen übrigens positive Wachstumsraten aus, während die Wirtschaft Deutschlands momentan schrumpft. Die Renditen deutscher Staatsanleihen sind trotz ihres jüngsten Anstiegs im internationalen Vergleich niedrig. Die Zinslast erhöht sich zwar extrem schnell, liegt aber in den nächsten Jahren noch weit unter der Belastung früherer Zeiten. Mit dem Rating AAA gehört es zu den Ländern mit der höchsten Bonität. Die Welt reißt sich trotz ihrer niedrigen Renditen um deutsche Staatsanleihen. Auch wenn die höhere Besteuerung der Spitzenverdiener und Superreichen wichtiger wäre, als sich bei ihnen das Geld immer nur zu leihen, sollte man also die Kirche im Dorf lassen.

Von den Schuldensorgen – eher eine Art von Phantomschmerz – die Deutschland plagen, können die meisten Länder nur träumen. Der aktuellste Schuldenmonitor des Internationalen Währungsfonds weist für die Gruppe der Entwicklungsländer mit den geringsten Einkommen zwar einen sehr niedrigen Durchschnitt der Schuldenquote von 48 Prozent aus, die Schuldenstruktur und der erforderliche Schuldendienst haben es jedoch in sich. Zwei Drittel der Staaten des globalen Südens befinden sich in einer kritischen oder sehr kritischen Situation. Die Auslandsverschuldung hat sich seit 2010 im Mittel von 42 auf 64 Prozent im Vergleich zu ihrem Bruttoinlandsprodukt erhöht. Der private und öffentliche Auslandsschuldendienst verdreifachte sich in diesem Zeitraum. Über vierzehn Prozent der Staatseinnahmen – ein Vielfaches im Vergleich zu Deutschland – müssen diese Länder inzwischen allein für den öffentlichen Schuldendienst verwenden. Der jüngste Zinsanstieg verteuert die Ablösung der alten durch neue Kredite. Die durch die Corona-Krise, das Lieferkettenproblem und die Verteuerung der Energie erhöhte Unsicherheit in diesen Ländern lässt ihre Bonitätseinstufung weiter sinken. Ausländische Direktinvestitionen stagnieren oder gehen zurück, für eigene Investitionen fehlt oftmals jegliche Substanz.

Bei vierzig Ländern wird die Verschuldungssituation als sehr kritisch eingeschätzt. Die meisten dieser Länder liegen in Lateinamerika, der Karibik und im subsaharischen Afrika. Dazu kommen einzelne Länder im Nahen Osten und Zentralasien und seit dem Angriffskrieg Russlands die Ukraine. Obwohl China einer der größten Einzelgläubiger ist, sind 70 Prozent der Forderungen (2,5 Billionen US-Dollar) den G7- und den EU-Staaten zuzuordnen. Wie IWF und Weltbank verbinden diese Gläubiger ihre Verhandlungsangebote in der Regel mit politischen Auflagen, Austeritäts- und Sparempfehlungen. Oftmals blockieren sich die Kreditgeber in den Umschuldungsverhandlungen gegenseitig. Der Pariser Club, ein informeller Zusammenschluss wichtiger Gläubiger, befürchtet, dass bei Erleichterungen und Nachlässen andere Forderungsinhaber, vor allem aber China profitieren könnte, wenn deren Nachlässe geringer wären, die Kredite somit in höherem Maße bedient würden. Der Westen buhlt inzwischen da und dort wohl um die Zuneigung des Südens, sein Konfrontationskurs gegenüber China ist gleichwohl nicht geeignet, diese Situation zu verbessern.

Für die armen Länder war die Aufnahme von Auslandskrediten in den Zeiten niedrigster Zinsen eine Chance, Entwicklungsfortschritte zu finanzieren. So, wie hierzulande die Privathaushalte mit Kreditangeboten überschüttet werden, gaben sich damals die großen internationalen Kreditgeber mit tollen Offerten die Klinke in die Hand. Und obwohl Korruption und Missmanagement bei der Mittelverwendung mitverantwortlich für die Lage dieser Länder sind, treffen die oben genannten Auflagen vor allem die sowieso schon schwachen Sozialsysteme und damit die armen Teile der Bevölkerung. Neben Nordafrika ist in der besonders kritischen Ländergruppe die Arbeitslosigkeit, vor allem bei der Jugend, überdurchschnittlich hoch. Die Folgen dieser Situation sind eine katastrophale soziale Lage und Hoffnungslosigkeit eines Großteils der betroffenen Bevölkerung. In Afrika hat der Hunger wieder dramatische Ausmaße angenommen, von Investitionen zur Bekämpfung der Klimakatastrophe kann kaum mehr die Rede sein. Abgesehen von den Kriegsflüchtlingen korreliert der Grad der Betroffenheit mit den Herkunftsländern der weltweiten Flüchtlingsbewegungen aus Afrika und Lateinamerika.

Die Lösung dieser internationalen Schuldenkrise muss in einem hohen Maße von den G7- und EU-Staaten ausgehen. Diese Gruppe hält nicht nur den Löwenanteil an diesen Forderungen, sie hat zudem den größten Einfluss auf den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Einer, der es wissen wird, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, spricht davon, die Auflagen von IWF und Weltbank an die Kreditnehmer würden deren Entwicklung behindern. Selbst der UN-Generalsekretär Antonio Guterres erklärte jüngst, diese beiden Institutionen würden die reicheren auf Kosten der ärmeren Länder begünstigen. Man muss sich nicht wundern, wenn die Bemühungen um eine internationale Regelung zur Staateninsolvenz nicht vorankommen.

Als vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren die wirtschaftliche Lage im alten Griechenland und die Verschuldung der Kleinbauern bei reichen Bürgern und großen Landbesitzern unerträglich geworden war, verhalf man dem weithin geschätzten Feldherren und Dichter Solon zur Macht. Er ordnete an, alle Schulden zu streichen und die Schuldsklaven freizulassen. In Verbindung mit seinen politischen Reformen schuf das die Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche und politische Stabilisierung Athens. Platon nannte ihn später den „Weisesten der Weisen“. Bei den alttestamentarischen Propheten fand diese Idee in Form des biblischen Erlassjahres ihren Niederschlag. Auch heute wäre es wohl am klügsten, mit einem Schuldennachlass – ähnlich wie er 1953 im Londoner Abkommen der Bundesrepublik gewährt wurde – gegenüber den am schwersten betroffenen Ländern und einer Reform des internationalen Schuldenregimes einen Neustart zu ermöglichen.