26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Apocalypse now?

von Hannes Herbst

Es gibt in den Vereinigten Staaten

einen klaren Weg zur Diktatur,

und der wird jeden Tag kürzer.

 

Robert Kagan

 

Eine für diverse Krisen in der Welt – vom Ukraine-Krieg über den Nahost-Konflikt bis zum Klimawandel – nicht ganz unmaßgebliche Frage ist die, ob der Präsident in den USA nach den nächstjährigen Wahlen nochmals Joe Biden oder doch wieder Donald Trump heißen wird.

Robert Kagan ist ein US-amerikanischer Politologe, Historiker und Autor, der als einer der einflussreichsten neokonservativen Denker in den Bereichen internationale Beziehungen und amerikanische Außenpolitik gilt. In den 1980er Jahren war er im State Department tätig, unter anderem als Redenschreiber von George Shultz, des Außenministers der Reagan-Administration. Sehr viel später fungierte Kagan als Berater der republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain (2008) und Mitt Romney (2012). Im Jahre 2016 machte er mit einer scharfen Kritik am Präsidentschaftskandidaten Trump von sich reden („This is how fascism comes to America“ – „So kommt der Faschismus nach Amerika“) und unterstützte dessen demokratische Herausforderin Hillary Clinton.

In der Washington Post vom 30. November 2023 hat Kagan einen sehr ausführlichen Essay publiziert – mit dem Titel: „A Trump dictatorship is increasingly inevitable. We should stop pretending“ („Eine Trump-Diktatur ist zunehmend unvermeidlich. Wir sollten aufhören, so zu tun, als ob das nicht der Fall wäre“).

Darin konstatiert Kagan, dass Trump dem demokratischen System in den USA bereits tiefe Wunden geschlagen hat und dass „die Wahrscheinlichkeit, dass die Vereinigten Staaten in eine Diktatur verfallen, erheblich gestiegen ist, weil so viele Hindernisse dafür beseitigt wurden […]. Während es vor acht Jahren buchstäblich undenkbar erschien, dass ein Mann wie Trump überhaupt gewählt werden könnte, wurde dieses Hindernis 2016 beseitigt. Wenn es damals undenkbar schien, dass ein amerikanischer Präsident versuchen würde, nach einer Wahlniederlage im Amt zu bleiben, wurde dieses Hindernis 2020 beseitigt Und wenn niemand geglaubt hätte, dass Trump […] im Jahr 2024 dennoch wieder als unangefochtener Führer der Republikanischen Partei und als deren Kandidat auftauchen könnte, dann sind wir gerade dabei, auch dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen.“

Denn dass Trump sich die Nominierung seiner Partei für die Präsidentschaftskandidatur, die in wenigen Wochen stattfinden wird, bereits gesichert haben dürfte, steht für Kagan außer Zweifel. Im Umfragedurchschnitt für den Monat November betrug Trumps Vorsprung vor seinem nächsten Konkurrenten 47 Punkte. Bereits jetzt begännen „Spender von anderen [republikanischen – H.H.] Kandidaten zu Trump zu wechseln“, und die meisten anderen republikanischen Spitzenkandidaten hätten, bevor der überhaupt nur eine einzige Vorwahl gewonnen habe, „bereits zugesagt, Trump zu unterstützen, wenn er nominiert wird“. Für einen solchen Fall sagt Kagan, gespeist aus US-Wahlkampferfahrungen, zugleich ein Ende der offenen innerrepublikanischen Zwistigkeiten voraus: „So gefährlich es für Republikaner heute auch ist, ein negatives Wort über Trump zu verlieren, so sehr wird es unmöglich sein, wenn er die Nominierung erst einmal unter Dach und Fach gebracht hat. Die Partei wird sich vollständig im allgemeinen Wahlkampfmodus befinden und alles dem Präsidentschaftswahlkampf unterordnen.“

Trump werde daher Anfang nächsten Jahres mit Schwung in den allgemeinen Wahlkampf eintreten, seine politischen und finanziellen Ressourcen würden wachsen und er wüsste eine zunehmend geeinte Partei hinter sich.

„Lässt sich das Gleiche auch von Biden sagen?“, fragt Kagan, um detailliert zu verneinen. Der amtierende US-Präsident habe mit einer zerstrittenen demokratischen Partei zu tun, die wenig Neigung zur Einigkeit zeige. Und: Schon jetzt habe Biden mit zweistelligen Verlusten bei potenziellen Wählern unter schwarzen Amerikanern und jüngeren Jahrgängen zu kämpfen. Hinzu käme Bidens Bilanz im Vergleich zu Trumps vorangegangener Präsidentschaft – unter letzterem hätte es „keine umfassende Invasion der Ukraine, keinen größeren Angriff auf Israel, keine galoppierende Inflation, keinen katastrophalen Rückzug aus Afghanistan“ gegeben. Es sei daher „schwer, jemandem die Untauglichkeit Trumps zu erklären, der nicht bereits daran glaubt“. Und dessen Präsidentschaft „für ungewöhnlich oder erfolglos“ hielten im Übrigen sowieso nur sehr wenige Republikaner. Überdies genieße Trump „für einen Herausforderer einige ungewöhnliche Vorteile. Nicht einmal Ronald Reagan hatte Fox News und den Sprecher des Repräsentantenhauses in der Tasche.“ All dies zusammen wirke bereits zugunsten Trumps, „bevor wir überhaupt zu dem Problem kommen, das Biden nicht lösen kann: sein Alter“.

Doch damit noch keineswegs genug:

  • Auch die zunehmende parteiübergreifende Abscheu US-amerikanischer Wähler gegenüber dem politischen System im Allgemeinen spiele Trump in die Hände: Der agiere „gegen das System“, Biden hingegen sei „die lebendige Verkörperung des Systems“.
  • Selbst Trumps diverse Dauerfehden mit der US-Justiz täten seiner Popularität bei seinen Anhängern keinen Abbruch, im Gegenteil – sie „lieben ihn gerade deshalb, weil er Grenzen überschreitet“. „Trump wegen des Versuchs, die Regierung zu stürzen, anzuklagen“, werde sich daher „als ähnlich effektiv erweisen wie die Anklage gegen Cäsar, weil der den Rubikon überschritten hatte. Wie Cäsar verfügt Trump über einen Einfluss, der über die Gesetze und Institutionen der Regierung hinausgeht und auf der unerschütterlichen Loyalität seiner Anhänger basiert.“

Die Auflistung all dessen, was für eine erneute Nominierung Trumps und was gegen Biden spricht, dient Kagan vor allem dazu, „eine einfache Frage zu beantworten: Kann Trump die Wahl gewinnen? Die Antwort lautet, sofern nicht etwas Radikales und Unvorhergesehenes passiert: Natürlich kann er das.“

Für die Zeit, nachdem dieser Worst Case eingetreten sein könnte, prognostiziert der Autor, dass Trump dann mit noch geringeren Beschränkungen zu agieren in der Lage sein würde als während seiner ersten Präsidentschaft. Denn wer sollte ihm auch Fesseln auferlegen – 

  • die Justiz? „Ein Gerichtssystem, das Trump als Privatperson nicht kontrollieren konnte, wird ihn nicht besser kontrollieren können, wenn er Präsident der Vereinigten Staaten ist und seinen eigenen Generalstaatsanwalt und alle anderen Spitzenbeamten des Justizministeriums ernennt.“ (Würde Trump, so fragt Kagan an dieser Stelle weiter, „eine Weisung des Obersten Gerichtshofs überhaupt befolgen? Oder würde er stattdessen fragen, wie viele Panzerdivisionen der Oberste Richter hat?“*)
  • der Kongress? „Die einzige Möglichkeit, die der Kongress hat, um einen schurkischen Präsidenten zu kontrollieren, nämlich ein Amtsenthebungsverfahren und eine Verurteilung, hat sich bereits als nahezu unmöglich erwiesen – selbst als Trump nicht mehr im Amt war und nur über eine bescheidene institutionelle Macht über seine Partei verfügte.“
  • die Bundesbürokratie? „Wenn es nach der Heritage Foundation geht, […] werden viele dieser Berufsbeamten verschwinden und durch Personen ersetzt, die sorgfältig ‚überprüft‘ wurden, um ihre Loyalität gegenüber Trump sicherzustellen.“
  • der 22. Verfassungszusatz**? „Warum sollte irgendjemand glauben, dass dieser Zusatz für einen Mann wie Trump oder, was vielleicht noch wichtiger ist, für seine treuen Anhänger unantastbarer ist als jeder andere Teil der Verfassung?“ Es läge letztlich allein bei Trump zu entscheiden, ob er „Präsident auf Lebenszeit“ bleiben wolle.

Nachdem Kagan auch diese Punkte abgeklärt hat, wendet er sich der dringendsten aller Fragen („most urgent question“) zu: „Wird sich seine [Trumps – H.H.] Präsidentschaft in eine Diktatur verwandeln? Die Chancen stehen wiederum ziemlich gut.“ Die Basis dafür sieht Kagan in der Persönlichkeitsstruktur von Donald Trump, der sich selbst mit „Amerika und dem amerikanischen Traum“ gleichsetze und glaube, seine Gegner im US-Establishment wollten ihn „zerstören“. Als Präsident werde „er den Gefallen erwidern“, denn was er „am liebsten“ täte, sei „Rache üben“. Einige prominente Namen habe Trump ja bereits genannt – zum Beispiel den von Ex-General Mark A. Milley. (Von Trump zum Generalstabschef ernannt und noch bis zu seiner Pensionierung in diesem Jahr aktiv; Trump bezichtigt ihn des Hochverrats. Milley soll unter anderem nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 Vorkehrungen getroffen haben, um die Befehlsgewalt Trumps über Atomwaffen einzuschränken.) Heute läge in den USA längst wieder „der Hauch eines neuen McCarthyismus in der Luft. Die MAGA-Republikaner*** bestehen darauf, dass selbst Biden ein ‚Kommunist‘ sei, seine Wahl eine ‚kommunistische Machtübernahme‘ und seine Regierung ein ‚kommunistisches Regime‘“.

Dass die amerikanische Öffentlichkeit sich nennenswert oder gar mehrheitlich gegen entsprechende Entwicklungen zur Wehr setzen könnte, erwartet Kagan offensichtlich nicht: „Die Trump-Diktatur wird keine kommunistische Tyrannei sein, in der fast jeder die Unterdrückung spürt […]. In konservativen, antiliberalen Tyranneien sind die Menschen mit allen möglichen Einschränkungen ihrer Freiheiten konfrontiert, aber das ist für sie nur in dem Maße ein Problem, wie sie diese Freiheiten wertschätzen, und das tun viele Menschen nicht. […] wenn die meisten Amerikaner ihren täglichen Geschäften nachgehen könnten, wäre es ihnen vielleicht egal, genauso wie es vielen Russen und Ungarn egal ist.“

*

Kagans Fazit: „In nur wenigen Jahren haben wir uns von einer relativ sicheren Demokratie hin zur Möglichkeit einer Diktatur entwickelt, von der wir nur noch wenige Schritte und Monate entfernt sind.“

Apocalypse now?

Sicher nicht sofort. Doch für die Zeit nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen spricht, da ist Kagan schwerlich zu widersprechen, momentan praktisch nichts dagegen.

 

* – Kagan spielt mit dieser Formulierung auf eine Frage an, mit der sich Stalin über die Machtlosigkeit des Heiligen Stuhls mokiert haben soll: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ (Hier zitiert nach Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 06.06.2022) Diese Zuschreibung ist allerdings unzutreffend. In den Tagebüchern des damaligen sowjetischen Botschafters in London, Iwan Maiski, findet sich unter dem Datum vom 19. Juni 1935 folgender Eintrag über eine Begegnung Stalins mit dem seinerzeitigen französischen Außenministers Laval: „Als im Verlauf ihres Gesprächs die Rede auf Macht und Einfluß der katholischen Kirche kam, fragte L. S., ob man sich nicht um eine Versöhnung zwischen der UdSSR und dem Papst bemühen könne, vielleicht durch Abschluß eines Paktes mit dem Vatikan. … S. lächelte und sagte: ‚Einen Pakt? Einen Pakt mit dem Papst? Nein, das wird nicht passieren! Wir schließen Pakte nur mit Leuten, die Armeen haben, und der römische Papst hat, soweit ich weiß, keine Armee.“

 

** – Der 22. Verfassungszusatz der USA begrenzt die Amtszeit eines Präsidenten auf höchstens zwei Wahlperioden.

 

*** – MAGA-Republicans sind Anhänger der Republikanischen Partei, die die „Make America Great Again“-(MAGA)-Kampagne von Trump unterstützen.