26. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2023

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Konstantin Dobrowolski, aus der Gegend von Murmansk – Sie, der seit 44 Jahren in der russischen Erde nach den Überresten im Zweiten Weltkrieg gefallener Sowjetsoldaten sucht, lehnen es ab, die „militärische Spezialoperation“, wie der russische Überfall auf die Ukraine in Ihrer Heimat genannt werden muss, gleichsam als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu begreifen. Der New York Times sagten Sie kürzlich: „Die sowjetischen Soldaten haben gesiegt, weil sie ihr Heimatland verteidigt haben – so wie es die Ukraine heute tut.“ Die Überwindung der Folgen dieses Krieges, den Sie „beschämend“ nannten, werde Generationen beschäftigen. Wegen Ihrer Haltung dürfen sie nicht bei einer Gedenkzeremonie für die Weltkriegstoten sprechen. Da Sie aber mit der New York Times sprachen, droht Ihnen womöglich die Einordnung als „ausländischer Agent“. Einer Ihrer Landsleute, der längst als ein solcher gilt, sitzt inzwischen seit fast vier Monaten in Untersuchungshaft. Boris Kagarlitzki, linker Kritiker russischer Verhältnisse, sieht sich dem fadenscheinigen Vorwurf der „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausgesetzt, weil er den Krieg gegen die Ukraine ebenso ablehnt wie Sie. Bei einem Haftprüfungstermin Ende September wurde seine Untersuchungshaft ungeachtet internationaler Proteste um zwei Monate verlängert. Kagarlitzki bleibt indes zuversichtlich. Respekt Ihnen beiden!

Olaf Scholz (SPD), Hausherr im Kanzleramt – Am 8. November um 15.48 Uhr posteten Sie auf X: „Die Kassandrarufe von der vermeintlichen Deindustrialisierung Deutschlands führen in die Irre.“ Und wünschten „@Siemens Energy viel Erfolg zum Start der GIGA-Factory für Elektrolyseure in Berlin“.

Wegen ihrer Schönheit war Kassandra, so die griechische Mythologie, ihre Sehergabe direkt vom Gott Apollo verliehen worden, womit garantiert war, dass ihre Prophezeiungen immer eintrafen. Wie zum Beispiel jene von der Vernichtung Trojas.

Als sich die junge Frau jedoch den Verführungsversuchen des Gottes verschloss, reagierte der – typisch Mann – damit, dass er einen Fluch über sie verhängte: Niemand sollte ihren Weissagungen je Glauben schenken. An der Richtigkeit ihrer Vorhersagen änderte das freilich nichts. Wie zum Beispiel im Falle der Vernichtung Trojas.

Nun muss man heute von griechischer Mythologie zwar keine Ahnung mehr haben, doch sollte man in diesem Falle vermeiden, sich durch falschen Rückgriff auf dieselbe öffentlich zum Deppen zu machen …

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg – Sie haben sich Gedanken über den Absturz der Grünen in der Wählergunst gemacht und gegenüber der taz befundet: „Ich glaube, dass wir den Leuten zurzeit offensichtlich auf die Nerven gehen. Die Leute haben das Gefühl, wir sagen ihnen, wie sie heizen sollen, wie sie sich fortbewegen sollen, wie sie essen sollen, und wir sagen ihnen zum Schluss sogar, wie sie reden dürfen und wie nicht. […] Ja und das geht den Leuten einfach auf den Zeiger.“

Chapeau! Wer wollte Ihnen da widersprechen!

Andererseits: Haben Sie nicht ein paar maßgebliche Petitessen vergessen? nd.Der Tag befand zum Beispiel, die Grünen hätten ihren Markenkern verloren, und setzte fort: „Mittlerweile sind sie auf eine andere Weise kenntlich: Massive Aufrüstung, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, Einknicken bei der versprochenen Verkehrswende und der Kindergrundsicherung, Zustimmung zu extrem umwelt- und klimaschädlichen Großprojekten wie den LNG-Terminals, Sozialabbau durch Haushaltskürzungen. Das Angebot an Parteien, die für diese Politikansätze stehen, ist überreichlich. Die Grünen sind auf dem besten Weg, sich schlicht überflüssig zu machen.“

Neigten wir zu Häme, entschlüpfte uns womöglich ein – „Nur weiter so!“

Hubert Seipel, Gesponserter – Ihr 2015 erschienenes Buch „Putin. Innenansichten der Macht“ ist auch im Blättchen besprochen worden (siehe Ausgabe 25/2024). 2021 publizierten Sie den Titel „Putins Macht. Warum Europa Russland braucht“. Jetzt berichtete das ZDF, dass Sie beim Schreiben der beiden Bücher durch mehrstellige Sponsorenbeihilfen unterstützt wurden. Für den letztgenannten Titel steht „die erstaunliche Summe von 600.000 Euro“ in Rede. Gezahlt habe eine obskure karibische Briefkastenfirma, hinter der „sich letztendlich der russische Oligarch Alexej Mordaschow“ verberge. Dem wird Kremlnähe nachgesagt …

Sie Ihrerseits, so das ZDF, stellten die Vorgänge auch gar nicht in Abrede, bestritten allerdings „vehement“, dass dadurch ihre Unparteilichkeit beeinträchtigt worden sei.

Was letzteres anbetrifft: Wie heißt es doch so stereotyp in den Nachrichten, wenn gerade Verlautbarungen der Kriegsparteien in der Ukraine oder im Nahen Osten verlesen worden sind? „Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.“

Rudolf Augstein, Sturmgeschütz-Kommandeur – Sie gelten als „Jahrhundert-Journalist“, der sich „mit dem Spiegel, dem von ihm gegründeten Nachrichtenmagazin, in die Geschichte der Bundesrepublik eingeschrieben hat“, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung laudatierte. Ob Sie wohl im Grabe rotierten, nähmen Sie Ihr Magazin heute zur Hand? Nur noch ein Schatten einstiger Größe, eine weitgehend belanglose Stimme im Einheitsbrei der deutschen Mehrheitsmedien …

Zwar gewährten Sie in Ihrer Redaktion in den Anfangsjahren auch unappetitlichen Figuren aus dem Dritten Reich Unterschlupf, doch als der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß Ihrem Magazin 1962 einen Maulkorb verpassen wollte wegen eines Beitrags über die Bundeswehr mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ – das würde heute ob des bekannten desolaten Zustandes der Streitkräfte keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken –, da gingen Sie nicht nur 100 Tage hinter Gitter, sondern obsiegten auf ganzer Linie; Strauß musste seinen Hut nehmen. Ein wichtiger Meilenstein für die Pressefreiheit im westdeutschen Nachkriegsstaat! Sie nannten Ihr Magazin hernach „das Sturmgeschütz der Demokratie“.

In Ihrem letzten Magazinbeitrag im Spiegel 35/2002 – „Der Präventiv-Kriegstreiber“ – befassten Sie sich mit der Politik des damaligen USA-Präsidenten George W. Bush vor dem späteren Einmarsch in Irak und schrieben dem Washingtoner Potentaten ins Stammbuch: „Es wäre ein Präventivschlag – völkerrechtlich zu bewerten als ‚ein verbotener Angriffskrieg und damit ein internationales Verbrechen‘ […].“

Jetzt wären Sie 100 Jahre alt geworden. Hohe Zeit an Ihre Erkenntnis – erstmals geäußert im Editorial der Spiegel-Ausgabe 16/1961 – zu erinnern: „[…] das ist die einzige Möglichkeit für den Journalisten, die Wirklichkeit zu verändern: Er kann sagen, was ist.“

Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow (Loriot), Einzigartiger, auch unter den Pirolen – Nur für die, die es immer noch nicht wissen: Loriot ist die französische Entsprechung für Pirol, den zitronengelben Sänger mit dem markanten Triller. Der Vogel ziert das Wappen derer von Bülow, des Stammes also, dem Sie entsprossen, um zu einem Großmeister und Klassiker des Humors zu reifen, der die gesamte Klaviatur von ganz fein, um nicht zu sagen distinguiert, bis durchaus derb („Es saugt und bläst der Heinzelmann, / wo Mutti sonst nur saugen kann.“) virtuos beherrschte.

Aus Ihren unvergesslichen Hinterlassenschaften wollen wir nur an diese drei Aperçus erinnern:

„Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.“

„Die Scheidung ist die Korrektur eines tragischen Irrtums.“

„Früher war mehr Lametta.“

Gern hätten wir mit Ihnen am 18. November 2023 auf Ihren 100. Geburtstag angestoßen, doch leider, leider …
Zum Trost gibt es wenigstens und Gott sei Dank! Ihre Sketsche, Bücher, Trickfilme, Cartoons und Spielfilme. Denn eine Konstante ist aus unserem Sein nicht wegzudenken. „Ein Leben ohne Loriot ist möglich, aber sinnlos.“

(Und bitte Pardon für die Verballhornung Ihrer Bonmots über den Mops!)

Matthias Deutschmann, der mit dem Cello – Dass der Lehrstuhl des skalpellscharfen politischen Kabaretts in Deutschland auch nach dem Rückzug von Georg Schramm und Volker Pispers nicht verwaist ist, verdankt sich nicht zuletzt Ihnen. Auch in Ihrem aktuellen Programm („Mephisto Consulting“, Tourdaten im Internet) werfen Sie wieder gesellschaftlich höchst relevante Fragen auf. Etwa bezüglich des Genderns: Ob es wirklich eine so gute Idee sei, in Deutschland schon wieder eine Minderheit durch einen Stern kenntlich zu machen? Oder im Hinblick auf Tucholskys Diktum: „Satire darf alles.“ Ob das heute noch gelte? Ob man also eine adipöse Politikerin eine grüne Tonne nennen dürfe?

Auch das Cello, Ihr Markenzeichen, hat wieder seine Auftritte. Vor Jahren gaben Sie damit das Deutschland-Lied auf eine kongenial dissonante Weise. Dieses Mal – einen schottischen Dudelsackspieler, und zwar den vom Abschluss des Begräbnisses der Queen …

In Fällen von spontanem Szenenapplaus wenden Sie sich schon mal direkt ans Publikum: „Ja, ja, wir denken alle Dasselbe. Bloß – ich weiß es auswendig. Deshalb steh‘ ich hier oben.“ Letzteres ist umso denkwürdiger, als Sie natürlich um die Vergeblichkeit Ihres Tuns angesichts der Unzulänglichkeit des Menschen wissen. In „Mephisto Consulting“ zitieren Sie die an Gott, den Herrn, gerichteten Worte: „Ein wenig besser würd er leben, / Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ Könnte eine Zusammenfassung der gegenwärtigen Weltlage sein, stammt aber schon von Goethe (Faust I, Prolog im Himmel). Und gilt immer noch.

Also – halten Sie durch! Wir freuen uns schon auf Ihr nächstes Programm.