26. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2023

Wie weiter mit dem Ukraine-Krieg?

von Sarcasticus

Wenn die Vereinigten Staaten der Ukraine das liefern würden, was sie braucht,

könnte die Ukraine die Krim tatsächlich noch bis zum Ende dieses Sommers befreien.

Ben Hodges, Ex-Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa

(zitiert nach Frankfurter Rundschau, 22.6.2023)

 

Westlichen Presseberichten zufolge soll Wolodymyr Selenski, Präsident der Ukraine, bei seinem September-Besuch in Washington im Kongress – hinter verschlossenen Türen – die Frage, wie dringend die Ukraine die Unterstützung der USA gegen den Aggressor Russland benötige, dahingehend beantwortet haben, dass Kiew ohne diese Hilfe den Krieg verlieren werde. Das war der Blick in eine mögliche Zukunft.

Die öffentliche Unterstützung für weitere Milliarden-Pakete an die Ukraine ist in den USA rückläufig; nur noch 41 Prozent der Befragten befürworten laut Umfragen verstärkte Waffenlieferungen an Kiew – gegenüber 65 Prozent im Juni, als die vielfach avisierte große militärische Gegenoffensive Kiews nach monatelanger Verzögerung doch noch begann. Solche Meinungsumfragen kann auch ein US-Präsident, der 2024 seine Wiederwahl nicht vergeigen will, kaum ignorieren. Und die Front der republikanischen Ablehner immer weiterer Milliarden für Kiew – nach Pentagon-Angaben flossen bisher 43,9 Milliarden Dollar – erzielt Wirkungen. Zehn Tage nach Selenskis Washington-Visite wurde im Kongress eine Gesetzesvorlage verabschiedet, mit der ein vorübergehender Stillstand der Regierung verhindert werden sollte. Neue Hilfen für die Ukraine waren darin nicht vorgesehen.

Deutlich pessimistischer als Selenski, und zwar für die Gegenwart, ist offenbar dessen Generalstabschef Waleri Saluschni. Der räumte in einem am 1. November publizierten Interview mit The Economist ein, dass die ukrainische Gegenoffensive an allen Fronten gescheitert ist. Trotz immenser Verluste sind die ukrainischen Streitkräfte laut Economist lediglich 17 Kilometer vorangekommen. Dazu Saluschni: „[…] vier Monate hätten für uns ausreichen müssen, um die Krim zu erreichen, um auf der Krim zu kämpfen, aus dieser zurückzukehren und erneut hinein und heraus zu gehen“. Stattdessen sei der Krieg in eine „Pattsituation“ geraten, habe sich in Gestalt eines Stellungskrieges praktisch festgefressen. Und was die Perspektive anbetrifft, ist Saluschni vom Mantra seines Präsidenten („Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich!“) offenbar weit entfernt: „Wahrscheinlich wird es keinen tiefen und schönen Durchbruch geben.“ Als eine entscheidende Ursache dafür benennt der General die seiner Meinung nach völlig unzureichende westliche Militärhilfe: Die hätte nur ausgereicht, „um die Ukraine im Krieg zu halten, aber nicht dafür, ihr den Sieg zu ermöglichen“.

Zugleich machte Saluschni klar, dass die F-16-Kampfjets, die Kiew ab 2024 aus einigen NATO-Staaten erwartet, allein das Blatt nicht wenden werden. Um aus dem Stellungskrieg herauszukommen bedürfe es vielmehr eines ganzen Bündels paralleler Maßnahmen. In einem das Interview begleitenden Essay zählt Saluschni als fünf zentrale Punkte auf – „Erlangung der Luftüberlegenheit; Durchbrechen von Minensperren in der Tiefe; Erhöhung der Effektivität der Bekämpfung gegnerischer Artillerie und der elektronischen Kriegsführung; Schaffung und Vorbereitung der erforderlichen [personellen – S.] Reserven“. Die Dramatik der Lage kennzeichnet er so: „Damit wir aus dieser Sackgasse herauskommen, brauchen wir etwas gänzlich Neues, wie etwa das von den Chinesen erfundene Schießpulver […].“

Was die personellen Reserven der Ukraine anbetrifft, so ist ein vor sechs Jahren beschlossenes landesweites Online-Register, das Daten aller für die Streitkräfte mobilisierbaren Männer zwischen 18 und 60 Jahren erfasst, um Einberufungsbefehle verzugslos zustellen zu können, immer noch nicht realisiert. Die Rekrutierung neuer Soldaten soll Medienberichten zufolge fast zum Erliegen gekommen sein, seit Selenski im August die Leiter sämtlicher Einberufungsbüros entlassen hatte – wegen ausufernder Korruptionsfälle: „Stellungspflichtige machen von der Möglichkeit, sich durch Bezahlung dem Armeedienst zu entziehen, rege Gebrauch“, berichtete die Neue Zürcher Zeitung. Zudem sollen die Verluste der ukrainischen Streitkräfte nach 20 Monaten Krieg schon so hoch sein, „dass selbst wenn die USA und ihre Verbündeten alle zugesagten Waffen liefern, ‚wir nicht die Männer haben, um sie einzusetzen‘“. Das vertraute ein enger Mitarbeiter Selenskis dem Journalisten Simon Shuster vom US-Magazin Time an.

Ob es die Möglichkeit eines militärischen Sieges Kiews überhaupt gegeben hätte oder geben könnte, darüber streiten die Experten. Saluschni selbst wies jetzt jedoch auf einige Faktoren hin, die die Ukraine gravierend benachteiligten:

– „die strategische Überlegenheit [Russlands – S.] in Bezug auf das militärische, wirtschaftliche, menschliche, natürliche Ressourcen- und wissenschaftliche Potenzial“;

– die trotz Kriegsverlusten nach wie vor bestehende „beträchtliche Luftüberlegenheit“ der russischen Streitkräfte;

– die begrenzten Möglichkeiten der ukrainischen Rüstungsindustrie zur Herstellung militärischen Nachschubs.

Angesichts fehlender Herstellungskapazitäten stockt auch der Nachschub aus dem Westen. Von der für 2023 seitens der EU zugesagten Anzahl von einer Million Artilleriegranaten seien im ersten Halbjahr lediglich 223.800 Stück geliefert worden, größtenteils „aus dem Bestand und nicht aus der Produktion“, teilte der Stern mit und ergänzte: „Unklar ist derzeit, wo der fehlende Anteil von über 750.000 Schuss in den nächsten Monaten herkommen soll.“ The Economist fasste zusammen: „Für General Saluschni steht außer Frage, dass ein langer Krieg Russland begünstigt, dessen Bevölkerung dreimal und dessen Wirtschaft zehnmal so groß ist wie die der Ukraine.“

In diesen Kontext passen folgende Sachverhalte, die ebenfalls dem Stern zu entnehmen waren: Bereits zu Beginn des Ukraine-Krieges war im Westen prognostiziert worden, „dass Putin schon Ende 2022 alle smarten Waffen ausgehen werden. Weil die Sanktionen des Westens seine Rüstungsindustrie von Halbleitern abschneiden würden. Geschehen ist das exakte Gegenteil. Zur Jahreswende litt Moskau unter einem Mangel an bestimmten Bauteilen, etwa Wärmebildkameras. Doch das Problem wurde gelöst. Inzwischen stellt das Land Kamikaze-Drohnen in einem unerhörten Maßstab her und jede einzelne dieser Billigdrohnen benötigt Chips und elektronische Bauteile. Offenbar sind sie in Hülle und Fülle vorhanden.“

Vor diesem Hintergrund macht man sich in Washington offenbar schon länger Gedanken über eine Exit-Strategie, die nicht mit einem Sieg Kiews im Felde und mit der Rückeroberung aller besetzten, respektive annektierten ukrainischen Gebiete assoziiert ist. NBC News Digital berichtete am 4. November unter Berufung auf hochrangige US-Beamte, dass „amerikanische […] Beamte damit begonnen [haben], im Stillen mit der ukrainischen Regierung darüber zu sprechen, was mögliche Friedensverhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges beinhalten könnten. In den Gesprächen wurde in groben Zügen umrissen, was die Ukraine aufgeben müsste, um eine Einigung zu erzielen […].“ Weiter hieß es in dem Bericht, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld „wahrscheinlich nur noch bis zum Ende des Jahres oder kurz danach Zeit hat, bevor dringendere Gespräche über Friedensverhandlungen beginnen sollten“. Die Vorgänge wären auch kein Alleingang Washingtons, vielmehr hätten US-Beamte „ihre Ansichten über einen solchen Zeitplan mit europäischen Verbündeten geteilt“.

Dass ein entsprechender Kurswechsel mit dem derzeitigen Präsidenten der Ukraine schwerlich zu machen sein dürfte, ist auch in Washington klar. Selenski hat den Schuss gehört und prompt reagiert. Am Wochenende nach dem NBC-Bericht wiederholte er, dass er Gespräche mit Moskau nur zulassen werde, wenn alle Truppen aus den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten abgezogen würden. Angesichts des Unvermögens, einer solchen Forderung militärisch Nachdruck zu verleihen, kann diese Position als apodiktische Verhandlungsverweigerung eingestuft werden. Zuvor hatte der Präsident übrigens seinen realitätsnäheren Generalstabschef auf beispiellose Weise düpiert: Am 3. November enthob er, ohne Saluschni vorher zu informieren, einen von dessen wichtigsten Kampfkommandeuren, Wiktor Chorenko, der wegen militärischer Erfolge erst im September zum General befördert worden war, seines Postens. Und am 5. November schob er in einem NBC-Interview zur Lage an den Kriegsfronten nach: „Ich glaube nicht, dass dies eine Pattsituation ist.“

Seit Wochen mehren sich Anzeichen dafür, dass die Abnabelung von Selenski in den USA womöglich längst im Gange ist. War er Ende vergangenen Jahres eigens mit einem Flugzeug der US-Luftwaffe in Ostpolen abgeholt und im Kongress mit standing ovations gefeiert worden, so gestaltete sich der Empfang dieses Mal geradezu unterkühlt. Ein zweiter Auftritt auf dem Capitol Hill wurde dem Gast nicht gewährt. An von polnischer Seite angebotenen Interviews zeigten Fox News und Oprah Winfrey kein Interesse. „Sein Besuch in den USA war für Selenskyj eine herbe Enttäuschung“, resümierte DIE ZEIT.

Am 30. Oktober folgte eine Breitseite gegen Selenski – in Gestalt des Time-Beitrags von Simon Shuster, der genüsslich die Defizite im Agieren des Präsidenten ausbreitete. Das Time-Titelbild zeigt kleinformatig die Rückseite von Selenskis Oberkörper in einer Pose, als träte der Mann gerade von einer Bühne ab, den Kopf jedoch misstrauisch seitwärts gewendet, wie um zu hören, was sich hinter seinem Rücken abspielt. Shuster schreibt über Selenski: „[…] sein Glaube an den Endsieg der Ukraine über Russland hat sich in einer Form verfestigt, die einige seiner Berater beunruhigt. Er ist unerschütterlich und grenzt ans Messianische. ‚Er macht sich etwas vor‘, sagt mir einer seiner engsten Berater frustriert. ‚Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.‘“ Selenskis üblicher „Optimismus, sein Sinn für Humor, seine Neigung, eine Sitzung im Kriegsministerium mit einem kleinen Scherz oder einem unzüchtigen Witz zu beleben“, habe im zweiten Jahr des totalen Krieges nicht überlebt. „‚Jetzt geht er rein, holt sich die neuesten Informationen, gibt die Befehle und geht wieder‘, sagt ein langjähriges Mitglied seines Teams.“

Ein Vertrauter Selenskis hätte ihm berichtet, einige Frontkommandeure verweigerten inzwischen den Befehl zum Vorrücken. „Sie wollen nur in den Gräben sitzen und die Stellung halten.“ Als er [Shuster – S.] „einen hochrangigen Offizier auf diese Behauptungen ansprach, sagte der, dass einige Kommandeure kaum eine andere Wahl hätten, als Befehle von oben zu hinterfragen. Anfang Oktober habe die politische Führung in Kiew eine Operation zur ‚Rückeroberung‘ der Stadt Horliwka gefordert, eines strategischen Außenpostens in der Ostukraine […]. Die Antwort kam in Form einer Frage zurück: Womit? ‚Sie haben weder die Männer noch die Waffen‘, sagt der Offizier.“

Und zu der immer wieder geforderten Korruptionsbekämpfung schreibt Shuster: „Bei all dem Druck, die Korruption auszurotten, nahm ich […] an, dass Beamte in der Ukraine zweimal nachdenken würden, bevor sie Bestechungsgelder annehmen oder staatliche Gelder in die Tasche stecken. Doch als ich Anfang Oktober einen hochrangigen Präsidentenberater auf diesen Punkt hinwies, bat er mich, mein Tonbandgerät auszuschalten, damit er freier sprechen konnte. ‚Simon, du irrst dich‘, sagte er. ‚Die Leute stehlen, als gäbe es kein Morgen.‘“

Die Welt ließ den ukrainischen Ex-Innenminister und nachmaligen Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko (von Selenski geschasst) zu Wort kommen und dem Präsidenten einen höchst autoritären Führungsstil unterstellen: „Laut der Verfassung ist der Präsident der Oberbefehlshaber der Armee und repräsentiert das Land nach außen. Die Regierungsgeschäfte führt der Premierminister und das Parlament macht die Gesetze. Beide sind aber entmachtet und Selenskyj entscheidet alleine. Die Demokratie der Ukraine leidet darunter. Dabei ist es jene Demokratie, die wir gerade gegen Russland verteidigen.“

Ob sich aus diesen Entwicklungen eine Friedensperspektive für die Ukraine ergibt? Das erscheint zweifelhaft, denn auch Moskau stellt für entsprechende Verhandlungen ultimative Bedingungen. „Die russische Verfassung macht territoriale Kompromisse unmöglich“, schrieb erst dieser Tage wieder ein russischer Kommentator.

Im Übrigen gilt in diesem Falle das wahlweise George Bernard Shaw, Winston Churchill und Nils Bohr zugeschriebene Bonmot: „Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.“